Annäherung ans Faszinosum Endspiel

Vor etwa zwei Wochen äußerte ich in einem Kommentar den Vorschlag, dass ich in diesem Blog eine Endspielrubrik eröffnen könnte. Es handelte sich um eine ziemlich spontane Idee, über die ich nicht groß nachgedacht habe. Inzwischen ist der Deal tatsächlich zustande gekommen und es ist sicherlich angebracht, dass ich zunächst erkläre, was ich eigentlich vorhabe. Ehrlich gesagt muss ich da selbst erst einmal nachdenken. Es gehört zu den Mysterien der menschlichen Psyche, dass man das Zustandekommen seiner eigenen Entscheidungen selten (manche Experten sagen sogar: nie) wirklich nachvollziehen kann. Dies ist übrigens auch ein faszinierendes Thema, das gerade für Schachspieler von Interesse ist, führt hier aber zu weit.

 

Ich werde also nach besten Kräften (alle Angaben ohne Gewähr) versuchen zu erklären, worum es mir geht. Mein Ausgangspunkt ist, dass das Endspiel eine Materie ist, die stark polarisiert. Natürlich gibt es viele Schattierungen und ich übertreibe in der Folge ein bisschen, aber vereinfacht ausgedrückt gibt es zwei „Pole“, d.h. zwei grundsätzlich verschiedene Sichtweisen, die ich unter Schachfreunden beobachtet habe.

 

Sichtweise Nr. 1 (v.a. unter Amateuren sehr weit verbreitet): Endspiele sind langweilig. Eine technische Angelegenheit, zäh, trocken, oft passiert lange Zeit „nichts“. Es fehlt das Feuer der Kombinationen, es fehlt die Dynamik, die Romantik, kurz: alles, was Schach spannend macht! Endspielbücher sind voll von irgendwelchen abstrakten Manövern, die kein normaler Mensch versteht. Angeblich soll man die auch noch auswendig lernen, obwohl sie doch so gut wie nie aufs Brett kommen. Komische Namen haben sie oft auch noch. Wie bitte, „Van?ura-Stellung“, was soll das sein? Hat man in 20 Jahren Turnierschach noch nie gebraucht, also wird es wohl auch die nächsten 20 Jahre ohne gehen. Das ist doch nur was für Freaks. Ein richtig guter Spieler ist auf das Endspiel sowieso nicht angewiesen, der gewinnt sein Partien schon vorher. Eine starke Eröffnung, im Mittelspiel den Vorteil ausbauen, zünftig angreifen, mattsetzen und fertig. So spielt man Schach!

 

Sichtweise Nr. 2: Endspiele sind großartig, sie sind eigentlich das Schönste am Schach, quasi Schach pur. Unglaublich, was für subtile, raffinierte Wendungen selbst mit ganz wenigen Steinen möglich sind! Und diese klare, kraftvolle Logik ist einfach hinreißend; im Endspiel kann man endlich vollkommen in die Stellung eindringen und ihre innersten Zusammenhänge erkennen, alle Gesetze liegen einem vor Augen, alles passt zusammen, man ist praktisch wie Gott, es ist unglaublich. Wenn man seine wenigen Einheiten perfekt zu koordinieren versteht, so dass sie geradezu Wunder vollbringen, das ist wahre Harmonie, das ist die ganz große Kunst! In den Partiephasen davor, seien wir ehrlich, da wird doch viel herumgepfuscht. Man versucht halt, den Gegner irgendwie übers Ohr zu hauen, da ist jedes Mittel recht. Klar, so eine Opferkombination zum Beispiel ist nicht schlecht, aber letztlich ist das nicht viel mehr als Schaumschlägerei, ein seichtes Amüsement für die geistig einfach Gestrickten. Dieses taktische Geplänkel kann doch jeder lernen, wenn er unbedingt will. Im Endspiel hingegen trennt sich die Spreu vom Weizen, hier zeigt sich der wahre Könner!

