Fairplay im Schach (3)
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Donnerstag, 27 Dezember 2012 01:51

Fairplay im Schach (3)

Gedanken über Fairness im Schach (3)

René Stern – Lars Thiede

Beispiel 5: Wie regelt man das unter Meisterspielern?

Dies ein ganz einfacher und kurzer Fall von Fairplay, selbstverständlich nicht nur als hübsches und anschauliches Beispiel gedacht, sondern mit einer Art „Kernaussage“ behaftet, welche jedem Schachspieler als Vorbild oder zumindest Orientierungshilfe dienen könnte, wie man Streitfälle vermeiden kann, dazu einen unantastbaren Ruf erwerben kann, sich das Image „gern gesehener Gast auf allen Schnellturnieren“ zulegen kann, welcher jedermann, so sei versichert, gut zu Gesicht steht -- und damit nicht einmal den eigenen Chancen im Wege zu stehen, denn, so jedenfalls eine hier vertretene Ansicht, Besonnenheit zahlt sich eigentlich immer aus.

Allgemein ist es so, dass der Autor, Dirk Paulsen, also ich ganz persönlich, im Rahmen einer Trainerausbildung zu einem Lehrgang für Schiedsrichter verpflichtet war. Dort war ich mir schon bald mit einem der Referenten (Martin Sebastian) sehr bald einig, dass die Spielstärke sich als Regel reziprok zu der Anzahl der Streitfälle entwickelt. Es ist wohl so, dass sich ein höherrangiger Spieler wohl mehr auf seine Spielstärke verlässt, sicher auch schon ausreichend Lorbeeren verdient hat, vielleicht einig ist mit sich selbst, wie gut er ist, weiterhin hier oder da in seiner Karriere schon am günstigen Ende eines finalen Showdowns war, so dass er eine Niederlage besser verkraften kann, zugleich es wohl unter seiner Würde empfindet, mit purem Uhrengehacke eine Partie zu seinen Gunsten wenden zu wollen, vielleicht möchte er dem Schachspiel und sich selbst die Würde wahren und nicht mit rein mechanisch ausgeführten, aber sinnlosen Zügen diese aufs Spiel setzen. Jedenfalls Konsens – und dies deckt sich nicht erst seit dem Schirilehrgang mit den eigenen Beobachtungen --, dass es seltener vorkommt, je höher der Eloschnitt der Kontrahenten am Brett ist.

SRgoogle300250In dem hier angeführten Beispielen handelt es sich um eine Partie aus dem großen Grand Prix Schnellturnier der Schachfreunde Berlin im Rathaus Schöneberg im Juni 2011. Die Lage war die, ohne, dass es hier aus dem Gedächtnis zu einer Diagrammstellung reicht, dass der Schwarzspieler, ein überdurchschnittlich guter IM mit weit über 2400 Elo, gegen den laut Rating sogar noch deutlich besseren René Stern, ebenfalls „nur“ IM, aber mit gut über 2500 Elo, einen klaren Vorteil hatte. Dieser bezog sich auf die Position auf dem Brett UND die Konstellation auf der Uhr. Thiede hatte wohl gut über 3 Minuten übrig, während bei René bereits die letzte Minute eingeläutet war.

René saß stoisch ruhig am Brett, rechnete und sah, was er sah, vor allem erwartete er die Züge seines Gegners – dies in jeder Hinsicht. Er hatte nämlich immer eine schnelle und gute Antwort parat. Als Zuschauer – von denen es bei einer Partie zu fortgeschrittener Phase an einem hohen Brett stets reichlich gibt – rechnete man mit, man suchte, ebenso wie Lars, nach dem knockout, der aber, angesichts der tiefgründigen und überraschenden Verteidigungszüge des Weißspielers möglicherweise verbogener war als man auf den ersten Blick glaubte, aber es musste, so oder so, ein großer Vorteil erhalten bleiben, da nämlich, als Faustpfand für das Endspiel, außer dem bedrohlichen Königsangriff bereits ein Extrabäuerchen im Säckel des Schwarzen war.

Lars aber schien, ebenso wie die Zuschauer, von der Versiertheit der Antwortzüge überrascht und fand nichts Besseres, als in ein Endspiel abzuwickeln, in welchem zwar der Plusbauer verblieben war, aber die ungleichen Läufer dem Weißen das Remis sichern mussten.

Die Situation auf der Uhr: René hatte vielleicht (dies in ziemlich genauer Erinnerung) 26 Sekunden übrig, wohingegen Lars über knappe 2 Minuten verfügte. Dies nun die wahrhaft interessante Sachlage: wie würde sich Lars verhalten? Was könnte man vom Weißen erwarten, der doch nun, für jedermann offensichtlich, durch alle schweren Fahrwasser schadensfrei hindurchgekommen war und dem sicheren (Remis-)Hafen unwiderstehlich zustrebte? Sicher kam für viele hier der Moment der größten (aber allseits verhohlenen) Verwunderung: kein Bisschen Uhrengehacke, keine Reklamation, ganz ruhig und solide ausgeführte Züge, beiderseits, mit welchen René einfach nur deutlich machte: er würde nicht und niemals reklamieren, dass die Stellung doch nun totremis sei und dass es unsportlich wäre, weitere Versuche zu unternehmen, die einzige die Absicht verfolgen könnten, die Partie über die Bedenkzeit zu entscheiden, nicht aber über ausreichend schachliche Mittel zu verfügen, nein, er würde seine eigenen Figuren auf die richtigen Plätze stellen und für jeden möglichen Gewinnversuch gewappnet sein.

Kein Wort also fiel, keine einzige hektische Bewegung auf dem Brett, nur ein paar Schachzüge, in welchen René seine Figuren so positionierte, dass ein Durchbruch in unerreichbar weite Ferne rückte. Als Lars – und mit ihm jeder Umstehende Zuschauer – erkannte, dass die einzig mögliche Blamage nun werden könnte, dass er die Uhr malträtierte, zugleich das Spiel als solches herabwürdigen müsste, schaute er nur kurz auf, die Blicke trafen sich, und das Remis war besiegelt mit einem kräftigen, sportlichen Händedruck.

