Herr Präsident, bitte übernehmen Sie! Eine Polemik von GM Hertneck

by Gerald Hertneck on07. Juni 2011
Herr Präsident, bitte übernehmen Sie!  Eine Polemik von GM Hertneck Stefan64
Mit einem Paukenschlag endete in Bonn die Wahl zum Präsidenten des Deutschen Schachbunds. Nicht der vermeintliche Favorit Dr. Hans-Jürgen Weyer trug den Sieg davon, sondern der Herausforderer aus den Landesverbänden Herbert Bastian. Nun richten sich  nach mehrjähriger Krise des DSB alle Augen auf den „Neuen“ – wobei dieser dem DSB ja bereits seit Jahrzehnten in verschiedenen Funktionen verbunden ist. Besonders bemerkenswert: unser Präsident ist aktiver Schachspieler mit einer Elozahl von 2330, der selbst an unzähligen deutschen Meisterschaften teilgenommen hat, und somit die Idealbesetzung aus beiden Perspektiven (Funktionäre und Spieler) ist.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, meine Erwartungen an den Präsidenten zu beschreiben:



1. Nationalmannschaft.
Ich möchte, dass Deutschland wieder mit der stärkstmöglichen Mannschaft auf Schacholympiaden und Europameisterschaften antritt. Und dass die Kommunikation zwischen Spielern und Funktionären nicht abreißt, auch wenn es nicht immer leicht fällt.

2. Objektive Nominierungskriterien:
Ich möchte, dass ein Spieler wie Igor Khenkin, der mehrfach deutscher Meister wurde, und seit langem konstant über 2600 Elo spielt, bei der Nominierung der Nationalmannschaft nicht übergangen wird, nur weil er zu alt ist oder angeblich zu viele Remisen macht. Hier muss der Präsident auch eine Kontrollfunktion gegenüber dem Bundestrainer ausüben.

3. Deutsche Meisterschaft:
Zur überfälligen Aufwertung der Deutschen Meisterschaft der Herren sollten nur noch Spieler ab 2400 zum Turnier zugelassen werden (mit Wildcards für die besten Nachwuchsspieler). Der DSB muss das Turnier auch finanziell gut ausstatten, um die besten Spieler zur Teilnahme zu bewegen. Der Widerstand der Landesverbände muss durchbrochen werden, da der bestehende Modus nicht mehr zeitgemäß ist.

4. Bundesliga:
Die Bundesliga sollte endlich vom 30 Jahre lang praktizierten starren und für die Medien unattraktiven Modus des Wochenend-Hoppings abrücken, und nach dem Vorbild anderer Länder auf wenige Spieltermine reduzieren oder das Turnier sogar als durchgehende Veranstaltung an 9 Tagen nach Schweizer System durchführen. Ich weiß, dass ich hier beim Präsidenten an der falschen Adresse bin, weil ja der Bundesliga e.V. die Organisation  vor Jahren übernommen (gekidnappt?) hat. Aber vielleicht kommt ja doch noch mal Bewegung in die Diskussion.

5. Budget des DSB:
Ich fordere, dass auf dem nächsten Kongress eine deutliche Beitragserhöhung (25 bis 50%) beschlossen wird, damit der DSB und die Landesverbände wieder finanziell handlungsfähig werden. Vergleiche hierzu den genialen Artikel von Jörg Hickl „Schach – der Billigsport“. Das deutsche Schach wird im 21. Jahrhundert völlig verdient untergehen, wenn es nicht gelingt, den Verband angemessen zu finanzieren. Mehr muss man dazu nicht sagen.
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Bannerschachreisen3006. Sponsorengewinnung: Es gibt viele Aufgaben im DSB, daher sollte es auch viele Sponsoren geben. Der DSB muss daher seine Bemühungen verstärken, Gelder aus der Wirtschaft zu gewinnen. Hierzu sollte er im ersten Schritt offensiver auf die Firmen zutreten, die Werbung mit Schachmotiven machen. Es ist wirklich peinlich, dass in einem der reichsten Länder Europas sich bisher so wenig Schachsponsoren gefunden haben!

7. Öffentlichkeitsarbeit:
Der DSB muss endlich erkennen, dass eine seiner wichtigsten Aufgaben die Öffentlichkeitsarbeit ist. Die Homepage des DSB sollte daher einem Relaunch unterzogen und moderner und benutzerfreundlicher gestaltet werden. Außerdem sollten die besten Schachjournalisten angeworben werden, bezahlte Beiträge zu liefern. Die Darstellung des Schachs in der Öffentlichkeit sollte man den Profis überlassen. Es ist auch zu überlegen, ob der DSB und Chessbase auf diesem Gebiet enger zusammenarbeiten sollen.

8. Mitgliederentwicklung:
Meiner Meinung nach kann der negative Trend (der in den nächsten Jahren noch zunehmen dürfte) nur gestoppt werden, wenn die Schachvereine in die Schulen gehen und die interessierten Schüler in die Schachvereine. Bisher krankt auch dieses Modell daran, dass es mehr oder minder ehrenamtlich ist. Für die Jugendtrainer in den Vereinen sollte der DSB daher ein Förderprogramm (Bezuschussung von Training) auflegen.

9. Betrug beim Schach:
Der Deutsche Schachbund muss erkennen, dass das gefährlichste Doping nicht die Einnahme von Substanzen, sondern die Nutzung von Analyseprogrammen während der laufenden Partie ist. Handynutzung muss daher auf allen Turnieren in Deutschland verboten werden, und bei Verstoß empfindliche Strafen nach sich ziehen – ansonsten wird unser edler Schachsport schnell kaputt gemacht.

10. Überalterung im DSB und in den Landesverbänden:
Ein Neuanfang kann nur mit einer jungen und dynamischen Mannschaft gelingen. Funktionäre, die ihren Job seit 30 oder 40 Jahren ausüben, sollten sich genau jetzt aufs Altenteil zurückziehen, auch wenn es manchmal nicht leicht sein wird, die entstandenen Lücken zu füllem.

Ein Wort zum Schluss: ich weiß ich bin naiv und polemisch, ich habe meine Forderungen nicht genug durchdacht. Alle werden sie mal wieder über mich herfallen. Aber in der jetzigen Situation lohnt es sich einfach, auch mit provokanten Thesen einen Neuanfang zu unterstützen!

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