Boris Gelfand 2006
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Freitag, 05 Oktober 2012 11:24

Ende gut, (fast) alles Gelfand

Der London Grand Prix ist auch schon wieder vorbei. Er bot insgesamt interessantes Schach und tolle Live-Videoübertragung nebst Kommentaren der Spieler kurz nach der Partie. Nur die Bedingungen für Zuschauer vor Ort waren offenbar - trotz ansprechendem Ambiente - sub-suboptimal, man kann nicht alles haben .... . Gewonnen haben am Ende mit Topalov, Gelfand und Mamedscharow drei Spieler (zum Glück hatte die Tiebreak-Lotterie keinen Einfluss auf Preisgeld und GP-Punkte!); warum ich einen besonders hervorhebe verrate ich später in diesem Blogbeitrag.
Vor dem Turnier haben diverse "Experten" wohl erwartet dass Gelfand und Nakamura am entgegengesetzten Ende der Abschlusstabelle landen würden - so kam es dann auch aber doch anders als prognostiziert. Auch die erste Runde (Nakamura-Gelfand 0-1) betrachteten "sie" vielleicht als Ausrutscher den beide noch reparieren würden. Ich setze gleich mal ein Diagramm:

Nakamura-Gelfand

Typisch Sveshnikov, wobei diese Bauernstruktur erst nach dem 42. Zug aufs Brett kam. Weiss am Zug kann sich zwar einen Bauern auf h5 schnappen, aber weder dieser Mehrbauer noch die ungleichfarbigen Läufer konnten langfristig verhindern dass die schwarzen e- und f-Bauern unwiderstehlich voran stürmen - Nakamura hat es verhindert indem er im 58. Zug das Handtuch warf. Damit ist schon ein Pluspunkt von Gelfand erwähnt: er profitierte deutlich von seiner Eröffnungsvorbereitung für Anand. Mit Sizilianisch holte er zunächst 2.5/3 - dann wichen die Gegner auf Nebenvarianten aus, Grischuk mit durchschlagendem Erfolg, die Partie erinnerte mich an eine Partie gegen Anand. Wie damals in Moskau ist Gelfand anschliessend nicht eingebrochen; die siegreiche Partie in der Schlussrunde gegen Kasimdzhanov war grosses Kino wobei er einen halben Zug lang schlecht stand - no guts no glory! Generell war er des öfteren kreativ, erwähnen will ich noch das aggressive Bauernopfer gegen Ivanchuk, das eher defensive gegen Mamedscharow und seine Weisspartie gegen Giris Königsinder - auch wenn das alles remis wurde. Dann gab es noch den technischen Sieg gegen Wang Hao - da hatte er am Ende Glück dass der Chinese böse patzte (was er lachend und mit Fassung akzeptierte), aber völlig unverdient war es für mich nicht da er die ganze Partie am Drücker war und ein ähnliches Mattmotiv einige Züge eher ohne Hilfe des Gegners erzwingen hätte können.

Zu einigen anderen Teilnehmern: Topalov war verdient vorne mit dabei, nach Wertung sogar ganz vorne. Allerdings hatte er meiner Meinung nach, mehr als Gelfand, Glück, meinetwegen das Glück des Tüchtigen. Sein Haudrauf-Stil brachte ihm diesmal nur einen Sieg gegen Dominguez, ansonsten remis, remis und noch einige Remisen. Vielleicht haben sich die Gegner inzwischen auf seinen Stil eingestellt, witzig dass Leko Topas Qualleopfer antizipierte weil er es bei Gelegenheit selbst mit Weiss versuchen wollte. +3 holte er weil Ivanchuk und Giri sehr remisliche Endspiele vergeigten. Damit war für Topa auch insgesamt +1=10 drin, das Ergebnis des bösen Peter Leko (s.u.). Um kurz in die hintere Hälfte der Tabelle zu springen: Ivanchuk hatte ein für seine Verhältnisse mässiges aber nicht untypisches Turnier, gewonnen hat er nur gegen Nakamura (zu dem komme ich noch). Giri hatte acht akzeptable Remisen und drei relativ grausame Verluste gegen Mamedscharow, Nakamura und Topalov, jede Partie auf ihre Weise grausam.