René hätte mit seiner absolut vorbildlichen Einstellung nicht einmal von sich aus den Blick gehoben, um damit vielleicht Einfluss zu nehmen, nicht verbal aber eben gestisch/mimisch („erkennst du nicht, dass du hier keine Fortschritte mehr erzielen kannst, Mehrbauer hin oder her?“, was ein Blick bereits hätte bedeuten können), sondern hatte allein seine Schachzüge im Verein mit dem ausgeprägten Schachverständnis sprechen lassen, und dies in absolut überzeugender Manier.

Man darf dazu sagen, dass bereits die kleinste „Anmerkung“ in diese Richtung für den Gegner eine Art Provokation hätte bedeuten können, es hätte die Sachlage verschärfen können und nicht selten erlebt erzählen Spieler, dass sie eine Fortsetzung der Partie, auch in Anerkenntnis der eigenen geringfügigen (aber zugleich entschuldigten) Unsportlichkeit, vorgenommen hätten nur aufgrund eines ungebührenden Verhaltens des Gegenübers im Vorstadium dieses Finales. So beruft man sich darauf, dass der Gegner mit seinem bereits dritten Remisangebot so sehr genervt hätte („klar wusste ich, das die Stellung Remis ist, aber da muss er MICH doch anbieten lassen, denn der Vorteil lag trotz allem auf meiner Seite“, um nur eine Möglichkeit anzuführen), dass man sich bemüßigt fühlte – zugleich legitimiert --, noch ein paar Versuche zu unternehmen – bis das Blättchen fiele. „Hat er sich doch selbst zuzuschreiben? Klar hätte ich irgendwann angeboten, wenn er nicht dauernd...“ und so weiter und so fort.’

Dazu passt sehr gut das nächste kleine Beispiel (welches einem beinahe zufällig ergänzend einfällt):

Beispiel 6: Yosip Shapiro – Atila Figura

Klarer Elofavorit, mit gut über 2300, gegenüber etwa 2000 beim Gegner, war hier natürlich der Schwarzspieler. Hinzu kommt, dass er in der Partie mit einem wohl doch ziemlich klar gewonnenen Turmendspiel, zuvor klar auf die Siegerstraße eingebogen war. Hier die Stellung:

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Shapiro – Figura, Monatsschnellturnier SC Kreuzberg, 21.12.2012, Schwarz am Zuge.

Diese Stellung muss einfach gewonnen sein. Atila aber (so Figuras Vorname) hatte den klar höheren Zeitverbrauch, war hier bereits bei deutlich unter einer Minute, während Shapiro noch weit über 2 Minuten übrig hatte. Dennoch war der Plan „eigentlich“ so klar und man traute Atila den Sieg zu. Der König geht nach d8, c8, dann die c-Linie hoch, kommt irgendwann an die Bauern heran, und Weiß kann eh nur mit dem König „rubbeln“, indem er ihn von g2 nach h2 und zurück schiebt. Später kann er natürlich ein paar Schachs von hinten einblenden, aber es kann, eingedenk der Bauernschwächen am Königsflügel, niemals zum Remis reichen. Wobei logischerweise die Uhr eine wichtige Rolle spielen könnte.

Ein alternativer Plan wäre auch jener, wenn der König auf h2 steht, mit dem Zug Tb1-f1 den b- gegen den f-Bauern zu tauschen, und auch dann, mit den beiden Bauernschwächen, h4 und e5, einen Sieg einzufahren. Nur fand Atila einen noch einfacheren Plan: sein König, den er gerade von g7 aus evakuiert hatte, wanderte wieder zurück zum Königsflügel. Er hielt den Weißen für komplett wehrlos, und meinte nach der Partie, er hielt das für noch einfacher.

So kam es zu dieser Stellung:

 p8Ob Yosip den Plan bereits gesehen hatte, als er den Turm nach b8 stellte? Jedenfalls fand er hier den Zug 1. Kh2-h3! Bei Atila waren die Sekunden mittlerweile auf 26 gefallen, und der Zug überraschte ihn sichtbar. Eine Art Reflex, aus der Überraschung heraus und dem dringenden Bedürfnis, ziehen zu müssen, ließ ihn den Zug 1. ... Tb1-h1+ ausführen. Shapiro machte den Gegenzug 2. Kh3-g3, worauf Atila wiederum mit 2. ... Th1-g1+ antwortete. Das Remis ist nun unvermeidlich, da Tb8-h8# droht. Insofern bot Shapiro Remis an. Es ist eine Zugwiederholung, oder aber...

Atila lehnte nämlich ab. Die Vermutung ist hier, dass er kurzzeitig den Überblick verloren hatte. Zur Vermeidung des Remis half hier nun ausschließlich der Zug --- nach weißem 3. Kg3-h3 -- 3. ... Kh5-h6, nur war er für den kurzen Moment nicht des Verlustes seines Bauern gewahr. Weiß spielte natürlich 4. Tb8xb2, wonach das Remis auf andere Art, von der Stellung her, wohl völlig klar ist. Atila hätte doch nicht abgelehnt, um, mit weniger als 20 Sekunden auf der Uhr, mit drei gegen drei Bauern, fast völlig symmetrisch, noch gewinnen zu können?

Man sah an seiner Reaktion auch, dass er das nicht gesehen hatte, dass er auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Er schüttelte nämlich, kaum merklich, den Kopf. Da er aber einen Zug zuvor Remis abgelehnt hatte und ihm überhaupt seine eigenen Fehler etwas peinlich waren, konnte er ja kaum EINEN Zug später seinerseits anbieten. Sie zogen also noch eine Weile hin und her, und nun bot Atila, bei 12 verbliebenen Sekunden gegenüber Shapiros weiterhin Richtung 2 Minuten gehenden, Remis an.

