Festungsbau: Turm gegen Dame

Schwarz am Zug Schwarz am Zug
Schwarz am Zug.

Beim Schachtraining unterscheide ich grob zwischen Vereins- und Turnierspielern, die sich ungefähr bei einer Elo von 2000-2100 Punkten trennen. Die erste Gruppe, stellt 95% der Schachspieler - das Schach nimmt eine geringere Priorität ein. Die anderen 5 % streben nach höheren Weihen in Richtung Erlangung eines Titels. Oft wirft der Schachbuchmarkt alle in einen Topf, doch gelten für beide völlig unterschiedliche Anforderungen, vor allem bei der Auswahl eroffnungstheoretischer Werke, aber auch komplexer Endspielthemen. Allerdings ist es nicht einfach zu entscheiden, welcher Schwierigkeitsgrad, für den Einzelnen angebracht ist. Die meisten Spieler erleiden Schiffbruch bei der Auswahl und stecken zu viel der knappen Trainingszeit in die falschen Bücher.

Grund dieser Ausführungen ist das einleitende Diagramm, das mir beim Ausmisten alter Ausgaben des ChessBase Magazins auffiel. Es erinnerte an eine lang zurückliegende Partie aus dem Jahr 1993 gegen das aufstrebende Nachwuchstalent des russischen Schach, Sergey Tiviakov, der damals bereits deutlich über Elo 2600 lag: Die Partienotation ist leider nicht mehr erhalten und die Stellung dementsprechend nicht ganz rekonstruierbar, hatte aber folgendes Thema:

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Schwarz, der im Mittelspiel die Dame verloren hatte, konnte hier mit 1. - Lxf6 2. Dxf6 Te6 eine Festung aufbauen.

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Der Turm pendelt zwischen e6 und g6.

Alle Bauern, mit Ausnahme der Randbauern, halten auf der siebten Reihe Remis, auf der sechsten sind es nur noch die Springerbauern, da der König durch ein Umgehungsmanöver vom Bauern getrennt wird. Da Tiviakov dies damals nicht bekannt war, strampelte er sich noch eine Weile ab, bevor er notgedrungen die Figur abgab und glücklich zu einem halben Punkt kam. Zur gemeinsamen Analyse gesellte sich später Tony Miles und zeigte uns, dass die Stellung selbst mit zusätzlichem weißen Randbauern Remis ist.

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Zunächst konnte ich das nicht glauben, nimmt der auf h5 auftauchende Bauer dem Turm doch das sichere Feld g6, doch ist h6 ein ebenso guter Ersatz...

Zurück zu dem eingangs erwähnten ChessBase Magazin: Die dortige Endspielrubrik Karsten Müllers war mir deutlich zu schwierig und analytisch geprägt, beinhaltete jedoch die folgende Stellung:

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Schwarz besitzt einen Bauern mehr, verliert aber, weil dem Turm das Feld h6 nicht zugänglich ist. z.B. kommt Schwarz u. a. in der folgenden Stellung in Zugzwang (1. - Kh7 2. Df8) und muss den Turm in eine ungedeckte Position bringen.
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Somit ist die Lösung unseres Startdiagramms leicht zu finden: Mit 1. - h5 entledigt sich Schwarz rechtzeitig des überflüssigen Bauern.

Ich habe hier bewusst auf komplexe Gewinnführungen verzichtet. Für die überwiegende Anzahl der Schachspieler steht die praktische Komponente im Vordergrund. Falls jemals eine solche Situation auf das Brett kommt, muss man sie einschätzen können und dann die Gewinnführung eben am Brett erarbeiten. Auf diese Weise bleibt unnötiger Zugballast erspart, an den man sich Jahre später ohnehin nicht mehr erinnern kann und somit mehr Raum für ein breites Spektrum an Motiven.
Jörg Hickl

Großmeister, Schachtrainer, Schachreisen- und -seminarveranstalter.
Weitere Informationen im Trainingsbereich dieser Website
oder unter Schachreisen

Webseite: www.schachreisen.eu

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