 

bansem300Man könnte sich jetzt noch fragen, ob es nicht auch eine Sichtweise Nr. 3 gibt, nach der im Schach alles gleichermaßen toll ist, aber diese Einstellung habe ich noch selten angetroffen. Das heißt nicht, dass es sie nicht gibt, aber sie kann hier außer Betracht bleiben (ebenso wie die Sichtweise Nr. 4, dass Schach generell total doof ist). Nach meinen Erfahrungen würde ich ohnehin schätzen, dass mindestens 80 % aller Amateure mehr oder weniger der Nr. 1 zuzuordnen sind.

 

So weit, so schön – und welches Lager hat nun recht? Eine reine Geschmacksfrage? Welche Sichtweise bringt denn die besseren Ergebnisse? Nun, die einzige ehrliche Antwort, die ich hierauf geben kann, lautet: ich weiß es nicht. Auch die großen Autoritäten sind sich nicht einig. Manche sagen dieses, andere jenes. Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte oder sonstwo. Wobei sich noch fragt, ob es überhaupt eine Wahrheit gibt oder nicht vielleicht viele individuelle Wahrheiten. Es gibt viele Arten, Schach zu spielen und sich mit Schach zu beschäftigen. Viele von ihnen können zum Erfolg oder zumindest zu großem Genuss führen. Letztlich muss jeder seinen eigenen Weg finden. Ich persönlich neige zur Zeit, wie sich der Leser wahrscheinlich schon gedacht hat, zur Nr. 2 (natürlich in einer etwas gemäßigteren Fassung; ich habe, wie gesagt, bewusst übertrieben), aber ich habe auch lange Zeit Nr. 1 vertreten. Mein Vorteil besteht eben darin, dass ich beide Lager sehr gut verstehen kann. Deshalb sehe ich mich als dazu geeignet an, als Vermittler zwischen ihnen aufzutreten. Ich bin kein Missionar, der die Leute unbedingt von seiner eigenen Meinung überzeugen will, sondern biete den zahlreichen Nr. 1-Anhängern an, sich etwas zu öffnen und sich mehr auf Nr. 2 einzulassen. Ich will versuchen zu zeigen, wie fabelhaft Endspiele sein können, wenn man sie vorurteilsfrei betrachtet.

 

Die Frage ist natürlich, ob die „1er“ an diesem Angebot überhaupt interessiert sind. Auch das weiß ich nicht, es wird sich zeigen. Wenn nicht, dann höre ich mit dem Schreiben wieder auf, denn für die paar „2er“, die sowieso jede Menge tolle Endspielbücher zu Hause haben, lohnt sich der Aufwand nicht (ich verdiene hier keinen Cent und habe genug andere Sachen zu tun). Meine Theorie ist jedenfalls, dass, genauso wie ich meine Einstellung im Laufe der Zeit geändert habe, etliche 1er in Wirklichkeit verkappte 2er sind oder zumindest dem Endspiel gar nicht so abgeneigt sind, wie sie selber glauben.

 

Schuld an der mutmaßlichen Verirrung ist m.E. vor allem die Propaganda der Schachbuchverlage, auch wenn diese möglicherweise (irgendwie auch verständlich) nichts anderes tun, als die naiven Wünsche ihrer Kunden zu bedienen. Eröffnungsbücher lassen sich am einfachsten vermarkten, denn es werden ja ständig neue Partien gespielt, so dass sich die Theorie laufend verändert. Man kann den Leuten also leicht vorgaukeln, dass sie unbedingt auf dem Laufenden bleiben und ständig neue Bücher kaufen müssen. Dies funktioniert noch besser, wenn man der Eröffnung eine völlig überhöhte Bedeutung zuschreibt. Gute Vorbereitung sei essentiell, wird behauptet, man muss irgendwie einen Vorteil erzielen, der Rest wird sich dann schon finden. „Winning with [Eröffnung XY]“ heißt es doch z.B. so schön. Mit der richtigen Eröffnung gewinnt man also die Partie! 