Shapiro nahm sofort an. Was aber alle Zuschauer (vermutlich) dachten, und wieder mal eine Facette aufdeckend (dieser Teil ein wenig anknüpfend an das Thema „Einbeziehung der Vorgeschichte“), sprach der in einem anderen Beispiel angeführte Thomas Heerde aus: „Warum nimmst du denn jetzt Remis an? Er hat doch kurz vorher abgelehnt. Das wäre doch nur konsequent.“ Woraufhin Shapiro nur den Kopf schüttelte. Nein, so deutete das an, auf diese Idee würde er nicht kommen. Wobei hier durchaus ein anderes Argument greifen würde: immerhin war es der Elo höhere, der in zeitlich gesehen aussichtsloser Lage, auf den Remisschluss – per Angebot – drängte. Wenn es sich umgekehrt verhielte – siehe vielleicht Beispiel oben --, ist die Frage, wie der mit dem Zeitvorteil ausgestattete Favorit reagieren würde.

 

Beispiel 7: Bern Eckardt – Stephan Bethe

Nur um noch ein kleines Beispiel anzuführen für die nicht angezweifelte Richtigkeit der Regeln – gepaart mit der Erkenntnis, dass es ohne nicht geht --, aber doch für die nachzuweisende, leicht angezweifelte Durchführbarkeit.

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Eckardt – Bethe, Monatsschnellturnier SC Kreuzberg, 21.12.12., Weiß am Zuge.

Kurze Zeit vorher hatte Weiß, mit 1757 gegenüber Schwarz´2090, mit eigentlich recht klarem Zeitvorteil, in ausgeglichener Stellung eine Figur verloren. Die Lage war hoffnungslos, in schachlicher Hinsicht, nur war die Bedenkzeit, kurz vor dieser Stellung, bei 9 Sekunden für Schwarz und 10 Sekunden für Weiß. Schwarz holte das aber auf und hatte etwas später wohl 6 gegen 4. In etwa so der Stand, als hier Weiß seinen König nach g1 stellte: 1. Kf1-g1. Nun, ein Kommentar entfällt hier im Prinzip. Schwarz wusste nicht, was zu tun war, da er ausschließlich auf Ziehen aus war. Es widerstrebte ihm aber – wie es bei einem guten Schachspieler üblich ist – in einer unmöglichen Stellung einen Zug auszuführen. Was tat er also? Nach kurzem Besinnen drückte er die Uhr zurück, dabei auf die Blickrichtung des Läufers deutend, also von d4 nach g1. Der Gegner schüttelte den Kopf, und zog den König nach e2.

Danach war Weiß wieder im Zeitvorteil, mit wohl 4 gegen 3. Schwarz bekam die Dame, nahm den Bauern h3, hatte den König auf f3 und circa drei weitere Züge lang Zeit, den Bauern, mit Dame oder König, zu schlagen, begann stattdessen mit Damenschachs, den König zu jagen, hatte wohl einen Zug früher die Zeit überschritten – und man bedenke das Ausmaß dieses Dramas, wenn er dies realisiert hätte --, dann waren aber beide Uhren bei 0.00 gelandet, die Partie als Remis gewertet.

Bemerkenswert übrigens auch hier, dass Stephan, auf die „korrekte“ Reaktion des Neutralisierens der Uhr und die damit gesicherte Zeitgutschrift nach Reklamation angesprochen, kein bisschen nachtragend oder enttäuscht oder gar entsetzt reagierte. Er meinte nur, ziemlich lapidar, aber entspannt, dass er diese Geistesgegenwart nicht aufbrachte und insofern der Partieausgang gerechtfertigt wäre. Auch dies natürlich ein Beispiel für eine mögliche Reaktion eines höherrangigen Spielers, dass man eben nicht wütend oder irgendwie anders übel reagiert, etwa den Gegner beschimpfend „du hast ZWEI Mal illegale Züge ausgeführt, eigentlich habe ich die Partie gewonnen“ (tatsächlich war der wohl etwas mehr von der Hektik befallene Bernd Eckardt zuvor schon einmal durchs Schach gelaufen, allerdings da noch vom Gegner unbemerkt), wie man es vielleicht auch schon erlebt haben mag.

Wenn es hier um etwas geht, dann ist es die DURCHFÜHRBARKEIT der Regeln. Sie mögen sinnvoll, erforderlich, richtig, wohl überlegt oder einzig sein. Nur erlebt man in der Praxis einfach etwas anderes. Es kommt nicht zur sinnvollen Anwendung und, merke, je größer die die Spieler befallende Anspannung und Hektik ist, umso größer und zahlreicher werden die Ungereimtheiten, und umso seltener kommt es zur niedergeschriebenen Anwendung der Regeln.

Fairplay im Schach (2)
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Donnerstag, 20 Dezember 2012 10:12

Fairplay im Schach (2)

Gedanken über Fairness im Schach (2)

Fortsetzung des Artikels vom 18.12.

Fall 3: wer hat hier (mehr) gesündigt?

In der Schlussrunde des mittwöchlichen Schnellturnieres kam es zur Begegnung zwischen Adis Artukovic und Thomas Heerde, beide um die 2000, aber, wie sich sicher mit Stolz erwähnen würde „darüber“. Nun dürfte von den beiden Kämpfern vermutlich ihr eigener, sie antreibender Ehrgeiz, welcher möglicherweise größer ist als der des Durchschnittsspielers, eingestanden werden, ihnen bekannt sein. Das macht sie nicht unsympathisch und selbstverständlich nicht per se zu unfairen Spielern, nur dürfte dennoch klar sein, dass man, mit dem ausreichenden Ehrgeiz ausgestattet, etwas leichter in einen Fall verwickelt werden kann.