Mamedscharow spielte, wie wir ihn kennen, Haudrauf-Schach. Gegen Giri klappte es wunderbar (lag aber auch an Giri), gegen Adams hätte es durchaus nach hinten losgehen können. Nur der Sieg gegen Dominguez war Endspieltechnik mit Läufer- gegen Springerpaar, aber auch in der Partie hatte er früh randaliert (10.g4, 17.Ke2 - Rochade ist für Weicheier?). Verloren hat er nur, auch recht spektakulär, gegen Grischuk.

Damit habe ich Grischuks Siege bereits erwähnt - er konnte zwei von drei Siegern besiegen, aber das wars auch schon. Versucht hat er es durchaus und die eine oder andere Chance vergeben (gegen Wang Hao und Kasimdzhanov, vielleicht auch gegen Dominguez). Dafür liess Leko ihn entwischen (der Sizilianer von Grisch war etwas zu kreativ?). Dann waren da noch korrekte und spannende Remisen gegen Topalov und Ivanchuk, und am Ende hatte er vielleicht Pech dass Nakamura ausgerechnet gegen ihn nicht verlieren wollte. Beschwert hat er sich aber hinterher nur - aus seiner Sicht verständlich - über Giris unglaubliche Niederlage gegen Topalov ("unbelievable").

Damit ging - wie in Kommentaren auf Chessvibes betont - Platz 1-4 an die teilnehmenden Teilnehmer der letzten Kandidatenmatches. Gelfand und Grischuk sind demnächst in London(!) wieder dabei. Mamedscharow nicht, denn diesmal braucht Radjabov eine wildcard. Topalov auch nicht da Bulgarien das Kandidatenturnier nicht organisieren darf - ausser vielleicht wenn Danailov sich vor Gericht durchsetzt?

Dann noch, wie versprochen, Nakamura. Ebenfalls auf Chessvibes wurde viel spekuliert was bei ihm nicht stimmte: ist er krank, verliebt, ... ??? Ich hatte es dort schon erwähnt: er ist eben genau wie Ivanchuk, Shirov und Morozevich - manchmal top, manchmal flop. Diesmal hat er doch nur seine Form aus einigen Superturnieren anno 2011 bestätigt (Dortmund, Tal Memorial).  Wenn man sich z.B. Ivanchuks Ergebnisse der ersten GP-Serie anschaut: einmal hatte er gewonnen, einmal holte er 50%, zweimal weniger (5.5/13). Daneben hat er für Super-GM Verhältnisse gewisse Schwächen in Endspielen, zumindest in strategischen oder theoretischen - siehe die Niederlagen gegen Gelfand und Ivanchuk und der verpasste Sieg gegen Leko. Wenn es taktisch wird ist er da - siehe Kasimdzhanov und Giri. Vielleicht sollte er doch mal ein Schachbuch lesen oder mit einem guten Trainer arbeiten - das Experiment mit Kasparov ist ja recht grandios gescheitert, was wohl an beiden lag.

Auch wie versprochen: warum habe ich mit Gelfand angefangen? Ich sympathisiere generell, ein bisschen auch aus Prinzip mit Spielern denen sonst in Schachforen eher Abneigung bis Hass zuteil wird. Gelfand gehört erst seit kurzem dazu - vor Kazan wurde er eher ignoriert, aber dann war er so frech das Ding zu gewinnen. Dass er sich gegen Anand sehr wacker geschlagen hat nannte man tendenziell Misserfolg bis Schande für Vishy und nicht etwa einen (am Ende nur Achtungs-) Erfolg für Gelfand. Nach dem London Grand Prix äusserte sich Gelfand im Video-Interview mit Daniel King :  "I want to listen some comments from the public who say I cannot play tournaments or things like this, only in second-hand events like world championships he is doing well. Players including the greatest made such comments, maybe again the formula of the tournament was wrong ...". Schon länger gehört Leko dazu. Diesmal spielte er wieder viel remis, aber nicht unbedingt weil er keine Ambitionen oder Ideen hatte - aber warum soll man sich die Partien anschauen wenn das Ergebnis reicht um Vorurteile zu bestätigen? Auch Kramnik nennen manche immer noch Drawnik - die haben wohl entweder die letzten Jahre komplett verschlafen, oder sie können/wollen nicht glauben oder verkraften dass manches (früher mal nicht ganz unberechtigte) Vorurteil von der Realität überholt wurde.
Nakamura und Topalov sind für mich eine andere Kiste. Die haben auch ihre "Feinde", aber sie müssen nicht nur einstecken sondern können auch selbst austeilen, polarisieren und provozieren und polemisieren. Wie man in den Wald ruft so schallt es mitunter zurück?

