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Endspiele aus Wijk, Teil 1

Man kann Endspiele mögen oder auch nicht, jedenfalls sind sie wichtig, sehr wichtig sogar. Wer dies spätestens nach der absurden Partie Naiditsch - Ernst noch nicht kapiert hat, dem ist nicht zu helfen. Zufällig konnte auch ich es im letzten Mannschaftskampf demonstrieren, als ich ein ausgeglichenes Endspiel noch gewann. Ich erwähne es deshalb, weil ich bei der Analyse in einer Nebenvariante auf ein verblüffendes, recht witziges Motiv stieß, das ich den Schachwelt-Lesern nicht vorenthalten will. Ich präsentiere also hiermit die erste Studie meines Lebens, wenn auch nicht wirklich komponiert, sondern eher zufällig gefunden. Siehe nebenstehendes Diagramm, Weiß zieht und macht remis! Irgendwelche Vorschläge? Aber bitte ohne Engine oder Tablebase!

Die Aktualität gebietet aber, dass wir uns nun höheren Eloregionen zuwenden. Nicht dass das Niveau der Endspielbehandlungen dort generell viel höher wäre. Es ist kaum zu glauben, was man selbst auf Spitzenniveau noch für Stellungen gewinnen kann, wenn man im Endspiel halbwegs fit ist. Magnus Carlsen zeigt es ja am laufenden Band. Andere stellen sich da nicht ganz so geschickt an. Schauen wir einfach mal in ein paar Ausschnitte rein:

 In der Partie Harikrishna - Giri hatte Weiß zwar einen "halben Bauern" mehr, konnte damit aber eigentlich nicht sehr viel anfangen. Ein 2700er sollte so etwas mit Schwarz normalerweise nicht verlieren. Im Interview räumte Harikrishna ein, dass das Endspiel natürlich remis gewesen sei, aber sein junger Gegner habe offenbar gedacht, er könne ziehen, was er wolle. Ach ja, der jugendliche Leichtsinn! Möglicherweise wurde Giri von dem Umstand eingelullt, dass Weiß eigentlich gar nichts droht. Was sollte er denn Tolles ziehen, wenn er dran wäre? Der Turm alleine kann nichts ausrichten, die Bauern sind alle blockiert und wenn der König zum Damenflügel läuft, stellt er den Königsflügel ein. Nun ist aber Schwarz am Zug und muss eigentlich nur einen brauchbaren Abwartezug finden. Auf c4 nehmen will man eher nicht, der Turm bleibt also stehen. Gut, kein Problem, dann eben ein Königszug. So weit war Giri in seinen Überlegungen auch gekommen und er zog nahezu a tempo 45...Kf6?? Nach 46.Ta7! verfiel er sodann in tiefe Schockstarre, da er erkannte, was er angerichtet hatte: Zugzwang! Die einzige Idee, die Weiß noch hatte! Was nun? 46...Ke6 47.Txg7 Txc4 48.Tg6+ kann man vergessen, denn die h-Bauern sind zu schnell. Also muss man entweder doch auf c4 beißen oder, wie in der Partie, zähneknirschend mit 46...g6 den weißen Doppelbauern auflösen. Damit ist die Partie übrigens noch längst nicht verloren, aber Giri war durch seinen Fauxpas wohl schon so aus dem Konzept geraten, dass er in der Folge wenig Gegenwehr leistete. Gehen wir noch einmal zur Diagrammstellung zurück und ziehen diesmal 45...Kf7! Ein Tempoverlust? Ja, aber das ist ja gerade der Witz an der Sache! Nach 46.Ta7+ Kf6 erreichen wir dieselbe Stellung wie gerade eben, aber diesmal ist Weiß im Zugzwang (im Fachjargon spricht man von reziprokem Zugzwang). Jeder legale Zug verschlechtert seine Stellung! Im Endeffekt gibt es nichts Besseres als Remis durch Zugwiederholung.

Das Motiv des Zugzwangs wird im Endspiel immer wieder vergessen. Die Partie Nakamura - Sokolov schoss in dieser Hinsicht den Vogel ab. Schwarz hat eine Qualität mehr, aktive Figuren und jede Menge Angriffsobjekte in Form schwacher Bauern. Was will man mehr? Sokolov war hier aber irgendwie im Blutrausch und zog 47...f4??, was zwar bei richtiger Fortsetzung auch gewinnt, aber vollkommen unnötig ist. Zu meinem Entsetzen bedachte Karsten Müller auf Chessbase diesen Schnapszug sogar mit einem Ausrufezeichen. Nein, Herr Müller, auch wenn es an Blasphemie grenzt, hier muss ich widersprechen. Immerhin habe ich Houdini mit einer Bewertung von -9 auf meiner Seite. Auch ohne Engine ist es aber nicht so schwer zu erkennen, dass Weiß sich hoffnungslos im Zugzwang befände, wenn er dran wäre. Jeder legale Zug würde entweder einen Bauern verlieren oder hätte das entscheidende Vordringen des schwarzen Königs zur Folge. Was macht Schwarz also am besten? Einfach mit 47...Tc3! abwarten und Weiß gibt auf, alles klar, danke, auf Wiedersehen. Das war jetzt nicht schwer, oder? Vielleicht zu einfach für Karsten Müller, der sich gerne hochkomplizierten Fällen widmet. Was den weiteren Verlauf der Partie betrifft, überlasse ich ihm daher auch das Feld. Mit viel raffinierteren Ideen, die auch wieder auf Zugzwang basieren, hätte Schwarz wohl auch sehr viel später noch gewinnen können.

 

Nur eine kurze Anmerkung zur Partie Aronian - Leko. Schwarz hatte mit präzisem Spiel ausgeglichen, traf nun aber mit 26...Td8? eine Entscheidung, die ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Aronian verstand es übrigens auch nicht, wie er im Interview bekannte. Wieso um Himmels Willen gibt Schwarz einfach einen Bauern her? 26...Lc6 war eine bequeme Alternative, wonach für Weiß keine vorteilhafte Fortsetzung in Sicht ist. Mit dem Läuferpaar hat Schwarz wenig zu befürchten. 27.Sd6 Lxd6 28.Txd6 Lf3! wiederum führt auch zu nichts, da der weiße König nicht aus der Box kommt. In der Partie mag Schwarz auch lange Zeit noch in der Remisbreite gewesen sein, aber es war eine Quälerei. Irgendwann strauchelte er, verlor die Partie und lamentierte hernach über sein "Unglück". Die Wahrscheinlichkeit dieses Unglücks hatte er aber auch erheblich gesteigert...

Wo wir gerade bei Leko sind: Dieses Läuferendspiel entstand nach 31 Zügen in der Partie Leko - Carlsen. Offensichtlich hat Weiß die bessere Bauernstruktur, so dass nur er auf Gewinn spielen kann. Im Endeffekt hat Schwarz aber gegen alle Versuche genügend Verteidigungsressourcen. Es geschahen noch weitere 52 Züge, aber es passierte im Grunde überhaupt nichts mehr. Ich erwähne die Partie eigentlich nur, weil ich über Carlsens Zusammenfassung so kichern musste: "Er hatte zwei Optionen: a4 und/oder g4 (...). Zwei Stunden lang zog er mit König und Läufer herum, ohne sich entscheiden zu können, und als Remis vereinbart wurde, standen die Bauern immer noch auf a3 und g2 :-) "

So, mit diesem Lacher beschließen wir den ersten Teil des Wijk-Reports. Einige gute Sachen habe ich noch auf Lager, also dranbleiben!

Michael Schwerteck

Ein paar Hintergrunddaten zu meiner Person: Jahrgang 1981, deutsch-französische Nationalität und Sprachzugehörigkeit, wohnhaft in Tübingen. Von Beruf Jurist und Übersetzer. Nahschach spiele ich in der Verbandsliga (4. Liga), DWZ meist irgendwo zwischen 2000-2100. Seit ein paar Jahren spiele ich auch (in bescheidenem Umfang) Fernschach, aktuelle Elo etwa 2325. Schachpublizistisch tätig war ich früher für chessvibes.com (Kolumne "Beauty in Chess" und ein bisschen Turnierberichterstattung), aktuell schreibe ich aber, abgesehen von meiner Tätigkeit hier, nur auf Vereinsebene.