Es war eine hart umkämpfte Partie die ich erst in den Schlussminuten (nach Mark Müllers Kapitulation, als ich noch reichlich Zeit hatte) in Gänze verfolgen konnte. Adis hatte eine Figur weniger, nur war seine Dame direkt vor dem König von Thomas und er hatte ein sicheres Dauerschach, aber auch auf keinen Fall mehr. Thomas brütete und brütete, bei deutlich knapper werdender Bedenkzeit,  wobei seine Zugauswahl so sehr eingeschränkt war, dass der Zeitverbrauch nur als verzweifeltes Suchen nach einer nicht vorhandenen Möglichkeit ausgelegt werden kann, gepaart mit der Unzufriedenheit, dass es so „ja nur Remis“ würde.

 p4

Adis Artukovic – Thomas Heerde, Schlussrunde des Sfr Grand Prix Schnellturnieres Berlin vom 12.12.12.

Hier hatte Schwarz die Wahl zwischen Kh7-h6 und Kh7-h8 – was nach De7-f8+ nicht den geringsten Unterschied macht. Der König kann nicht entweichen, der Springer niemals dazwischen ziehen wegen des Läufers auf c4. Ein sonnenklares Remis durch Dauerschach. Die Stellung war auch schon mehrfach wiederholt worden. Nach dem vierten oder fünften, sechsen Schach zog Adis plötzlich, bei schwarzen König auf h6, Lc4-b3.

Er musste sich einfach damit abfinden. Der König konnte immer nur nach h7 ausweichen, dann hatte er die Wahl zwischen h6 und h8 – was absolut keinen Unterschied machte. Womöglich hat er den Ehrgeiz seines Gegenübers unterschätzt, ihn nicht einmal richtig gekannt, war ausschließlich mit seiner eigenen Geschichte beschäftigt. Jedenfalls sank die Restbedenkzeit auf unter eine Minute, während sie bei Adis in der Größenordnung von 2 Minuten blieb. Er gab einfach immer Schach, vielleicht vier Mal, fünf Mal, sechs Mal auch möglich.

Nun war Thomas so weit: er hatte sich innerlich mit dem Remis abgefunden. Nun zog er den König schneller. Unerwartet muss ihn getroffen haben, dass nun sein Gegner urplötzlich einen anderen Zug machte. Keine Frage: es wurde ihm klar, was dieser vorhatte. Die Stellung sollte keine Rolle mehr spielen, ab nun wurde wild auf die Uhr gehackt. Entweder, man schafft es, den Gegner schachmatt zu setzen, ein eigenes Dauerschach herauszuholen, ihm alle Figuren abzunehmen oder aber ihn zum Dauerschach zu überreden. Ansonsten gäbe die Zeit den Ausschlag – und zwar zugunsten des Gegenspielers, Adis Artukovic.

Nun, das Mittwochsturnier bei den Schachfreunden hat sich gut etabliert, es macht richtig Spaß, es gibt teils hochkarätige Besetzungen (unter Anderem war Hrant Melkumyan zuletzt einmal da, zuletzt regelmäßig GM Martin Krämer und auch sonst ein paar Titelträger), es ist gut organisiert, alle sind mit Eifer – aber in der Regel mit Fairness – bei der Sache. Nur gibt es halt diesen einen Nachteil: die Figuren haben keine Bleigewichte.

Was sind die Folgen? Sobald die Schlussphase Richtung Hektik geht, ist es gar nicht zu vermeiden, dass die Figuren ab und an umkippen. So geschah es auch in dieser Partie, ohne, dass man eigentlich jemandem speziell einen Vorwurf machen konnte. Nur tauchen jetzt natürlich ein paar Probleme auf. Drückt jemand, bevor er alles wieder aufgestellt hat? Was, wenn nicht? Ein paar Mal also kullerten ein paar Figuren übers Brett, und tauchten jede Menge Hände an der Uhr auf. „Erst aufbauen.“ „Ich hab doch längst aufgebaut.“ Drücken, Gegendrücken, Drücken, Gegendrücken. Das geschah ein paar Mal im Wechsel.

jhis200Thomas war natürlich nicht nur geschockt über das Weiterspielen, gerade, weil er sich nur schweren Herzens überhaupt mit dem Remis anfreunden konnte, insofern – siehe oben, Punkt „Vorgeschichte“ – ist sein Ärger ein klein wenig verständlich. Das Vorhaben seines Gegners ist zwar nicht unbedingt unehrenhaft („Ich will gewinnen!“), aber doch ein klein wenig grenzwertig, da er mehrfach die Züge wiederholt hatte – um nach dem hohen Zeitverbrauch auf einmal abzuweichen.

Was folgte? Irgendwann, bei zunehmender Hektik stellte Thomas seinen gefallenen Bauern wieder auf. Sicher in guter Absicht, nur leider auf das falsche Feld. Was wäre nun zu tun, Herr Schiedsrichter? In welchem Regelparagraphen soll sich diese Feinheit verbergen, soll sie abgedeckt sein? Eigentlich, so könnte man gut argumentieren, hätte er lediglich einen (zusätzlichen?! Gezogen hatte er ja schon!) illegalen Zug ausgeführt. Der Bauer zog von g6 nach h6. Immer wieder das gleiche Szenario. Adis drückt und sagt: „Bau richtig auf.“ Thomas drückt zurück mit den Worten: „Ich habe aufgebaut. Lass mich die Uhr drücken.“ Beide Hände auf der Uhr, keiner konnte mehr drücken, wessen Zeit lief? Absolut unklar, vielleicht auch abwechselnd.

Adis assistierte noch beim Aufbauen, klärte auf, dass der Bauer auf g6 und nicht auf h6 gestanden hätte, Thoma wollte oder konnte ihn aber nicht recht verstehen, wie es aussah. Jedenfalls war irgendwann das Plättchen (ja, es waren mechanische Uhren) unten.