P.S.: Das Foto von Gelfand stammt aus 2006 - ich konnte kein neueres frei verwendbares finden aber rein äusserlich hat er sich nicht gross verändert. Damals war er in den top10, danach nochmal 2009/2010, schafft er das nochmal?

Der Turniersaal
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Donnerstag, 26 Januar 2012 00:47

Vor Ort in Wijk aan Zee

Man kann das Tata Steel Chess Turnier natürlich prima im Internet verfolgen, aber ein Besuch vor Ort lohnt sich durchaus – ich mache es jedenfalls alle Jahre wieder. Dieser Bericht geht vor allem über die 9. Runde am Dienstag 24.1., wobei aber auch frühere Erfahrungen ein bisschen mit einfliessen. Beide Fotos © Fred Lucas.

In Wijk aan Zee gibt es zwei Schauplätze: Dorfhaus de Moriaan steht für einige Wochen ganz im Zeichen des Schachs – ein paar hundert Amateure spielen im Saal und in einigen Nebenräumen, die Grossmeisterturniere ABC sind abgetrennt auf der Bühne (auf dem Foto ganz hinten hinter den Monitoren). Zweiter Schauplatz ist das Kommentarzelt das jedes Jahr ein paar hundert Meter entfernt auf einer Wiese mitten im Dorf aufgebaut wird – der Rest dieser Grünfläche ist teilweise Parkplatz, nebendran laufen Pferde herum, die sind aber etwas grösser und bewegen sich anders als die Schachfiguren!

Zuerst zum Turniersaal: die Bühne betreten zunächst, so 15-20 Minuten vor Rundenbeginn, diverse Fotografen. Erkannt habe ich Hausfotograf Fred Lucas und den Tschechen Pavel Matocha mit seinem Hahnenkamm; später traf ich noch Chessvibes-Chef Peter Doggers. Dann nach und nach die Spieler. Als erster kam Topalov – was er einem anderen Pavel, Hauptschiedsrichter Votruba, erzählte weiss ich nicht denn sie unterhielten sich in irgendeiner slawischen Sprache. Dabei "bewachte" er den Eingang zur Bühne – schade dass ich keine eigene Kamera hatte denn "Türsteher Topalov" wäre ein nettes Motiv gewesen. Traditionell konzentriere ich mich aber auf die C-Gruppe: da ist die Menschentraube kleiner, die Spieler kommen tendenziell früher und die Atmosphäre ist lockerer. Zwei Damen waren besonders gut gelaunt: worüber sie sich sehr angeregt unterhielten kann ich auch nur vermuten obwohl sie Englisch sprachen. Sachdev und Pähtz vor der RundeHinterher sah ich dass Elisabeth Pähtz im Video-Interview auf der Turnierseite lachend verriet was sie einen Tag davor am Ruhetag tat: shopping in Amsterdam mit Tania Sachdev. Es dauerte ein zwei Minuten bis Fotografen dazu kamen – Fred Lucas hat mir sein Foto (genommen aus <1m Entfernung) dankenswerterweise geschickt schon bevor es hier veröffentlicht wurde. Im Hintergrund Elina Danielian, Gegnerin von Pähtz die sich bereits voll auf die Partie konzentriert, die Stellung ist ja auch durchaus kompliziert. Der Gong zum Start der Runde kam aber erst fünf Minuten später.

Dann habe ich noch die Eröffnungsphase verfolgt, Zustimmung eingeholt um Fotos für diesen Bericht zu verwenden (dieses Jahr neu für mich), und eine Stunde später beginnt der Kommentar. Da harmonierten Smeets und Stellwagen auch prächtig, wobei der holländische Jan (nicht Timman, der spielt ja im B-Turnier) die besseren Sprüche hatte u.a. als Sekundant von Topalov:
"Topalov spielt die Eröffnung immer schnell – mal ist es Vorbereitung, mal ist es Bluff, das weiss der Gegner ja nicht."
[Zur Eröffnung bei Carlsen-Karjakin:] "Das musste ich auch mal analysieren, aber erst einige Züge später. Oft bin ich Experte in Stellungen ohne zu wissen wie sie zustande kommen." (denn der Chef kennt die ersten 10-15 Züge auswendig, sein Assistent aber offenbar nicht)

Aus dem Publikum kam die (logische) Frage warum sie nicht selber spielen. Beide hatten eine Einladung für die B-Gruppe, worauf Smeets aber nach dreimal A-Turnier keine soooo grosse Lust hatte. Ausserdem will er so langsam sein Studium abschliessen, und Stellwagen ist inzwischen berufstätig.