Besonders raffiniert ist dabei die klassische Zwei-Schritt-Methode, die in vielen Marketingbereichen Anwendung findet:

a) Man bauscht ein Problem auf, dass es eigentlich gar nicht gibt.

Man jagt den potentiellen Kunden (= ganz überwiegend Feld-, Wald- und Wiesenspieler, zu denen ich mich auch zähle) also Angst ein und täuscht sie darüber, was sie angeblich alles wissen müssen. So bringt man sie dazu, dicke, oft mehrbändige Wälzer zu kaufen, die allenfalls für Profis nützlich sind. Dass die Eröffnung eigentlich ihr geringstes Problem ist und durch die Arbeit an anderen Bereichen automatisch auch die Eröffnungsbehandlung besser wird, braucht man ihnen ja nicht zu verraten. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass das sture Kopieren von vorgebenen Repertoires der schachlichen Entwicklung mehr schadet als nützt.

b) Die angebliche Lösung des (eigentlich nicht existenten) Problems hat man zufällig auch im Programm.

Sie besteht in weiteren Eröffnungsbüchern, nur anders aufgemacht. Der Inhalt ist fast derselbe, aber sie sind einen Tick billiger und es steht in großen freundlichen Buchstaben „Don't Panic“ darauf. Nein, tut es nicht, da war ich kurz geistig woanders (Douglas Adams-Fans wissen Bescheid), aber man sieht ähnlich beruhigende Floskeln wie „easy guide“, „starting out“ oder „move by move“.

Wenn man diese Strategie verfolgt, sind Endspielbücher natürlich nur noch schwer zu vermarkten. Von John Nunn gibt es z.B. ein relativ neues zweibändiges Werk, das qualitativ überragend ist und viele tiefsinnige Erkenntnisse enthält. Mit der Wahl zum englischen Schachbuch des Jahres erhielt es die wohl prestigeträchtigste Auszeichnung überhaupt. Trotzdem bietet Niggemann die Dinger an wie sauer Bier und verhökert sie letztlich zum Schleuderpreis.

 

Die Geringschätzung des Endspiels durchsetzt alle Ebenen, wie man z.B. an vielen Bedenkzeitmodi erkennen kann. 2 Stunden für 40 Züge und 30 Minuten für den Rest, so lautet die übliche Open-Bedenkzeit. Die implizite Aussage ist klar: Bis zum 40. Zug wird richtiges Schach gespielt, „der Rest“ (man beachte den abwertenden Ausdruck) ist ein unwichtiger Nachklapp. Die Schachpresse macht auch ganz gerne mit. Gelungene Kombinationen werden immer groß gefeiert, gelungene Endspiele hingegen kaum beachtet. Ein Taktiker wie Nakamura gilt als total interessant und darf überall mitspielen, ein Techniker wie Jakowenko, immerhin amtierender Europameister, wird als Langweiler verschrien und bekommt so gut wie gar keine Einladungen. Nichts gegen persönlichen Geschmack, aber diese regelrechte „Nr. 1-Diktatur“ würde ich gerne ein bisschen aufweichen.

 

So, nun habe ich schon ziemlich viel geschrieben, mehr als ich ursprünglich wollte. So richtig los geht es dann beim nächsten Mal (in ca. zwei Wochen), aber einen kleinen Appetitanreger will ich hier schon noch präsentieren. Ich will dem Kollegen Losso nicht zu sehr das Wasser abgraben, aber die eine oder andere Endspielstudie gehört sicherlich zu meinem Thema dazu. Ich persönlich mag vor allem partienahe Studien, in denen mit einfachen Mitteln elegante Ideen verwirklicht werden. Das folgende Exemplar von Wladimir Korolkow ist ein schönes Beispiel. Die Studie ist auch gar nicht so fürchterlich schwer zu lösen, d.h. wer sie noch nicht kennt, kann ruhig einmal sein Glück versuchen.

