Eine völlig normale Großmeisterpartie

Speelman, Short, Nunn, Miles (hinten), 1986  Speelman, Short, Nunn, Miles (hinten), 1986 GFHund

Kennen Sie die Mitglieder unserer Schachnationalmannschaft? Dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass Sie zu der kleinen Gruppe der fortgeschrittenen Spieler über  DWZ 2000 gehören. Zumindest zeichnete eine stichprobenartige Umfrage bei meiner Schachreisen-/Trainingskundschaft  ein ernüchterndes Bild: Einer von 20 kannte sich in der Materie aus! Dabei stehen diese Spieler mit einem Schnitt von 1700 Punkten in gewisser Weise für den durchschnittlichen Vereinsspieler bzw. zählen sogar zu den Schachbegeisterten.
Auch wenn das Ergebnis keineswegs als repräsentativ gelten kann, zweifele ich daran, dass die gesamte Quote 15% der Organisierten deutlich überschreitet.

Nun gut, einen haben wir mit der Diskussion der letzten Monate etwas gepusht – Arkadij Naiditsch kennen einige mehr, und auch der Bundestrainer rückte in den Focus der Schachöffentlichkeit. Bleibt noch Jan Gustafsson, der mit einem inzwischen allmählich verwaisenden Blog auf sich aufmerksam machte.

Grund genug, in Zukunft etwas mehr auf bedeutende Personen des Schachs einzugehen und nicht nur die Züge in den Vordergrund zu stellen. In der letzten Zeit fiel mir dabei wieder eine Größe der englischen Szene, Tony Miles, auf, der öfters in Olaf Steffens Beiträgen Erwähnung fand:

In den 80ern und 90ern gehörte Englands erster Großmeister zur erweiterten Weltspitze und fiel neben diversen glanzvollen Opensiegen durch die eine oder andere skurrile Aktion auf.
So wurde seine denkwürdige Provokation des Weltmeisters 1980 im Match UDSSR-England legendär, als er es „wagte“, auf 1.e4 mit dem bekanntermaßen minderwertigen 1. - a6 zu antworten.

Karpow soll danach nie wieder ein Wort mit Miles gewechselt haben. Getroffen fühlte er sich  wohl aber mehr durch das denkwürdige Ergebnis… Passend dazu auch ein Beitrag aus dem englischen Schachsatiremagazin Kingpin: Has Karpov Lost his Marbles?

Später machte er von sich reden, als er in einem Weltklasseturnier (Tilburg 1984) aufgrund von Rückenproblemen einige Partien  auf einem Bett liegend absolvierte. Einen kleinen Einblick in sein illustres Leben vermittelt Kevin Spraggett in seinem Blog oder auch Paul Lams Artikel in ceasefire´s chess corner.

Not gegen Elend

Auch ich lernte Miles näher kennen, Als Kommentatoren der FIDE-Kandidatenturniere in Sanghi Nagar (in der Nähe Hyderabads) 1994 waren wir 3 Wochen zusammen in einem Gästehaus „interniert“ und spielten so manche Blitzpartie.
Einige Monate später, ebenfalls in Indien, beim Kalkutta-Open kam es zu unserer zweiten Turnierpartie. Es war einer jener Momente, in denen man sich wünscht, seinem Chef einfach eine Krankmeldung übermitteln zu können. Die für Touristen nicht unbedenklichen Hygieneprobleme bescherten mir eine seltsame Fieberattacke, doch eine Auszeit gibt es im Turnierschach nunmal nicht.

Miles,Anthony J (2590) - Hickl,Joerg (2535) [A46]
Goodricke op 05th Kalkutta (5), 1994

 1.d4 d6 2.Sf3 Sf6 3.Sc3 Lf5 4.Lg5 Se4 5.Sxe4 Lxe4 6.Sd2 Lg6 7.e4 d5 8.Ld3 c6 9.Dg4 dxe4 10.Lxe4 Sd7 11.0–0–0 Sf6 12.Lxf6 gxf6 13.f4 Lxe4 14.Sxe4 Dd7 15.f5 0–0–0 16.Kb1 Dd5 17.The1
vore6Aufgrund der bekannten gesundheitlichen Probleme und der nicht nach meinen Wünschen verlaufenen Eröffnung – idealerweise hätte sich alles schnell getauscht und die Möglichkeit eines Remisangebots eröffnet – setzte hier schon eine innere Verzweiflung ein, die das Urteilsvermögen erheblich trübte. Die schneller als gewöhnlich tickende Uhr tat ihr Übriges. Ich sah mich ganz deutlich auf der Verliererstraße. Doch mit etwas Abstand betrachtet, war hier noch gar nichts Weltbewegendes passiert. 17. - e6?! Nun schon ein bisschen 18.fxe6 f5 19.Dh3 fxe6 20.Sg5 Te8 21.Te5 Dd7 22.Tde1 Lg7 23.Txe6 Txe6 24.Sxe6 Te8 25.Dxf5 Lxd4 26.a3 Lb6 27.g4

vor27a6

a6 28.c4 Kb8 29.Ka2 Ka7 30.Te4 h6 Ungefähr ab diesem Zeitpunkt befanden wir beide uns in immer größer werdender Zeitnot, was keineswegs als Entschuldigung herhalten kann. 31.h4 Te7 32.g5 hxg5 33.hxg5 Dd3

nachbesser34dg4
Analysediagramm: 34. Dg4 wäre hier offensichtlich besser gewesen. Der g-Bauer ist wohl kaum zu stoppen.

34.Sc5 Dc2 35.g6 a5 36.Se6?! a4= Von nun an ist kaum noch etwas richtig 37.Df6?? (Sc5, Sg5=) Td7 –+ 38.Te1

vor38td2

Td2??= (38.-Td3 (droht Txa3+) 39.De7 Tb3 40. Tb1 Dxc4 41. Ka1 Te3 gewinnt den Springer) 39.Tb1 Tg2?! 40.Df4 (g7) Txg6 41.Sg5?? Db3+ 42.Ka1 Le3 0–1
Die damals noch obligatorische gemeinsame Analyse der Partie entfiel nach einem kurzen verbalen Austausch. Nachdem ich kopfschüttelnd meine Depression nach dem 17. Zug zum Ausdruck brachte und mich für den Sieg etwas entschuldigte, kam von der anderen Seite nur kurz, er müsse nun dringend weiter: Fieber hätte gegen Durchfall gewonnen!

Solche Partien machen Mut, auch gegen deutlich stärkere Gegner immer am Ball zu bleiben! Schach ist der Sport zwischen Menschen und nicht Computern.

Tony Miles starb am 11. November 2001 im Alter von 46 Jahren an den Folgen von Diabetes.

Jörg Hickl

Großmeister, Schachtrainer, Schachreisen- und -seminarveranstalter.
Weitere Informationen im Trainingsbereich dieser Website
oder unter Schachreisen

Webseite: www.schachreisen.eu

Kommentare   

#1 Gerhard 2012-01-20 17:43
Irgendwo eine Kultfigur, dieser Tony Miles.
Nicht nur wegen dieser 1...a6-Partie, die m.E. zu häufig zitiert wird. Man kann auch mal als WM eine Partie mit "irregulärer" Eröffnung des Gegners verlieren.

Die hier angeführte Partie Miles-Hickl uferte ja ab einem gewissen Punkt heftig aus, Miles verlor sogar noch seine Prachtstellung.
In der Tat sind aber auch solche Partien keine Seltenheit. Man fragt sich allerdings, auf welche Weise man erahnen kann, daß solch eine Wendung in einer eigenen miesen Stellung - noch - eintreten kann.

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