Irgendwann ging ich zurück in den Turniersaal. Besonders faszinierend ist dass mehrere Spieler immer in Gedanken versunken auf der Bühne rumlaufen ohne miteinander zu kollidieren. Oft legt Gelfand mit die meisten Meter zurück, diesmal aber nicht denn seine Partie wurde schnell Remis. Das Resultat war nicht überraschend, schliesslich spielte er gegen van Wely und der kann dieses Jahr weder gewinnen noch verlieren. Der ultime Beweis einen Tag danach: King Loek akzeptierte remis genau als er plötzlich forciert gewinnen konnte! Absicht war es sicher nicht, und er hatte nur noch wenige Sekunden für seinen 40. Zug. Und van Welys eigentliche Rolle übernimmt dieses Jahr Karjakin.

Ein anderes Foto das nicht geschossen wurde hat den Titel "Aronian überholt Carlsen". Beide liefen parallel zueinander, Carlsen vor, Aronian hinter den Brettern der A-Gruppe, und der Armenier war viel schneller unterwegs. Das passierte am selben Tag ja auch im Turnier. Wenn Carlsen nicht spazieren geht hat er übrigens auch seine ganz eigene Sitzhaltung am Brett – ich kann es nicht beschreiben, auch in der Hinsicht ist er einmalig.

So das war's. Was hinterher passiert (Analyse, Kommentare der Spieler, Pressekonferenz) erfahren zunächst nur etablierte Journalisten mit Zugang zum abgeschlossenen Pressebereich; darüber steht inzwischen einiges anderswo im weltweiten Web. Zwar liefen zunächst Pähtz und dann Topalov direkt an mir vorbei, aber ich wollte sie nicht ansprechen bzw. stören. Und sowohl "worüber hast Du/haben Sie denn mit Tania Sachdev gequatscht?" (oder etwa auf Englisch um die Sache mit der Anrede zu vermeiden??) als auch "What was it today, bluff or preparation?" wäre überfrech gewesen – bei Topalov vermute ich in seiner Partie gegen Nakamura letzteres.

Unser Spieler des Jahres
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Donnerstag, 13 Januar 2011 03:31

Unser Spieler des Jahres

Nachdem Stefan Löffler zwischen den Jahren seine „Spieler des Jahres“ vorstellte, führte SCHACHWELT eine Kurzumfrage zu diesem Thema durch. Dabei erhoben wir keineswegs einen repräsentativen Anspruch. Und doch lieferten die rund 100 Stimmen einige interessante Erkenntnisse.

Hier das Ergebnis:
Klare Nummer 1 unserer Leser, wie sollte es nach dem Medienrummel auch anders sein, ist Magnus Carlsen. Fast jeden Vierten konnte der junge Norweger begeistern.

Auf Platz 2 finden wir den amtierenden Weltmeister Viswanathan Anand (16%). Der ruhig und zurückhaltend wirkende Inder verteidigte im Mai seinen Weltmeistertitel (SW war live dabei). Seinem Gegner, Wesselin Topalow (5%), bekannt für ein gewisses Hau-Ruck-Schach, haftet wohl noch immer die Toilettenaffäre des Jahres 2006 und die damit verbundene negative Presse in Deutschland (siehe Chessbase.de) an.