1koro1

1.f7 liegt auf der Hand und wegen 1...Tf6? 2.Lb2 sowie 1...Tg8? 2.fxg8D+ Kxg8 3.Se7+ ist 1...Ta6 eindeutig die einzige Chance. Nun verstellt 2.Kb2 das Feld b2, erlaubt also 2...Tf6, und nach 2.Kb1? fällt der Springer mit Schach. Also 2.La3! Txa3+ 3.Kb2 und auf den ersten Blick ist es schon aus, aber Schwarz hat noch eine Menge trickreiche Schachs, da der weiße König bestimmte Felder nicht betreten darf. 3...Tb3+? ist nun von der Idee her richtig (4.Kxb3 Le6+), aber nach 4.Ka2! ist die Diagonale a2-g8 verstellt und man hat schon kein gutes Schach mehr. Deshalb 3...Ta2+ und nun muss Weiß sich genau überlegen, wo er hinläuft. 4.Kc1!! ist der einzige Gewinnzug. 4.Kc3? liefe hingegen in eine Sackgasse: 4...Tc2+! 5.Kb4 (5.Kd4 Td2+ nebst 6...Td8) Tb2+ 6.Kc5 Tc2+ 7.Kb6 Tb2+ und der König findet nirgends eine Zuflucht (8.Kc7 Tb7+). Am Königsflügel gibt es bessere Versteckmöglichkeiten, daher ist die folgende Sequenz klar: 4...Ta1+ 5.Kd2 Ta2+ 6.Ke3 Ta3+ 7.Kf4 Ta4+ 8.Kg5

1koro2

 

Nun gibt es schon mal kein Schach von der Seite mehr, aber deshalb ist Schwarz mit seinem Latein noch nicht am Ende: 8...Tg4+! und das Remis scheint doch gesichert zu sein, denn Weiß darf den Turm nicht schlagen (9.Kxg4 Lxf5+ 10.Kxf5 Kg7 ist remis) und wenn er ihn nicht schlägt, folgt 9...Tg8! mit Neutralisation des Bauern. Wir brauchen also eine neue Idee und allmählich dämmert uns, dass es nicht nur um Bauernumwandlung und Vermeidung von Dauerschach geht, sondern auch um Mattangriff! Deshalb 9.Kh6! (nun hat der König vollends das ganze Brett überquert!) 9...Tg8! (9...Tg6+ 10.Kxg6 Lxf5+ 11.Kf6! oder 11.Kh6!) 10.Se7! und der Turm kann nicht ziehen (10...Tf8 11.Sg6#). Das ist immer noch nicht das Ende vom Lied, denn Schwarz kann den Turm mit 10...Le6! decken. Nützt ihm aber nichts, denn 11.fxg8D+ (oder natürlich 11.fxg8T+, aber so etwas zählt nicht als Doppellösung) Lxg8 12.Sg6# führt zu einem reizenden Mattbild, das zu Beginn keiner erwartet hätte.

 

Ich zitiere dazu aus „Secrets of Spectacular Chess“ von Jonathan Levitt und David Friedgood (meine Übersetzung): „Wenn Sie diese Studie nie zuvor gesehen haben und an ihr nichts Aufregendes finden können, besteht unser einziger Rat darin, das Spiel aufzugeben. Sie werden im Schach keine Zukunft haben!“ Mir persönlich ist das einen Tick zu missionarisch, auch wenn es wahrscheinlich stimmt. Ich orientiere mich lieber an Loriot: Wenn Ihnen diese Studie nicht gefallen hat, werden Sie meine weiteren Artikel auch nicht recht mögen. Sie brauchen sie also nicht zu lesen.