Nun galt es, das Ergebnis zu melden. Adis: „Ich habe gewonnen.“ Thomas: „Ich lege Protest ein. Er hat die Uhr festgehalten, ich konnte nicht drücken.“ Obwohl ich die ganze Zeit am Brett gesessen hatte, hat mich niemand zum Tathergang gefragt. Es war mir zwar auch ein Bedürfnis, mit anzuhören, wie ein „Schiedsrichter“ (ausgerechnet mein Gegner, Mark Müller, hatte die Turnierleitung übernommen; dankenswerterweise hat ebenjener Mark Müller bei einem weitere Kreise ziehenden Protestfall von einer meiner Partien ein Video angefertigt und ins Internet gestellt: hier der Link: http://www.youtube.com/watch?v=WyP-5uI3qPE ; das Video bestätigte weitest gehend die Richtigkeit meiner Aussagen) nun entscheiden würde, welche Versionen ihm überhaupt zu Ohren gebracht würden, aber doch überwog das Bedürfnis, den Fall klar zu stellen.

Ich ging also zu den lauthals Argumentierenden, denen Mark bemüht sein Ohr lieh, und meinte: „Ich habe alles gesehen und könnte es aufklären.“ Als Thomas dies hörte, folgte eine sensationelle Reaktion seinerseits: „Na, wenn du das gesehen hast, dann ist ja alles ok. Du bist objektiv, der Einschätzung vertraue ich.“ Dies vereinfachte die Sache ziemlich. Da ich niemals dafür geeignet wäre, Schwarz und Weiß zu malen, also auch hier nicht einen Sündenbock ausgemacht hätte und einen, der alles richtig gemacht hätte, meinte ich nur, dass ich zwar verstehen könnte, dass Thomas durch das verschmähte Remis – aufgrund der Stellung nicht gerechtfertigt, nur aus Zeiterwägungen erfolgt – sich leicht ereiferte, aber dass er doch ein paar Mal mehr gesündigt hätte. Ich sagte auch sofort, dass ich das Verhalten des Gegenspielers zwar auch nicht gerade perfekt fand, denkbar sogar, dass ihm als ersten einmal die Figuren umfielen, dass aber doch die größere Anzahl der Ungereimtheiten bei Thomas lagen.

Das akzeptierte er sofort, zumal es ja, anders, als wenn man sich AUSSCHLIEßLICH auf Paragraphen zu berufen gedächte, sein Verhalten zugleich erklärte, insofern ihm das Verständnis entgegenbrachte, was ihm wohl schon ausreichte, um so die Niederlage hinnehmen zu können.

Fall 4: Paulsen – Krämer

Da er nun sogar schon angeführt ist, kann man ja ebenso diesen unter die Lupe nehmen. In der Partie stand ich schon bald nach der Eröffnung klar schlechter, verlor einen Bauern, und hatte als Folge die schlechtere Zeit. Keine Chance also. Eigentlich. Zumal ich im weiteren Verlaufe der Partie gar einen weiteren Bauern einbüßte. Danach die Partie im Prinzip entschieden, das ja wohl keine Frage. Wenig Zeit und zwei Bauern weniger, im Endspiel, gegen einen gut 2500er? Da kann man getrost den Geistlichen bestellen.

Ich machte noch ein paar Züge, sehr wohl konzentriert, wie man im Video erkennen kann, jedoch hatte ich mich innerlich mit der Niederlage abgefunden. Nur fand er irgendwie keinen ko-Schlag, die Partie zog sich hin. Allmählich gab es doch eine kleine Chance, zumal er im Zeitverbrauch nach und nach gleichzog.

Wie man im Video sieht, zuckte er einmal kurz mit seinem Turm, als er diesen beinahe auf h3 abstellte. Dort wäre, nach Ta6+ gefolgt von Te6:, eine Figur verloren gegangen. Nein, er hat ihn wohl nicht losgelassen, aber es war ziemlich knapp. Immerhin zeigte mir der Moment, dass die Nerven eine Rolle spielen könnten. Man ist wieder dabei.

Irgendwann – und es war noch immer nicht die endgültige Entscheidung in Sicht – unterschritten wir beide die 20-Sekunden-Marke. Ab diesem Zeitpunkt war klar: hier entscheiden keine schachlichen Erwägungen mehr. Hier wird gezogen, natürlich möglichst gut, aber doch mit der Maßgabe: der Schnellere gewinnt, in etwa wie bei „High Noon“.

Da aber selbst darin die Jugend klare Vorteile hat, waren meine Chancen weiterhin sehr dünn. Es kam aber der Moment: ich zog meinen Springer von d5 aus zurück. Er sollte nach e3. Nur landete er nicht dort, zumindest nicht exakt dort. Er landete so ziemlich genau zwischen den Feldern e2/d2/e3/d3, fast genau mittig. Klar könnte er nun sagen: „Wo steht der.“ Oder „stell erst einmal ordentlich auf.“ Nur, wer hätte diese Geistesgegenwart? Es sind noch 3 Sekunden bei ihm gegen 2 Sekunden bei mir. Das sind Reflexe, die dort die Entscheidungen fällen, insofern sind es nicht einmal Entscheidungen.

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Paulsen – Krämer, Schlussrunde des großen Grand Prix Turnieres im Rathaus Schöneberg am 16. Juni 2001.

Dies die Stellung, die auch im Video deutlich zu erkennen sauber auf dem Brett steht – obwohl beide vorher nicht absolut sauber gesetzt haben. Ich zog meinen Springer von d5 nach e3, wo er, beim Loslassen, ein wenig verrutschte und exakt zwischen den Feldern e3/d3/e2/d2 zu stehen kam – wie übrigens Augenzeuge August Hohn nach der Partie schon anmerkte. Er zog daraufhin seinen König nach f5, ich griff nach meinem Turm und stellte dann fest – ohne auf meinen Springer zu schauen – dass das Feld unter Beschuss meines soeben nach e3 entwichenen Springers steht. Übrigens darf man sehr wohl anmerken, dass diese Stellung bereits objektiv Remis ist, denn sein Königszug – so er denn legal gewesen wäre – büßt den Bauern g7 ein. Den Turm hatte ich ja in der Hand. Die Uhr wies zu diesem Zeitpunkt übrigens – also nach meinem Neutralisieren der Uhr – für mich 2 Sekunden, für ihn 3 aus. Er hätte also, bei normaler Fortführung der Partie, ziemlich genau eine Sekunde Zeit gehabt, ZÜ zu reklamieren, bevor seine eigene Zeit abgelaufen ist. Fraglich, ob das zu schaffen gewesen wäre.