Aus deutscher Sicht sehr erfreulich der dritte Platz** Georg Meiers (14%), dem (ehemaligen?) zweiten Brett der Nationalmannschaft, der eine klare Position gegenüber dem Schachbund vertritt und breite Rückendeckung in der Schachbevölkerung erhält.
Ganz anders dagegen Arkadij Naiditsch (1%) - anscheinend hat sich Deutschlands Nummer 1 mit seinem offenen Brief zur unangenehmen Honorardiskussion die letzten Sympathien verscherzt. Ebenfalls nur eine Stimme bekam, für mich etwas überraschend, Wladimir Kramnik – ruhige Typen verschwinden anscheinend schnell aus dem Fokus der Medien.
Ansonsten finden wir diverse russische Namen in einem breiten Feld unter ferner liefen. Jungstar Anish Giri hatte ebenso wenig zu melden wie Stefan Löfflers Favorit Jan Nepomnjaschtschi, Neppi. Für mich ein Indiz, dass die breite Masse der Schachspieler nur an der absoluten (auch deutschen)  Spitze interessiert ist.

**Bedauerlicherweise müssen wir Georg Meier 10 Stimmen abziehen: Die Umfrage wurde durch denselben User manipuliert, der kontinuierlich unsere Blogbeiträge abwertet. Vielleicht hat ein Leser eine Idee, wie man sich solcher Personen erwehren kann. Zuschriften an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! erwünscht.
Magnus Carlsen
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 „Schach ist einfach – wenn man kann“ so oder ähnlich ließ es Vlastimil Hort seine zahlreiche Fangemeinde wissen. Auch beim Weltranglistenersten Magnus Carlsen wunderte mich, wie er seine illustren Gegner zuweilen alt aussehen lässt. Und dabei legt er die Partie gern harmlos an, als wolle er seine Widersacher in Sicherheit wiegen. Die Hauptaussage meines Artikels, den ich eigentlich schon gestern beenden wollte, ist nun etwas konterkariert worden durch den Ausgang der gestrigen 1. Runde in London: da ist Carlsen tatsächlich auf ähnlich glatte Weise vorgeführt worden von Luke McShane, und zwar ebenso mit einer völlig anspruchslosen symmetrischen Englischen Eröffnung – passend zum Ort des Turnieres!
Nichtsdestotrotz rechne ich damit, dass sich Carlsen im Turnier noch berappeln und ein paar Siege einfahren wird. Ich will trotzdem versuchen, Ihnen was vielleicht Charakteristisches des jungen Norwegers aus seinem letzten Turnier im fernen China aufzuzeigen:
 

Carlsen,M (2825) - Bacrot,E (2715) Schottisch [C45]

3rd Pearl Spring (1), 2010

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.d4 exd4 4.Sxd4 Lc5 5.Sb3 Die erste Überraschung. Zwar hat Carlsen schon öfters Schottisch hervorgeholt, aber dann mit 5.Le3. Fast immer auf Superniveau sieht man entweder das komplexere 5.Le3 Df6 6.c3 oder die Holzhackervariante 5.Sxc6 Df6 6.Dd2 bzw. 6.Df3, um schnellstmöglich die Damen vom Brett zu bekommen und auf leichte strukturelle Endspielvorteile zu hoffen. Der Partiezug gilt als wenig ambitioniert. 5...Lb6 6.Sc3 Sf6 Schwarz muss die Fesselung durch Lg5 nicht zulassen, er kann auch erst 6...d6 ziehen und auf das ruhige 7.Le2 warten, womit Weiß im Prinzip zu erkennen gibt, dass er die kurze Rochade anpeilt. 7.De2!?

 Aber hallo! Dass Weiß so einen hässlichen Zug wählen kann verblüffte mich – ich mutmaßte, dass es sich um eine Neuerung handeln würde. Doch dem war nicht so. Ganze 25 Partien wurden zuvor schon mit diesem Zug gespielt! Aber genauer betrachtet ist das nicht so viel, denn Lg5, der Hauptzug, kam schon rund 6xhäufiger vor und alle möglichen anderen Züge wurden auch noch gespielt, also es ist nicht unbedingt ein zu erwartender Zug. Viel interessanter ist die Strategie dahinter! Weiß strebt offenkundig die lange Rochade an – und dann droht dem schwarzen König, falls er kurz rochieren sollte, ein Bauernstrum auf dem Königsflügel. Weiß will mattsetzen - dieser Plan ist somit ebenso riskant wie einfach! Übrigens fällt mir dabei eine alte Geschichte ein. Als ich noch Jugendlicher war spielte mein Mannschaftskollege in einer etwas anderen, aber doch in mancher Hinsicht ganz ähnlichen Situation auch De2. Dabei sah die Alternative Dd2 viel vernünftiger aus, zumal schon ein Läufer auf e3 stand. Auf meine Anfrage, warum er diesen skurril aussehenden Zug gespielt habe, antwortete er zuversichtlich: „das steht in meinem Theoriebuch!“ Hinterher stellte sich heraus, dass es sich um einen Druckfehler handelte.  
7...0–0!? Nimmt die Herausforderung an, sicherer erscheint schon 7...d6 nebst …Le6, was die lange Rochade  noch offen lässt.
8.Lg5! h6 9.Lh4!

