Anmerkungen zum Pattsieg
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Donnerstag, 03 Oktober 2013 16:30

Anmerkungen zum Pattsieg

In der Zeitschrift "Schach" ist zuletzt eine dreiteilige Artikelserie von Arno Nickel erschienen, mit dem Titel "Die Unbesiegbaren - Dem Fernschach droht der Remistod" (Ausgaben 7, 8 und 10/2013). Mein Kollege Uwe Bekemann hatte schon nach Erscheinen des ersten Teils hier im Blog kritisch Stellung bezogen. Inzwischen ist bekannt, welche Lösung Herrn Nickel zur Bekämpfung des im Titel beschriebenen Problems vorschwebt. Sein Vorschlag würde zu einer starken Beeinflussung meines Spezialgebiets, des Endspiels, führen, so dass ich mich berufen fühle, Position zu beziehen.

Vielleicht kennen nicht alle "Schachwelt"-Leser die besagte Artikelserie, aber ihr Inhalt lässt sich relativ leicht zusammenfassen: Vor allem in den Spitzenturnieren des Fernschachs lässt sich eine tendenziell immer höhere Remisquote feststellen, Größenordnung 80-90 Prozent. Hierdurch verlieren die Wettkämpfe nach Nickels Ansicht erheblich an Reiz. Als Ursache sieht er den immer stärkeren Einfluss des Computers, mit dessen Hilfe alle Gefahren schon weit im Voraus erkannt und bekämpft werden können. Sein Vorschlag sieht nun wie folgt aus: Das Patt soll nicht mehr als Remis gewertet werden, sondern mit dem Ergebnis von ¾:¼ zugunsten des Pattsetzenden ("Pattsieg"). Dies habe bereits Lasker empfohlen. Die Wertung des Patts als Remis sei unlogisch und ungerecht, weil eine Seite sich ein Übergewicht (materiell oder positionell) erarbeitet habe und trotzdem mit nicht mehr als einem halben Punkt belohnt werde. Die Änderung führe außerdem zu einer erhöhten Komplexität vor allem des Endspiels und der Einfluss der Schachprogramme werde durch die Umstellung ausgebremst.

An diesem Vorschlag erstaunt mich zunächst vor allem eines: Das Ausgangsproblem war das Fernschach, und dort eigentlich auch nur das Spitzenniveau. Die Lösung ist aber keineswegs Fernschach-spezifisch, sondern es sollen die allgemeinen Schachregeln geändert werden. Die Konsequenz dieser Gedankenführung leuchtet mir überhaupt nicht ein. Dem allergrößten Teil der weltweit aktiven Schachspieler dürfte es herzlich egal sein, ob in einzelnen Fernschachturnieren die Remisquote etwas höher oder niedriger ist (Nickel wäre schon mit einer Veränderung von 5-10 Prozent zufrieden!). In diesem Zusammenhang sollte man sich vor Augen halten, dass Arno Nickel selbst zur Fernschach-Weltspitze gehört, die geschilderten Probleme also ihn persönlich betreffen. Schade für ihn, aber muss man deswegen die ganze Schachwelt auf den Kopf stellen? Ich spiele selber auch Fernschach und habe daher eine gewisse Grundsympathie für die sicherlich gut gemeinten Rettungsbemühungen, aber meiner Meinung nach wird das Problem maßlos übertrieben. Es ist richtig, dass Fernschach in seiner hergebrachten Form nach und nach an Bedeutung verlieren wird, aber das ist kein Grund zur Verzweiflung. Anstatt über den nahenden Tod des Fernschachs zu lamentieren, könnte man sich auch darüber freuen, dass es aktuell trotz aller Unkenrufe immer noch einigermaßen am Leben ist. In Zukunft wird man sich eben in andere Richtungen orientieren müssen, z.B. wurden mit enginefreien Turnieren gute Erfahrungen gemacht und es gab meines Wissens kaum Betrugsfälle. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweise ich noch einmal auf den Beitrag von Uwe Bekemann, der bereits einige Wege aufgezeigt hat.

Schon Michael Negele hat in "Schach" 8/2011 verschiedene Regeländerungen vorgeschlagen, u.a. ebenfalls den Pattsieg. Dieser laut Nickel "hochinteressante Aufsatz" hat mich damals vorne und hinten nicht überzeugt und die "Schach"-Leser haben "in seltener Einigkeit" (so die Zusammenfassung der Redaktion) allen Reformgedanken eine Absage erteilt. Umso unverständlicher, dass die Redaktion nun erneut viele Seiten zur Verfügung stellt, um einen der abgelehnten Reformvorschläge einfach noch einmal vorbringen zu lassen. Wie es ein Leser bereits schön formuliert hat, sind die geltenden Schachregeln "der Heilige Gral des Spiels". Dem kann ich nur beipflichten. Was Lasker vor rund 100 Jahren, also in der Anfangsphase des sportähnlichen Wettkampfschachs, vorgeschlagen hat, spielt heute keine Rolle mehr. Inzwischen wurde mit den uns bekannten Regeln Schachgeschichte geschrieben, Weltmeister wurden gekrönt, zahllose Bücher verfasst usw. Dies kann man nicht einfach über den Haufen werfen, schon gar nicht aus vergleichsweise nichtigem Anlass. Eine Änderung der Schachregeln im engeren Sinne ist ultima ratio, auf deutsch: alleräußerstes Mittel. Eine Notwendigkeit hierfür kann ich noch lange nicht erkennen.