Weitere kleine Anmerkung: sobald man einmal auf dieser youtube Seite ist, findet man auch das Video der Vorgängerrunde seiner Partie gegen Hassan Krasnici. Dort stand Martin Krämer klar auf Verlust UND hatte mehr als eine Minute weniger. Hassan aber, in der Gewissheit des Sieges, vergaß die eigene Bedenkzeit völlig und schlief ein. Mit einer Sekunden gegenüber Hassans 0 Sekunden reklamierte Martin Zeit. Also: es war ihm eine Runde zuvor bereits gelungen, dieses Kunststück (was sicher für ihn spricht) aber zwei Mal in Folge auf die fast gleiche Art zu gewinnen: wäre das nicht eine ganze Menge Glück?

Er zog seinen König nach f5. Ich wollte gerade ein Turmschach auf a5 einblenden, als mir einfiel, dass ich „eigentlich“ soeben meinen Springer nach e3 gezogen hatte. Der König KONNTE GAR NICHT NACH F5. Der Zug war illegal, und, wie man im Video sieht, justiere ich sofort die Srpingerstellung. Eine Art „j´adoube“, natürlich zur Unzeit, und rückte ihn mittig nach e3. Dazu sprach ich die Worte: „Illegal, der Zug ist illegal.“

In diesem Moment begehrte er natürlich auf. „Der Springer stand hier. Hier stand der Springer.“ Und er wollte gar rasch im Geiste eine komplette Route ausmachen, die ihn dorthin (nach d3) befördert hatte. In diesem Moment hat er sich natürlich ebenso auf dünnes Eis begeben – und, wie man dank „Videobeweises“ feststellen konnte – brüchiges Eis, welches den Einsturz zur Folge hatte. Seine fiktive Route existierte nicht, ich hatte Recht, dass er nach e3 gehörte. Dass er dort nicht landete, war selbstverständlich mein Verschulden, aber zumindest irrte ich darin nicht.

Was wäre also nun zu tun? Ich hatte ohnehin die Uhr gestoppt. Klar, dass er, in der Aufregung und der lange währenden Gewissheit, diesen Punkt bereits unterm Kopfkissen zu haben, ein wenig aufgebrachter reagierte. Nur war es eben eine falsche Behauptung, auf welche er sich stützte. Weiterhin war es nicht korrekt, die Uhr, ohne einen Schiedsrichter am Brett zu haben, wieder in Gang zu setzen. Dies wäre auf jeden Fall ein „Regelverstoß“ (auf welche man hier absolut nicht besteht, zumal die Bedeutung von Regeln ausgesprochen gering geschätzt wird). Das Neutralisieren der Uhr ist möglich, es ist sozusagen ein Protest, das Ingangsetzen der Uhr obliegt dem Schiri. Nicht aber, dass ich Martin deswegen böse gewesen wäre, vielmehr sieht man ja an der Reaktion am Brett, dass ich ziemlich unterwürfig reagierte und ihm sogar seine Version abzunehmen bereit war. Ich spielte auch brav weiter, kam gar nicht auf den Gedanken, dass hier etwas nicht stimmte, er dazu gar nicht autorisiert war.

Wir machten beide ein oder zwei Züge – und beide Zeiten zeigten eine 0.00 an, was absolut nicht verwundern kann. Das Remis wurde auch vereinbart, wenngleich Martin eigentlich Protest einlegte, diesen aber dann wohl zurückzog. Er war aber auf keinen Fall einverstanden mit dem Ergebnis und auch später noch eine Weile lang auf mich böse, obwohl ich mich mühte, das vor der Siegerehrung aus der Welt zu schaffen. Sein 2. Platz war ihm so oder so sicher, insofern hielt sich die Enttäuschung wohl doch in Grenzen. Auf diesen Umstand hatte ich ihn bereits am Brett aufmerksam gemacht.

bannersr12013-web-anz500Die Frage, die sich in allen Fällen stellt: was nützte einem hier ein ausgefeiltes Regelwerk? Es kommt am Brett sowieso anders, man reagiert spontan und emotional, meist in Form von Zügen, denkt nicht an die Regeln, könnte dies auch gar nicht, aber noch viel mehr hier diese Einschätzung: je mehr man versuchen würde, diese Einzelfälle regeltechnisch in den Griff zu bekommen, umso mehr würde man für Protestfälle Tür und Tor öffnen. Jeder hätte die Chance, den für ihn in der Situation günstigen Paragraphen herbeizuzitieren, noch dazu diente der Irrglaube, alles in Regeln erfassen zu können, dem Umstand, dass man sich auf das vermeintlich lückenlose Regelwerk stützen könnte, insofern -- ähnlich wie im Fußball, wo beispielsweise nach eigener Ansicht die Einführung der Gelben Karte nur dazu geführt hat, dass Unsportlichkeiten legalisiert wurden -- man sich nicht mehr auf den gesunden Menschenverstand berufen würde sondern halt auf Regeln, und damit sowieso Menschlichkeit und Sportlichkeit weiter verloren gingen.

Umgekehrt die Ansicht, dass man, sofern man auf alle Regeln verzichtet, außer die ganz wenigen der Gangart der Figuren und dass Zeitüberschreitung die Partie verliert und Matt die Partie ebenso beendet wie Patt, dafür sorgen könnte, dass man sich am Brett viel besser verträgt. Man weiß, dass man zur Beurteilung eines einzelnen Falles immer nur genau diesen Fall anschauen müsste und nicht etwa einen Wust von Paragraphen. Mit diesem Verständnis würden alle automatisch fair spielen, in einer idealen Welt... Daran glaube aber tut man hier als Autor.