Webseite: koenigskinderhohentuebingen.wordpress.com/

Kommentare   

#1 MiBu 2013-02-04 17:14
Da es sich vermutlich um eine Studie handelt, schlage ich für Dia 1 1.Lh8 vor. Neben dieser eher heuristischen Begründung sehe ich auch eine schachliche: Nach 1.Kc3 oder Kc5 folgt wohl d4, und der L ist außer Spiel. Auf anderen Feldern kann er aber attackiert werden oder ist im Gabelbereich.
#2 Thomas Richter 2013-02-04 17:55
Leko hat zu seinem Endspiel gegen Carlsen und den (Un-)Möglichkeiten für Weiss recht ausführlich Stellung genommen - im Video-Interview auf der Turnierseite (Runde 7). Demnach hing für Schwarz das Remis am seidenen Faden.
Wo, wie bzw. wann hat Leko über sein "Unglück" gegen Aronian lamentiert? Einen Tag danach hat er eingesehen dass das Bauernopfer zumindest unnötig war, wenn auch nicht direkt Ursache der Niederlage.
Insgesamt ein schöner Bericht, aber vielleicht etwas zu negativ Leko gegenüber und ein bisschen zu sehr durch Carlsens Brille - der nicht zugeben wollte dass er sich gegen den Ungarn durchaus präzise verteidigen musste?
#3 Helmut 2013-02-04 19:01
zitiere MiBu:
Nach 1.Kc3 oder Kc5 folgt wohl d4, und der L ist außer Spiel.

Das sehe ich irgendwie anders: nach Kc3 d4 Kd3 steht der König wie ein Fels. Der Läufer hat die Züge b2-a1-b2... Der sSpringer blockiert den eigenen Bauern, und wenn er sich bewegt, (freiwillig oder durch Zwang), fällt d4.
Wie soll Schwarz da auf Gewinn spielen?
#4 MiBu 2013-02-04 20:14
zitiere Helmut:
Wie soll Schwarz da auf Gewinn spielen?

So: Kh5-g4-f4-e5-d5 und dann Se5 mit Schach(!) räumt den Fels weg.Dann Ke4, Sc4, f4 und der Rest ist nicht mehr schwer.
#5 Michael Schwerteck 2013-02-06 16:54
Volle Punktzahl für MiBu: 1.Lh8! ist nicht nur der lustigste, sondern auch der einzig richtige Zug. In der Folge baut Weiß trotz der zwei Minusbauern eine bombensichere Remisfestung auf. Das Motiv kannte ich so noch nicht.

Anlässlich Thomas' Kommentar noch eine Klarstellung: Ich schreibe hier als Schachfan aus meiner subjektiven Sicht und lasse meine persönlichen Ansichten (die ich natürlich niemandem aufdrängen will) recht ungehemmt mit einfließen. Ich bin seit 10 Jahren Carlsen-Fan und werde ihn für seine Endspielkünste noch ganz anders lobpreisen. Ein paar nicht bös gemeinte Spitzen gegen von mir weniger geschätzte Spieler können auch vorkommen. Leko z.B. ist ein netter Kerl, aber in seinen Interviews steckt oft eine Menge unfreiwillige Komik. Es war schon sehr ulkig, dass er ellenlange Varianten rezitierte, in denen sich Carlsen angeblich nur haarscharf gerettet hätte... aber warum hat er dann keine einzige davon probiert?
#6 Thomas Richter 2013-02-10 09:28
Etwas verspätet zu Carlsen und Leko: Es ist ebenso kein Geheimnis dass ich gegen den Carlsen-Hype relativ immun bin, im Vergleich zu vielen anderen - Leuten die im Internet so kommentieren und auch der eine oder andere Journalist. Natürlich ist Carlsen ein guter Spieler, aber dass nun alles was er sagt und jede Partie die er spielt brilliant ist, Ansichtssache ... .

Leko hat vielleicht tendenziell eher eine wissenschaftliche Einstellung zum Schach, d.h. er geht aus von der "Wahrheit" (objektive Beurteilung) einer Stellung. Wenn eine Abwicklung nur remis bringt und er will mehr, dann spielt er sie nicht sondern manövriert weiter um sie vielleicht noch unter günstigeren Vorzeichen zu bekommen. Leko hätte Carlsens Bauerndurchbruch in der Wijk aan Zee Seeschlange gegen Karjakin nicht gespielt, denn das war "eigentlich" nur remis!?
Carlsen hat dagegen, sagen manche jedenfalls, eher eine spielerische Einstellung d.h. er spekuliert auf oder rechnet mit gegnerischen Fehlern. Es ist ja auch nicht so dass Carlsen jedes Remisendspiel gewinnt.

Nach eigener und anderer Leute Einschätzung habe ich auch eher eine wissenschaftliche Einstellung zum Schach. Das ist weder richtig noch falsch, und Leko konnte sich damit immerhin (im Gegensatz zu mir ...) lange in der absoluten Weltspitze halten.

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