Die praktischen Implikationen der Regeländerung scheinen mir zudem schlecht durchdacht. Nickel tröstet uns damit, dass "die Eröffnungsliteratur durch den Pattsieg (...) nicht komplett neu geschrieben werden müsste". Nun gut, das versteht sich von selbst. Viel schwerwiegender wären natürlich die Auswirkungen auf die Endspieltheorie, die von Nickel nur oberflächlich beleuchtet werden. Auch wenn er ein wenig abzuwiegeln versucht, dürfte es doch eindeutig sein: Jedes Endspielbuch wäre reif für die Tonne. Wenn schon die Einschätzungen von Bauernendspielen nicht mehr stimmen, kann man auch den Rest vergessen. Halten wir uns zur Verdeutlichung ein paar Elementarendspiele vor Augen: K+B gg. K ist mit der neuen Regel immer mindestens "pattgewonnen", auch mit einem Randbauern. K+L gg. K und K+S gg. K soll hingegen laut Nickel weiterhin remis sein, "denn es kann im Leben ja nicht immer gerecht zugehen". Ah ja. Hatte er nicht zuvor noch mit dem Argument der Gerechtigkeit gearbeitet? Endspiele mit Figur+Bauer gegen Figur werden für den Verteidiger zumindest schwieriger. Oft wird die stärkere Seite krampfhaft versuchen, das Figurenpaar abzutauschen (selbst wenn das Bauernendspiel nach gewohnten Maßstäben remis wäre), was dem Endspiel einen recht eigenartigen Charakter verleihen dürfte. Viele tausendfache geübte und tief verinnerlichte Mechanismen würden nicht mehr greifen. Unklar ist mir auch, was passiert, wenn das Patt nicht mehr vermeidbar erscheint: Gibt es dann eine "Pattaufgabe", die der Gegner auch ablehnen kann, um auf den ganzen Punkt zu spielen? Oder ein "Pattangebot"?

Überhaupt stellen sich in Bezug auf das Regelwerk diverse Fragen. Wie geht man denn z.B. mit Zeitüberschreitungen um? Immerhin kann man ja auch mit dem blanken König pattsetzen, siehe Diagramm ganz oben! Dies würde seltsame Blüten treiben: K+D gg. K wäre im Fall einer ZÜ der stärkeren Seite wie gewohnt remis, K+D+Randbauer gg. K hingegen "verloren", denn der Gegner könnte ja theoretisch mit einer Serie regelkonformer Züge noch pattsetzen. Es lassen sich zahlreiche weitere Varianten vorstellen, in denen es immer wieder fatal wäre, einen Randbauern zu besitzen. Absurd, oder?

Es ist einzuräumen, dass das Patt ein gewisses Paradoxon darstellt, aber macht nicht gerade das Paradoxe einen großen Teils des Reizes des Schachspiels aus, z.B. wenn eine materiell klar unterlegene Partei sich auf überraschende Weise ins Remis rettet? Wie viele zauberhafte Studien beruhen auf solchen Motiven? Und dass Materialvorteile wie zwei Springer oder falscher Läufer+Randbauer gegen den nackten König nicht gewinnen, mag zwar intuitiv etwas unbefriedigend erscheinen, aber man weiß es ja im Voraus und muss eben sein Spiel entsprechend einstellen. Auch darin sehe ich kein durchschlagendes Argument. Ich sehe eher die Gefahr, dass nach der Regeländerung sich kaum noch jemand trauen würde, Material zu opfern, weil das Materialverhältnis gegenüber anderen Faktoren an Gewicht gewinnen würde. Wollen wir das wirklich?

Ganz abgesehen davon habe ich auch erhebliche Zweifel, ob sich mit Einführung des Pattsieges überhaupt ein nennenswerter Effekt ergeben würde. Zur Einnerung: Es geht eigentlich um die Remisquote im Spitzenfernschach! Natürlich wären Engines und Tablebases erst einmal "verwirrt", aber na und? Nach kurzer Zeit gäbe es sicherlich neue Engines und neue Tablebases und man wäre wieder am selben Punkt angelangt wie vorher. Und die vielen anderen Remisgründe, die mit der Pattmöglichkeit nichts zu tun haben, blieben sowieso unangetastet.

Fazit: Finger weg vom Regelwerk!

Die nächste Ausgabe gilt ab Juli 2013
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Donnerstag, 06 September 2012 08:56

Augenmaß kriegt wieder eine Chance

Die unsägliche Gängelung von uns Schachspielern durch übertriebene Sanktionen und machtgeile Schiris wird möglicherweise dieser Tage in Istanbul eine Spur zurückgedreht. Dies im Zuge der alle vier Jahre möglichen Reform der Laws of Chess. Diesem Positionspapier aus der Schiedsrichterkommission des DSB zufolge wird der FIDE-Kongress wahrscheinlich beschließen, dass Nullkarenz nicht automatisch gilt, wenn es in der Ausschreibung vergessen wurde, und dass ein Mobiltelefongeräusch nicht mehr zum Partieverlust führt, wenn die Ausschreibung eine andere Sanktion vorsieht. Das Abstrafen von Vergesslichkeit hat schon mehr als genug Frust hervorgerufen. Gelten würden die Regeln, die ein wichtiges Stück Augenmaß zurückbringen, ab 1. Juli 2013. Ich könnte mir fast vorstellen, dann mal wieder ein konservatives Schachturnier zu organisieren. Erstmal aber am 30. September am Adria in Wien etwas auf der innovativen Seite, nämlich ein "baskisches Turnier" (zwei Partien gleichzeitig gegen den gleichen Gegner).