 

Fairplay im Schach (1)
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Dienstag, 18 Dezember 2012 12:06

Fairplay im Schach (1)

Gedanken über Fairness im Schach (1)

Immer wieder ist zu beobachten, dass es zu Streitfällen kommt. Zugleich geschieht es selbstverständlich von Spielern, die sich persönlich für höchst fair halten und denen so etwas eigentlich nie geschieht, die zugleich ihr Gerechtigkeitsempfinden loben, die bei jedem eigens beobachteten -- aber nicht selbst beteiligten -- Fall empört mit den Fingern auf den von ihnen als Verursacher des Streits ausgemachten Übeltäter deuten und ihn in die Kategorie „unsportlich“ einstufen, nur um beim nächsten Turnier selbst in einen vielleicht sogar ähnlichen Fall verwickelt zu werden, der ihnen, durch die eigene Beteiligung und den stets einfließenden eigenen Ehrgeiz womöglich den Blick verklären, wie sie noch von außen unlängst die vergleichbare Sachlage beurteilt hatten.

jhis200Das Problem, welches hier ausgemacht ist und sehr generell, aber schon länger, einem als einzige Schlussfolgerung aus der Fülle der Beobachtungen blieb, ist diese: es hilft kein Regelwerk, um das zu verhindern, und das vorhanden Regelwerk hilft auch nicht im geringsten, mit diesen Fällen im Einzelnen klar zu kommen, nein, ganz im Gegenteil, meint man hier, als Autor, dass es sogar schadhaft wirkt, überhaupt den Versuch zu starten, dem Irrglauben nachzugehen, dass man, mit einer bemühten Verallgemeinerung, Herr werden kann über die so zahlreichen Facetten des Spiels selbst und auch der Ausprägungen, die so bald übergehen können in „das war aber unfair“ oder auch das Gegenteil davon, „das war aber sehr sportlich“. Jeder Fall ist individuell, und dies sehr speziell der Anlass, sich hier an einen derartigen Text heranzumachen.

Hier werden ein paar fast wahllose Beispiele gegeben, die deshalb angebracht werden, da sie nämlich genau zwei Vorteile haben: a) sie liegen nicht lange zurück und sind deshalb noch sehr genau in Erinnerung und b) sie wurden selbst beobachtet und man vertraut einzig dieser Beobachtung und nicht etwa Berichten von Beteiligten, die dann meist den einen Sinn haben: die eigene Fairness herauszustellen, die Unmöglichkeit des Verhaltens des Gegenübers oder aber, falls von einem Unbeteiligten kolportiert, dieser die Geschichte genau deshalb erzählt, sie für interessant hält, weil er nicht etwa auf den Pfaden der Objektivität zu wandeln gedenkt sondern ebenfalls eine Ungeheuerlichkeit im Verhalten eines Einzelnen aufzeigen möchte.

Fall 1: ein Großmeisterremis?!

Im jüngst von mir am Ende gewonnenen Schnellturnier beim SK Präsident kam es in meiner Partie gegen Jakov Meister zu einer recht dramatischen Partie. Er hatte mir bereits in der Eröffnung, im von mir so geliebten und noch immer mit Erfolg angewandten Aljechin, einen mir völlig unbekannten Zug vorgesetzt.

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Meister – Paulsen, Open des SK Präsident, 6. Runde, 8.12.2012, Schwarz am Zuge

Auf die haarsträubenden Verwicklungen ließ ich mich hier ein mit der Zugfolge 1. ... Sd5xc3 2. Df3xb7 Dd8xd4. Keine Ahnung, was der Computer dazu sagt, aber ich meinte nach der Partie, dass ich ein paar Mal einen recht klaren Gewinn für ihn gesehen hatte, worauf er ein wenig empört war. Natürlich sollte man Sc3: gerade in einer Schnellpartie nicht spielen, weil davon auszugehen ist, dass genau dieser Zug dem Gegner bekannt ist.

Ich rechnete am Brett, spürte, dass er es sicher kennen musste, und ließ mich dennoch auf die haarsträubenden Verwicklungen ein, die mich temporär einen Turm kosteten, die aber BEIDE Könige in Mattgefahren brachten Wie durch ein Wunder gelang es uns beiden, dort schadensfrei hindurchzukommen. Er machte zwar immer weiter Druck, aber es gab keinen entscheidenden Vorteil. Allmählich war sogar das materielle Gleichgewicht wiederhergestellt. Noch immer bedrohten seine Dame und seine Läufer meinen König, aber es gab kein Matt. Seine präzisen Züge brachten ihm dennoch diesen Vorteil ein: ein Endspiel, in welchem er einen Bauern mehr besaß UND das Läuferpaar.

Keine Frage, dass diese Stellung für ihn gewonnen war. Die Uhr zeigte bei beiden um die 2 Minuten Restbedenkzeit an, also genug Zeit, den Vorteil zu verwerten. Großmeister Meister machte seine Züge weiterhin mit großem Bedacht, während ich, geleitet von der allmählichen Gewissheit des unvermeidlichen Ausganges, eine gewisse Gleichgültigkeit an den Tag legte. Eine einzige Drohung war mir geblieben. Es war jene, irgendwann einmal durch einen Zufall meinen Springer gegen seinen mit meinem Läufer gleichfarbigen abzutauschen, so dass ungleiche Läufer übrig blieben. Auf die Uhr schaute ich bereits überhaupt nicht mehr, dass sollte, wenn jemals irgendetwas, dann seine Sorge sein.

Plötzlich gelang mir durch ein Springerschach der ersehnte Abtausch. Möglich, dass mein Gegner dies sogar gesehen und eingeplant hatte, drohte doch sein König an seinen freien a-Bauern zu laufen und meinen Läufer zu erobern?! Nur entdeckte ich sofort den Rettungszug: ich musste einen zweiten Bauern geben, damit seinen König vom Marsch ablenken und es gelang mir, mit meinem König den Weg abzuschneiden und an seine nun insgesamt beiden Mehr- und Freibauern am Damenflügel zu laufen. Am Königsflügel gab es je zwei Bauern, g- und h, die auf der jeweiligen Läuferfarbe festgelegt waren. Die Stellung musste nun also Remis sein, da er am Damenflügel c und a hatte, diese aber blockiert waren, und am Königsflügel gab es gar nichts zu holen.

