Anmerkungen zum Pattsieg

In der Zeitschrift "Schach" ist zuletzt eine dreiteilige Artikelserie von Arno Nickel erschienen, mit dem Titel "Die Unbesiegbaren - Dem Fernschach droht der Remistod" (Ausgaben 7, 8 und 10/2013). Mein Kollege Uwe Bekemann hatte schon nach Erscheinen des ersten Teils hier im Blog kritisch Stellung bezogen. Inzwischen ist bekannt, welche Lösung Herrn Nickel zur Bekämpfung des im Titel beschriebenen Problems vorschwebt. Sein Vorschlag würde zu einer starken Beeinflussung meines Spezialgebiets, des Endspiels, führen, so dass ich mich berufen fühle, Position zu beziehen.

Vielleicht kennen nicht alle "Schachwelt"-Leser die besagte Artikelserie, aber ihr Inhalt lässt sich relativ leicht zusammenfassen: Vor allem in den Spitzenturnieren des Fernschachs lässt sich eine tendenziell immer höhere Remisquote feststellen, Größenordnung 80-90 Prozent. Hierdurch verlieren die Wettkämpfe nach Nickels Ansicht erheblich an Reiz. Als Ursache sieht er den immer stärkeren Einfluss des Computers, mit dessen Hilfe alle Gefahren schon weit im Voraus erkannt und bekämpft werden können. Sein Vorschlag sieht nun wie folgt aus: Das Patt soll nicht mehr als Remis gewertet werden, sondern mit dem Ergebnis von ¾:¼ zugunsten des Pattsetzenden ("Pattsieg"). Dies habe bereits Lasker empfohlen. Die Wertung des Patts als Remis sei unlogisch und ungerecht, weil eine Seite sich ein Übergewicht (materiell oder positionell) erarbeitet habe und trotzdem mit nicht mehr als einem halben Punkt belohnt werde. Die Änderung führe außerdem zu einer erhöhten Komplexität vor allem des Endspiels und der Einfluss der Schachprogramme werde durch die Umstellung ausgebremst.

An diesem Vorschlag erstaunt mich zunächst vor allem eines: Das Ausgangsproblem war das Fernschach, und dort eigentlich auch nur das Spitzenniveau. Die Lösung ist aber keineswegs Fernschach-spezifisch, sondern es sollen die allgemeinen Schachregeln geändert werden. Die Konsequenz dieser Gedankenführung leuchtet mir überhaupt nicht ein. Dem allergrößten Teil der weltweit aktiven Schachspieler dürfte es herzlich egal sein, ob in einzelnen Fernschachturnieren die Remisquote etwas höher oder niedriger ist (Nickel wäre schon mit einer Veränderung von 5-10 Prozent zufrieden!). In diesem Zusammenhang sollte man sich vor Augen halten, dass Arno Nickel selbst zur Fernschach-Weltspitze gehört, die geschilderten Probleme also ihn persönlich betreffen. Schade für ihn, aber muss man deswegen die ganze Schachwelt auf den Kopf stellen? Ich spiele selber auch Fernschach und habe daher eine gewisse Grundsympathie für die sicherlich gut gemeinten Rettungsbemühungen, aber meiner Meinung nach wird das Problem maßlos übertrieben. Es ist richtig, dass Fernschach in seiner hergebrachten Form nach und nach an Bedeutung verlieren wird, aber das ist kein Grund zur Verzweiflung. Anstatt über den nahenden Tod des Fernschachs zu lamentieren, könnte man sich auch darüber freuen, dass es aktuell trotz aller Unkenrufe immer noch einigermaßen am Leben ist. In Zukunft wird man sich eben in andere Richtungen orientieren müssen, z.B. wurden mit enginefreien Turnieren gute Erfahrungen gemacht und es gab meines Wissens kaum Betrugsfälle. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweise ich noch einmal auf den Beitrag von Uwe Bekemann, der bereits einige Wege aufgezeigt hat.