Michael Schwerteck

Ein paar Hintergrunddaten zu meiner Person: Jahrgang 1981, deutsch-französische Nationalität und Sprachzugehörigkeit, wohnhaft in Tübingen. Von Beruf Jurist und Übersetzer. Nahschach spiele ich in der Verbandsliga (4. Liga), DWZ meist irgendwo zwischen 2000-2100. Seit ein paar Jahren spiele ich auch (in bescheidenem Umfang) Fernschach, aktuelle Elo etwa 2325. Schachpublizistisch tätig war ich früher für chessvibes.com (Kolumne "Beauty in Chess" und ein bisschen Turnierberichterstattung), aktuell schreibe ich aber, abgesehen von meiner Tätigkeit hier, nur auf Vereinsebene.

Webseite: koenigskinderhohentuebingen.wordpress.com/

Kommentare   

#1 Losso 2013-01-10 00:07
Das Problem zeigt sich ja schon von Anfang an. Nach Lernen der Regeln versuchen die meisten Lehrwerke, den Schachspieler mit Eröffnungswissen zu füttern, andere zeigen (sicherlich sehr wichtig) Kombinationen, normalerweise aus dem Bereich des Mittelspiels.

Dabei wäre es umgekehrt viel logischer: Schach sollte erst mit sehr wenig Figuren vermittelt werden. Es gibt nahezu alle strategischen und taktischen Motive in Endspiel- und damit in Reinform (Ausnahmen sind solche Sachen wie Läuferopfer auf h7). Das ist meines Erachtens in der schachlichen Ausbildung der logische Startpunkt.
#2 uvo 2013-01-10 12:30
Den Schachunterricht mit dem Endspiel zu beginnen hat auch Nachteile - wenn man über Eröffnung und Mittelspiel überhaupt nichts weiß, wird man nämlich nie ins Endspiel kommen. Und von Schachanfängern zu erwarten, daß sie ihr Endspielwissen auf andere Bereiche des Spiels übertragen können, finde ich recht optimistisch.

Meines Erachtens sollte man beim Schachunterricht an mehreren Themen parallel arbeiten (ohne hier auf Prioritäten eingehen zu wollen):

1. Endspiele - Mattsetzen mit K+D gegen K oder K+T gegen K, einfache Bauernendspiele, Endspiele mit Mehrfigur

2. Grundlagen der Eröffnungen - keine konkreten Eröffnungen, sondern wirklich die Grundprinzipien: Figuren entwickeln, Zentrum besetzen bzw. kontrollieren, Rochade usw.

3. Taktische Motive im Mittelspiel: Fesselungen, Doppelangriffe, typische Mattmotive (insbesondere die schwachen Punkte f2/f7 oder in der Rochadestellung h2/h7).

Sich nur aufs Endspiel zu beschränken, ist meines Erachtens genauso falsch wie das Endspiel zunächst komplett zu ignorieren.
#3 Losso 2013-01-10 13:19
@uvo:
Natürlich funktioniert das nicht ganz so wie ich es vorschlage, denn sonst müsste man einen Anfänger ja dazu "zwingen", keine einzige Partie zu spielen bis die Grundlagen da sind. Aber das hält ja niemand durch.
Wegen 3.: Gerade bei taktischen Motiven würde ich diese zunächst im Endspiel zeigen wollen. Im Mittelspiel steht noch so viel Material rum, bei dem der Anfänger nicht weiß, was es zu bedeuten hat. Gerade dort bin ich ein Verfechter, dies im Endspiel zu zeigen, wo jede Figur auf dem Brett auch eine Funktion hat.