Nun fiel mein Blick erstmals auf die Uhr. Was stellte ich fest? Er hatte noch 12 Sekunden, ich hingegen noch satte 55. Da habe ich mit dem schnellen Ziehen, durch die Todesverachtung ausgelöst, einiges herausgeholt. Auch dem Großmeister fiel nun dieser Umstand ins Auge. Ein kurzer, ausgetauschter Blick zwischen uns, und das Remis war per Händedruck besiegelt.

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Die Schlussstellung aus der Partie Meister – Paulsen. 1/2:1/2.

Nun war dies für mich persönlich nicht besonders spektakulär, nein, im Gegenteil, eher selbstverständlich, wenn überhaupt begleitet von der Freude, dass es mir gelungen war, diese Kloake zum Remis zu retten und damit meinen halben Punkt Vorsprung auf meinen Gegner zu wahren (er hatte bereits zuvor ein Remis abgegeben, hatte nun 5/6, ich 5.5/6).

Am Montag las ich aber im Bericht über dieses Turnier, dass es sich hier um eine sehr sportliche Geste meinerseits gehandelt hätte. Nun hat mich dies zwar gefreut – woran sich bis jetzt nichts geändert hat --, nur gab es mir den Anlass, darüber ein wenig zu philosophieren, vielleicht gar jenen, mich an diesen Text hier zu setzen, aber zugleich über ein paar Vergleichsfälle nachzudenken.

Diese Partie war nie und nimmer für mich mit schachlichen Mitteln zu gewinnen, im Gegenteil, war der Remisschluss ein insgesamt glücklicher.

Fall 2: Suchen Sie den Unterschied!

Am Mittwochabend hingegen spielte ich das Schnellturnier bei den Schachfreunden. In der letzten Runde bekam ich es mit Mark Müller zu tun, einem soliden 2000er. Er spielte die Partie zwar ab einem gewissen Zeitpunkt sehr stark, nur verbrauchte er Unmengen an Bedenkzeit. Es war eine durchgehend komplizierte Stellung entstanden, aber so ziemlich gegen Ende fand ich eine Abwicklung über mehrere Züge, dir mir ein Turmendspiel mit gleichen Bauern sicherte, nämlich jeweils zwei. Ich drohte nämlich bereits, in Nachteil zu geraten. Als das Endspiel entstanden war, hatte er weniger als eine Minute auf der Uhr, ich weit über 5, vielleicht sogar 7 oder 8. Verblieben waren sein g und c Bauer und bei mir g und h. Er kam nicht einmal auf die Idee, Remis anzubieten und hat auch nach der Partie kein Wort gesagt, also keines, was Richtung Unfairness ging.

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Mark Müller – Dirk Paulsen, Sfr Berlin Schnellturnier, 12.12.12, letzte Runde.

banner-seminarturnier300-anDies die Stellung, auf welche ich mich einließ in der Gewissheit, hier keinen Nachteil zu haben und die Stellung auf Sieg spielen zu dürfen. Nach 1. ... Tc6 2. Tb4 stand sein Turm auch passiv. Er lief mit dem König zum c-Bauern, ich an seinen g-Bauern, so wurde es zwar kompliziert, vielleicht auch objektiv Remis, aber es blieb eine spielbare Stellung mit Chancen für beide.

Natürlich hätte es sogar zum Remis für ihn gereicht -- rein von der Stellung her --  wenn er sich von seinem c-Bauern getrennt hätte und mit dem König am Königsflügel geblieben wäre. Aber selbst wenn er dies getan hätte, so gebe ich unumwunden zu, hätte ich die Partie niemals Remis gegeben. Meine Bauern standen in der Ausgangsstellung g7 und h7 und ich hätte jede Menge kleinerer Fortschritte erzielen können und die theoretische Remisstellung wäre mir vollkommen schnuppe gewesen. Ihm war das sicher auch klar, aber möglich noch viel mehr, dass ihm bei der Kürze der Restbedenkzeit dieser Gedanke nicht einmal kam. Er ging mit dem König rüber zum c-Bauern, ich mit meinem an seinen g-Bauern, er verbrauchte weitere Bedenkzeit. Obwohl die Stellung vielleicht sogar kurz vor Schluss noch immer Remis war bei präzisem Spiel war uns beiden klar, dass sie niemals zu halten wäre und an mich ging. Er hat dann auch noch einen Fehler gemacht - nicht verwunderlich -- und direkt aufgegeben, ziemlich zeitgleich mit der ZÜ.

Ich will damit nur sagen, dass es kleine Nuancen in der STELLUNG geben kann, die ein unterschiedliches Vorgehen aufdrängen. Es gibt sogar Fälle, da die Historie IN DER PARTIE eine Rolle spielt bei der Beurteilung von Fairness und Unfairness. Sogar ist dies teils der Fall bei meiner Partie gegen Mark Müller. Meine Wahl zu der Remisabwicklung fiel DESHALB so aus, da mir bereits dort klar war, dass es der einfachste Weg zum Sieg war. Komplizieren auf Teufel komm raus hätte nur die unangenehme Möglichkeit eines plötzlichen Schachmatts für ihn -- denn es gab schon Varianten, wo ich plötzlich Matt gewesen wäre vor der Abwicklung --  auf den Plan gerufen. Dem bin ich aus dem Weg gegangen und habe ihm das auch nach der Partie so gesagt, was er natürlich sofort verstand und akzeptierte.  Ich wickle zum Remis ab, um den Sieg sicher zu haben. Wenn man dies historisch einfließen lässt in die Beurteilung, fällt jene anders aus. Also: wenn er nun am nächsten Tage erzählen sollte, dass er von Paulsen in klarer Remisstellung über die Zeit gehoben wurde, dann wäre dies nur Teil der Wahrheit. Zur Remisstellung kam es NUR, weil der Sieg DAMIT gewiss war. Und dies alles andere als ein Einzelfall.

Zur Fortsetzung: Fairplay (2)