Erst das war wohl die Neuerung. Aber die versteht sich von selbst! Die Fesselung ist recht unangenehm für Schwarz, nachdem er rochiert hat und sein Schwarzfelder auf b6 vor der Verteidigung platziert ist. Manchmal muss man einfach simpel spielen und Carlsen scheint es gegeben zu sein, solche Linien auf dem Brett oder zuhause in weniger erforschten Stellungen zu finden. Der Rest jedenfalls ist schnell erzählt, Carlsen gewann die Partie im Sturmangriff: 
a5 10.a4 Sd4 11.Dd3 Sxb3 12.cxb3 Te8 13.0–0–0 d6 14.Dc2 Ld7 15.Lc4 Le6 16.The1 De7 17.e5 dxe5 18.Txe5 Df8 19.Lxf6 gxf6 20.Te2 Dg7 21.Lxe6 Txe6 22.Txe6 fxe6 23.Td3 Kh8 24.Tg3 Dh7 25.Dd2 Lc5 26.Se4 Le7 27.Th3 Kg7 28.Dd7 Kf7 29.Sg5+ fxg5 30.Tf3+ Kg8 31.Dxe6+ Kh8 32.Tf7 Ld6 33.Txh7+ Kxh7 34.Df7+ Kh8 35.g3 Ta6 36.Kb1 Lb4 37.f4 gxf4 38.gxf4 1–0

Am Bildschirm nachspielen:


carlsendo2fj
Magnus Carlsen                                                                     Foto: Jarchov

Beeindruckend fand ich auch, wie er ein paar Runden später den früheren Weltmeister Topalov, der anscheinend meilenweit von seiner früheren Form entfernt ist, mit einer praktischen Eröffnungswahl überspielte:

Carlsen,M (2825) - Topalov,V (2800) [C84]

3rd Pearl Spring (5), 2010
 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.d3(!)

Geht den forcierten Möglichkeiten, die nach 6.Te1 b5 7.Lb3 0-0 aus dem Wege, wie dem Marshall-Gambit nach 8.c3 d5. Früher, beim Blitzen, galt so was wie 6.d3 als „Patzerzug“. Wer so spielte gab zu erkennen, dass er von Theorie keine Ahnung hat. Ich wunderte mich trotzdem jedes Mal, wenn ich gegen so eine „Type“  mit Schwarz blitzte, wie schwer ich mich trotzdem tat. Jedenfalls ist es so, dass Weiß gar nicht erst versucht, einen Vorteil aus der Eröffnung nachzuweisen. Es reicht ihm völlig, eine ordentliche Stellung zu haben, die eher dem Weißen Aussichten einräumt, später doch noch die Initiative zu ergreifen. Nach ein paar indifferenten Zügen von Toppi schnappt sich Carlsen später das Läuferpaar und eröffnet mit f2-f4 den Kampf um Zentrum und Initiative.
b5 7.Lb3 d6 8.a4 Tb8 9.axb5 axb5 10.Sbd2 0–0 11.Te1 Ld7 12.c3 Ta8 13.Txa8 Dxa8 14.d4 h6 15.Sf1 Te8 16.Sg3 Dc8 17.Sh4 Lf8 18.Sg6 Sa5 19.Sxf8 Txf8 20.Lc2 Te8 21.f4 Lg4 22.Dd3 exf4 23.Lxf4 Sc4 24.Lc1 c5 25.Tf1 cxd4 26.cxd4 Dd8 27.h3 Le6 28.b3 Da5 29.Kh2 Sh7 30.e5 g6 31.d5 Sxe5 32.dxe6 1–0 
Alles wirkt kraftvoll, aber ebenso einfach wie verständlich. 

Am Bildschirm nachspielen: