Zugzwang
von Ronan Bennett

Mord, Intrigen im vorrevolutionären St. Petersburg ...
Roman
Preis: 19,90 €
Bezugsquelle: Schachversand Niggemann
ISBN-13: 978-3-8270-0681-3, Verlag: Berlin Verlag
Sprache: Deutsch, 315 Seiten, gebunden, 1. Auflage 2007

Erzählt wird der Roman aus der Sicht der Hauptfigur, dem Neurologen und Psychoanalytiker Dr. Otto Spethmann. Schauplatz ist St. Petersburg im spätzaristischen Jahr 1914, eine Zeit, geprägt von weltgeschichtlichen Veränderungen. Der erste Weltkrieg stand vor der Tür ...
Im Jahr 1914 kam es in St. Petersburg zu einem legendären Schachturnier. Zar Nikolaus II. versah das Turnier mit einer großzügigen Sieger-Prämie und sprach zusätzlich den ersten Fünftplatzierten den Titel "Schachgroßmeister" aus. Neben dem Sieger und damaligen Weltmeister Lasker, durften sich fortwährend Capablanca, Tarrasch, Marshall und Aljechin mit dem seinerzeit "neuen" Titel schmücken. Das Turnier in St. Petersburg dient allerdings nur als Bühnenbild eines schachfremden Geschehens, denn vordergründig sind die Krise der Monarchie in Russland, Intrigen, die Geheimpolizei, Verwirrspiele bis hin zu Doppelagenten. So wird der fiktiv vom Autor gewählte Teilnehmer des Schach-Turniers "Awrom Chilowicz Rozental" nur als Werkzeug der Bolschewisten benutzt.
Die Geschichte beginnt mit einem Mord an dem St. Petersburger Zeitungsverleger "Gulko". Dies war nicht der einzige Mord an diesem Tage. Auch der junge Dichter Jastrebow wurde ermordet. Dr. Otto Spethmann, ein angesehener Bürger, wird von dem Polizeiinspektors "Lytschew" aufgesucht. Der Ermordete Jastrebow trug eine Visitenkarte von Spethmann bei sich, der somit in den Kreis der Verdächtigen gerät. Spethmann wird, zusammen mit seiner 18jährigen rebellischen Tochter Catherine, unerwartet in das St. Petersburger Polizeipräsidium zum Verhör vorgeladen. Spethmann, gerade im Begriff, sich in seine Patienten Anna Petrowna zu verlieben, berichte ihr von der Vorladung. Anna verwies Spethmann auf ihren einflussreichen Vater Peter Arsenjewitsch Sinnurow um weitere, ganz sicher bevorstehende Unannehmlichkeiten zu umgehen ...
An dieser Stelle möchte ich die Einleitung beenden, um den durchaus sehr spannenden Roman nicht weiter vorzugreifen.
Die vom Autoren eingesetzten Figuren wandeln sich während der Geschichte völlig unerwartet. Selbst Spethmanns unscheinbare Sekretärin Minna kommt im späten Verlauf noch eine besondere Nebenrolle zu.
Steht Spethmanns Freund, der erfolgreiche Pianist Reuwen Kopelzon, wirklich auf seiner Seite? Übt der Polizeiinspektor Lytschew staatsgetreu seinem Dienst aus? Welchen Part übernimmt der Bolschewist Grigori Wassilewitsch Petrow? Auch Petrow ist Patient von Spethmann. Ist Spethmanns Tochter Cathrine wirklich so unschuldig? Ein weiterer Patient von Spethmann ist der Schachspieler Awrom Chilowicz Rozental. Awrom ist Teilnehmer des Schach-Turniers und wurde vom Autoren mit aussichtsreichen Sieg-Ambitionen, versehen. Analog ersetzt Rozental den wirklichen Teilnehmer "Rubinstein" der seinerzeit in der Tat neben Lasker und Capablanca als Favorit gehandelt wurde.
Ganz vorzüglich versteht es der Autor Plätze, Straßen und Orte in St. Petersburg detailreich zu beschreiben. Spektakulär gewählte Schauplätze, zu nächtlichen Zeiten, regen die Fantasie beim Lesen gewaltig an. Auch werden immer wieder Nebenfiguren recht spannend in Szene gesetzt.
Wie einleitend geschildert, steht das Schachturnier in St. Petersburg nur mittelfristig im Vordergrund. Dabei wird dem exzentrischen Neurotiker Rozental eine besondere Aufgabe zugeteilt. Eine weitere schachliche Komponente besteht in einer Fernschachpartie zwischen Spethmann und seinem Freund Kopelzon. Während der Geschichte tauschen Spethmann und Kopelzon Züge bei ihren Begegnungen aus.
An vielen Stellen des Romans wird die aktuelle Stellung mittels Diagramm und kurzen Erläuterungen abgedruckt. Es handelt sich dabei tatsächlich um die Partie Daniel King gegen Andrei Sokolov, aus dem Jahr 2000 (GM Daniel King ist mit dem Autor befreundet).
Bekanntlich kommt es bei Schachpartien überwiegend in Endspielen zu Zugzwang Situationen, so auch in dieser Fernschachpartie zwischen Spethmann und Kopelzon. Der Autor versucht den Begriff Zugzwang in Lebenssituationen zu implementieren. Daher trägt der Roman den Titel "Zugzwang".
Schachbegriffe werden selten unglücklich ausgedrückt. Auch bei "Zugzwang" entsteht der Eindruck, dass die Lektoren nicht mit aller Sorgfalt gearbeitet haben. Dieser Tatbestand fließt allerdings nicht in meine nachfolgende Bewertung ein.
Bewertung: 3,5 von 5
Als dem Niveau nicht entsprechend bezeichne ich eine, in Kapitel 16 im Detail beschriebene, nicht jugendfreie Liebesszene. Es stellt sich die Frage, was der Autor damit bezwecken wollte? Wird Kapitel 16 übersprungen, fehlen dem Leser keine wichtigen Informationen zum weiteren Verlauf. Der Roman muss daher als "NICHT JUGENDFREI" deklariert werden.
Trotz dieser unerwartet und völlig unpassenden Einlage, versteht es der Autor Dramatik, Nervenkitzel und Spannung, ganz im Hollywood Stil, aufzubauen. Das Ende erscheint dann zwiespältig und gestaltet sich zum Verlauf der Geschichte als enttäuschend.
Sherlock Holmes und Dr. Watson in St. Petersburg!
Fazit:
Die Schachpresse feiert ihren Roman, so ganz nach dem Motto:
"Wir sind ja so dankbar, so dankbar für jeden Schriftsatz in dem das Wörtchen Schach auftaucht".
Im Vordergrund stehen bei Zugzwang nicht unser geliebtes Hobby, sondern vielmehr politische Handlungen kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges. Schade, dieser Roman hätte auch die Maximal-Bewertung erreichen können. Den sinnbildlichen 0.5 Punkte-Bonus möchte ich Zugzwang aufgrund der sehr spannend inszenierten Szenen aussprechen.

Copyright: Frank Quisinsky / SCHACHWELT
vom 15.02.2010
zuletzt aktualisiert am 15.02.2010, 11:15