Meine Beschäftigung mit dem Endspiel hat sich an der Stelle vertieft, an der ein Buchhändler in MV diese superfetten Schinken von Polgar für einen Fünfer rausgehauen hat. Das Mittelspiel ist zwar auch ganz nett, aber mit dem Endspielbuch habe ich wirklich viel Zeit verbracht.
Heute sehe ich noch gelegentlich in Endspielbücher, lese quartärlich die absolut grandiose Zeitschrift eg, die neben Studien auch andere Endspielthemen streift, vor allem wenn es um den aktuellen Stand der Endgame Databases geht. Und zwei Studien habe ich auch selber komponiert. Die eine basiert auf den Tablebases und hat den 3. Preis im Jahresturnier der Schwalbe erreicht und ist meines Erachtens das Optimum, das man aus einer Gewinnstudie mit dem Material S+L+B vs. D herauskitzeln kann. Die andere erscheint im Februar oder März in der Zeitschrift "Schach". Auf beide Werke bin ich durchaus stolz.
Ich würde mich bestimmt noch viel mehr mit Endspielen beschäftigen, wenn ich nicht zweifacher Vater wäre und wenn von Selbstmatts nicht so eine unheimliche Faszination ausginge, die im Wesentlichen mein kompositorisches Werk ausmachen und die ich zudem auch gerne löse.
#4 Thomas Richter 2013-01-10 17:11
Ich gebe auch mal meinen Senf dazu.

Zunächst mal: Michael, willkommen im Team! Warum schreiben? Doch wohl vor allem aus Spass an der Sache (ist hoffentlich auch der Fall bei Leuten die damit Geld verdienen, auch wenn die sich vielleicht ihre Themen nicht immer frei aussuchen können). Worüber schreiben, und mit welchem Zweck? Das ergibt sich vielleicht konkret auch im Laufe der Zeit oder von Fall zu Fall - es ist ja kein Lehrbuch wo man bei Kapitel 1 schon wissen sollte was in Kapitel 9 behandelt wird. Für wen genau? Ja wenn man das überhaupt wüsste - auch ich weiss allenfalls bedingt wer meine Artikel liest und wem sie gefallen ... .

Beim von losso skizzierten "Problem" bin ich einer Meinung mit uvo (und war immerhin selber mal Jugendleiter im Verein). Ich kann noch ergänzen:
- taktische Motive im Mittelspiel braucht man ja nicht nur um selbst zu glänzen, sondern auch um gegnerische Ideen rechtzeitig zu durchschauen.
- Taktik kann man schon (auch) mit Endspielstellungen üben oder demonstrieren, allerdings fehlen da wohl tendenziell typische Mittelspiel-Mattmotive. Das erstickte Matt kann man mit obiger Endspielstudie (für schwächere Spieler ab dem zweiten Diagramm) zeigen, aber anfangs doch eher als Standardmotiv. Dafür haben Endspiele ihre eigene Taktik: Bauerndurchbruch, Pattmotive, Einfangen eines verirrten Springers, ... .

Und nun zur Strategie der Verlage, da ist für mich jede Menge Henne und/oder Ei dabei. Ist es Propaganda der Verlage dass sich ihr Publikum vor allem für Eröffnung und Mittelspiel interessiert, oder "ist das eben so" und Verlage passen sich an? Nicht dass ich mich da auskenne, aber Marketing und Marktforschung arbeiten doch Hand in Hand ?! Die Vorliebe für Eröffnung und Mittelspiel ist sicher teils Geschmackssache ("das ist richtiges Schach"), teils vielleicht auch (falscher?) Pragmatismus: Die Prozente mögen nicht ganz stimmen, aber:
- 100% aller Partien haben eine Eröffnungsphase (wenn auch nicht immer hochtheoretisch)
- 80% haben ein Mittelspiel (der Rest endet mit einer Eröffnungsfalle oder landet aus der Eröffnung direkt im Endspiel)
- 50% haben ein Endspiel, und davon werden nicht alle im Endspiel entschieden. Wenn man da am Anfang schon zwei oder drei Mehrbauern hat braucht man vielleicht nur Grundkenntnisse (ungleichfarbige Läufer möglichst vermeiden, König aktivieren, ...).
Warum gibt es vergleichsweise kaum Endspielbücher? Weil sich wenige Autoren da auskennen UND das vermitteln können? Oder weil Autoren auch bevorzugt schreiben was sich besser verkauft bzw. entsprechende Aufträge bekommen?
#5 Gerhard 2013-01-10 19:48
Die Unterteilung in Nr.1-Spieler und Nr.2-Spieler kann man so gelten lassen.
Früher oder später wird man, so meine ich, fast zwangsläufig zum Nr.2-Spieler: Mittelspiel und Eröffnung: Da kennt man sich gut bis grob aus, aber im Endspiel, da klaffen doch oft noch große Lücken: Spielt man mit etwa 2200 gegen einen 1800er und landet in einem nur leicht vorteilhaften Endspiel, dann ist man mit geringen Endspielkenntnissen plötzlich in einem 1800er Duell begriffen und das macht Angst und tut weh.
Daher tut Endspielbefassung not.

Ich bin auch über den Schachspieler Kramnik näher aufs Endspiel gekommen. Im Zusammenhang mit ihm bin ich auf diverse Endspiele gestossen, in denen er oder auch andere Meister minutiös und völlig glaubhaft Vorteile anhäuften und zum Sieg führten. Und da ist meist kein Vorteil zu gering, als daß diese Meister nicht etwas aufkumulieren konnten.
Im Endspiel gewinnen zu wollen, ist auch oft einfacher, als einen zweischneidigen Angriff zu führen. Im Endspiel wird der belohnt, der es richtig geführt hat. Im Angriffsspiel gewinnt oft der, der als Vorletzter was übersehen hat. Da gibt es halt mehr Zufallsergebnisse.

Mir sind auch manche Angriffsstrategeme zu "grob". Manche Angriffe sind Überrumpelungen - und haben primär nicht unbedingt was mit Schach zu tun. Ich erinnere mich z.B. gern an den Maestro Karpov, der u.a. auch wunderbare Königsangriffe ohne Dame, quasi im Endspiel führte oder an seine positionellen Qualiopfer und vieles mehr.

Also: Ich freue mich auf weitere Artikel.
#6 Michael Schwerteck 2013-01-10 22:01
Über die optimale Gestaltung des Schachunterrichts kann man sich trefflich streiten. Meines Wissens gibt es keinerlei wissenschaftliche Untersuchungen darüber, welche Methode am besten funktioniert. Wahrscheinlich hängt das auch sehr stark vom jeweiligen Schüler ab. Es gibt GMs, die sich v.a. von ihrer Endspieltechnik ernähren, und andere GMs, die praktisch gar keine Endspieltechnik haben. Alles ist möglich.

Auch über "die Henne und das Ei" kann man diskutieren. Man hat hoffentlich an gewissen Formulierungen gemerkt, dass ich eine leichtes Faible für augenzwinkernde Übertreibungen habe und nicht alles ganz so bierernst meine. Trotzdem bleibe ich im Kern bei meiner Meinung.

@Gerhard: Über Karpovs Endspiele plane ich auf jeden Fall noch einen eigenen Artikel. Da gibt es in der Tat großartige Sachen, die an Hexerei grenzen.
#7 Thomas Richter 2013-01-11 18:17
Wie es der Zufall so viel (sicher vermessen zu behaupten dass es vielleicht kein Zufall ist :) ) werden in der letzten Ausgabe der "Chess Evolution Newsletter" zwei Endspiele diskutiert - Leseprobe komplett und gratis auf http://www.chess-international.de/chess2013/ .

Beide von der World Cities Team Championship, eines von Fressinet und eines von Tiviakov. Auf letzteren wurde ich u.a. aufmerksam da der mir (und Michael?) bekannte Peter Doggers ihn fragte ob seine Endspieltechnik mit der von, sagen wir, Kramnik, Karpov oder Capablanca vergleichbar sei. Tiviakovs bescheidene(?) Antwort:
"My endgame technique used to be good, but recently it has become a bit worse now that I'm older and I have less energy for long games. I guess I can not compare it with the big names in chess, but I did win many good games and exemplary endings in my life. My style is like Karpov, I have learned much from studying his games."

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