Auch in Bremer Kneipen gilt die strenge Regel: Kein Remis für niemanden
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Dienstag, 03 Mai 2011 02:08

Bringt mir die Taube auf dem Dach!

Auch für Schachspieler lauern die Gefahren überall: die Gegner machen Druck, voran jagt die Uhr zur Zeitkontrolle, der Kaffee ist alle, und die genaue Eröffnungstheorie fällt einem am Brett manchmal irgendwie auch nicht mehr ganz ein.
Doch während beispielsweise Fußballspieler, Golfer und Langläuferinnen ihren Wettkampf trotz aller Widrigkeiten bis zum Ende durchhalten müssen, können Schachspieler behende die Reißleine ziehen und dem Drama und dem Druck früh ein Ende machen. Ein Remisangebot genügt oft schon, und nach einem Nicken des Gegners ist zumindest ein halber Punkt und auch die Seelenruhe vorerst gesichert.

(Nur am Rande: über die Freude an der Wiederentdeckung des schönen, aber bedrohten "behende" berichtet eine Leserin in der neuen ZEIT. Auch wir freuen uns und wollen den Gebrauch des Wortes gerne unterstützen.)

Was aber mit einem knapp ausformulierten "Remis!?" so einfach angeboten ist, birgt auch einige finstere Fallstricke. Man sehe nur:

Situation 1: Zwo zu zwo steht´s im Mannschaftskampf. Noch läuft unsere Partie, doch mögen wir die Stellung nicht – schon wieder so etwas Königsindisches! Wir könnten zwar noch weiterkämpfen, bieten dann aber doch im 19.Zug Remis an. Unser Gegner akzeptiert, doch unsere Mannschaft verliert leider nach weiteren 3 Stunden. Hätte wäre könnte.

Situation 2: Wir sitzen beim Open dem gefürchteten bulgarischen GM und Mädchen-Schachtrainer gegenüber, haben aber die Stellung erstaunlicherweise gut im Griff. Schon merken wir, dass er sich Sorgen macht und unwohl fühlt. Mit dem nächsten Zug bietet er Remis an. Annehmen? Oder weiterspielen und eine Null riskieren? Wir nehmen an – und unser Gegner zeigt uns ein Abspiel, dass uns sofort auf plusdreieinhalb bei Fritz hochgeschossen hätte.

Situation 3: Heijeijei, da ist was schiefgelaufen in unserer Partieanlage. Im Vereinsturnier haben wir zwar 200 DWZ-Punkte mehr als unsere Gegnerin, dafür aber drei Bauern weniger bei verhaltenen Schummelchancen. Jetzt noch schnell Remis anbieten, auch wenn es etwas peinlich ist? Na gut, wir schämen uns ein bisschen und schlagen ein Unentschieden vor – was die nette Gegnerin auch annimmt! (Zum Glück scheint es manchmal doch so etwas wie einen FM-Bonus zu geben. Ich unterstütze das sehr.) Bei der anschließenden Analyse stellt sich aber heraus, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit noch in eine dumpfe Falle hineingelaufen wäre. -

Wir merken es schon – problematisch ist oft nicht nur die konkrete Stellung auf dem Brett, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Ebenso sinnenverwirrend ist der Kampf gegen uns selbst – der Wunsch, die Partie zu spielen und zu gewinnen, im Konflikt mit der Angst vor einer Niederlage. (Jonathan Rowson beschreibt das sehr schön in den „Seven Deadly Chess Sins“.)
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Expedia.de: Reisen billig buchen! Bei einem Vereinsturnier wurde ich einmal Zeuge eines hübschen Dialoges zum Thema „zu frühes Remisangebot“:

Spieler 1: „Warum hast Du ihm eigentlich Remis angeboten?“ 

Spieler 2: „Eigentlich wollte ich ja noch spielen. Aber ich konnte doch nicht wissen, dass er es annehmen würde!“

Spieler 1: "Tja ..."

Ich habe immer die Spieler bewundert, die durch einige Remisen (aber nicht durch eilige Remisen) das Drama einer Niederlage für sich abwenden konnten und so den Tag im genügsamen Gleichgewicht verbrachten. Wie im Sprichwort ziehen sie den Spatz in der Hand der Taube auf dem Dach vor.


Andererseits fehlt den häufig Remisspielenden vielleicht auch die Aufregung einer gewonnenen Partie, die sie behende nach Hause fahren und die nächsten Tage in leichter Euphorie überstehen lässt. Gewonnene Partien sind eine große Sache.

Unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten lässt sich ergänzen, dass das Schachspielen deutlich teurer wird, wenn man viele Remispartien spielt. Durch frühe Remisübereinkünfte spielt man sehr viel weniger Schach, und das treibt die Kosten für die einzelnen Züge in die Höhe. Worte der Warnung müssen hier gesprochen werden! Man sehe: bei einem siebenrundigen Open (Startgeld 40 €) machen wir durchschnittlich circa 7 x 33 = 231 Züge. Ein Zug kostet uns demnach 0,17 €. Wenn wir unsere Partien durch behendes Remisanbieten auf durchschnittlich 25 Züge verkürzen, kostet uns ein Zug dann schon 0,23 € - das sind in etwa 33% mehr als wenn wir kein Remis anbieten und längere Partien spielen! Remisspieler zahlen also nicht unbedingt einen hohen, so doch immerhin einen höheren Preis.
Außerdem – was macht man mit der ganzen Zeit, die man früher fertig ist? Beim Mannschaftskampf muss man herumsitzen, bis die anderen fertig sind (siehe Situation 1) und darauf hoffen, dass es noch irgendwo warmen Kaffee gibt. Viel schlimmer aber ist, dass man ständig damit leben muss, durch ein Remis die wirkliche Geschichte der Partie nicht zu Ende erleben zu können. Wer weiß, was noch alles Schönes, Lustiges, Spannendes passiert wäre? Vielleicht hätten wir sogar gewonnen? Und vielleicht - aber das ist sehr spekulativ - lernt man sogar am meisten aus entschiedenen Partien, gewonnenen oder verlorenen. Auf lange Sicht mag das der ergiebigere Ansatz sein, um seine Spielstärke zu vertiefen. (In der Theorie zumindest. Ich selber habe davon in den letzten Jahren leider nicht mehr viel gemerkt!)

Von ähnlichen Gedankengängen berichtet auch der britische IM Michael Basman in seinem inspirierenden Buch „The New St.George“ (über 1….a6!), nachdem ihm sein Gegner Hennigan auf den Britischen Meisterschaften in unklarer Stellung Remis anbot. Basman spielte weiter – und kassierte eine derbe Niederlage. Bestimmt hat er sein Weiterspielen später bedauert, aber mit der typisch englischen stiff upper lipp sagte er sich, dass er aus dieser Partie eben auch etwas gelernt hat, was er sonst nicht erfahren hätte. Eine sympathische Einstellung, die er dann (sinngemäß) zusammenfasst mit dem Satz: „No draw - we were there to play chess!“

 So schön eine ausgekämpfte Schachpartie aber auch sein mag – wenige Dinge sind aber auch so zerschmetternd wie eine Niederlage. Punkt. Es ist einfach so – das Gejaule ist groß, und wo soll man so schnell einen seelischen Ausgleich herbekommen? Auf einem Open kann man oft schon am nächsten Tag seine Schachwut wieder herauslassen und den Gegner versuchen zu schütteln. Aber selbst dann – der Abend davor ist gefüllt mit Agonie, Chips essen und einem Blick auf die verpassten Chancen! Nicht umsonst empfiehlt die russische Schachschule (die es laut Alexander Yermolinski eigentlich gar nicht gibt), nach zwei Niederlagen in Folge relativ unbedingt ein Remis einzustreuen im Turnier - alleine, um das seelische Gleichgewicht zu bewahren. Doch auch nach einer Niederlage bleibt Trost – es war ja nur eine Schachpartie, die wir verloren haben. Nichts Ernstes also, eigentlich. Dennoch: mit einem Remis in der Tasche hätten wir wohl einen schöneren Abend verbracht. „Hättest Du zweimal genickt, hättest Du jetzt zwei halbe Punkte mehr.“, sagte mir mal jemand, nachdem ich zwei Partien arg überrissen hatte. So einfach wäre das gewesen! Und auch das DWZ-und ELO-System schürt das Unbehagen nach einer Niederlage – schnell sind dann zehn oder mehr Punkte futsch, während ein Remis teilweise nur sanft mit zwei bis drei Punkten Abzug geahndet wird. Auch da ist er wieder, der Charme des Unentschiedens.
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Harley-Davidson ProbefahrtWas ist zu tun? Letztlich gibt es auch bei dieser fundamentalen schachlichen Frage keine goldene Regel. Lohnt es sich, die Geschichte einer Partie durch Weiterspielen genauer zu ergründen? Der Freude am Spiel zu frönen, das ist ja auch schon oft etwas. Wenn man daraus aber Punkte machen will, braucht man gute Nerven. Und ob es sich dafür immer lohnt, eine Niederlage zu riskieren – wer weiß. "Erfreue Dich am Spiel, nicht an der Ratingzahl!" ist daher auch der kluge Rat des geheimnisvollen Krennwurzn aus Österreich. Und diese schwierige Gratwanderung beherrscht beispielsweise Arkadij Naiditsch im Augenblick sehr gut - er spielt und spielt und spielt wie ein Bär auch gegen Gegner mit einer etwas niedrigeren Elo, schaut was sich machen lässt und trägt die Punkte verdient nach Hause.
Ein wenig anders gingen die beiden Weltklassespieler Robert Hübner und der spätere Turniersieger Tony Miles mit dieser Fragestellung um, als sie 1985 in Tilburg behende ihre Züge aufs Brett zauberten. Auch wenn sie das Ergebnis schon vorher vereinbart hatten, ist die Partie dennoch bemerkenswert:

Miles – Hübner

1.d2-d4, e7-e5

2.d4xe5, Dd8-h4 (ein typischer Miles-Zug eigentlich, aber diesmal von seinem Gegner gespielt)

3.Sg1-f3, Dh4-a4 (irgendwie provokant)

4.Sb1-c3, Da4-a5 (Hübner leitet behende in skandinavische Stellungsbilder über)

5.e2-e4 - und nach all den Aufregungen einigte man sich auf Remis. Damit lässt sich leben!miles - hbner1