Schon Michael Negele hat in "Schach" 8/2011 verschiedene Regeländerungen vorgeschlagen, u.a. ebenfalls den Pattsieg. Dieser laut Nickel "hochinteressante Aufsatz" hat mich damals vorne und hinten nicht überzeugt und die "Schach"-Leser haben "in seltener Einigkeit" (so die Zusammenfassung der Redaktion) allen Reformgedanken eine Absage erteilt. Umso unverständlicher, dass die Redaktion nun erneut viele Seiten zur Verfügung stellt, um einen der abgelehnten Reformvorschläge einfach noch einmal vorbringen zu lassen. Wie es ein Leser bereits schön formuliert hat, sind die geltenden Schachregeln "der Heilige Gral des Spiels". Dem kann ich nur beipflichten. Was Lasker vor rund 100 Jahren, also in der Anfangsphase des sportähnlichen Wettkampfschachs, vorgeschlagen hat, spielt heute keine Rolle mehr. Inzwischen wurde mit den uns bekannten Regeln Schachgeschichte geschrieben, Weltmeister wurden gekrönt, zahllose Bücher verfasst usw. Dies kann man nicht einfach über den Haufen werfen, schon gar nicht aus vergleichsweise nichtigem Anlass. Eine Änderung der Schachregeln im engeren Sinne ist ultima ratio, auf deutsch: alleräußerstes Mittel. Eine Notwendigkeit hierfür kann ich noch lange nicht erkennen.

Die praktischen Implikationen der Regeländerung scheinen mir zudem schlecht durchdacht. Nickel tröstet uns damit, dass "die Eröffnungsliteratur durch den Pattsieg (...) nicht komplett neu geschrieben werden müsste". Nun gut, das versteht sich von selbst. Viel schwerwiegender wären natürlich die Auswirkungen auf die Endspieltheorie, die von Nickel nur oberflächlich beleuchtet werden. Auch wenn er ein wenig abzuwiegeln versucht, dürfte es doch eindeutig sein: Jedes Endspielbuch wäre reif für die Tonne. Wenn schon die Einschätzungen von Bauernendspielen nicht mehr stimmen, kann man auch den Rest vergessen. Halten wir uns zur Verdeutlichung ein paar Elementarendspiele vor Augen: K+B gg. K ist mit der neuen Regel immer mindestens "pattgewonnen", auch mit einem Randbauern. K+L gg. K und K+S gg. K soll hingegen laut Nickel weiterhin remis sein, "denn es kann im Leben ja nicht immer gerecht zugehen". Ah ja. Hatte er nicht zuvor noch mit dem Argument der Gerechtigkeit gearbeitet? Endspiele mit Figur+Bauer gegen Figur werden für den Verteidiger zumindest schwieriger. Oft wird die stärkere Seite krampfhaft versuchen, das Figurenpaar abzutauschen (selbst wenn das Bauernendspiel nach gewohnten Maßstäben remis wäre), was dem Endspiel einen recht eigenartigen Charakter verleihen dürfte. Viele tausendfache geübte und tief verinnerlichte Mechanismen würden nicht mehr greifen. Unklar ist mir auch, was passiert, wenn das Patt nicht mehr vermeidbar erscheint: Gibt es dann eine "Pattaufgabe", die der Gegner auch ablehnen kann, um auf den ganzen Punkt zu spielen? Oder ein "Pattangebot"?

Überhaupt stellen sich in Bezug auf das Regelwerk diverse Fragen. Wie geht man denn z.B. mit Zeitüberschreitungen um? Immerhin kann man ja auch mit dem blanken König pattsetzen, siehe Diagramm ganz oben! Dies würde seltsame Blüten treiben: K+D gg. K wäre im Fall einer ZÜ der stärkeren Seite wie gewohnt remis, K+D+Randbauer gg. K hingegen "verloren", denn der Gegner könnte ja theoretisch mit einer Serie regelkonformer Züge noch pattsetzen. Es lassen sich zahlreiche weitere Varianten vorstellen, in denen es immer wieder fatal wäre, einen Randbauern zu besitzen. Absurd, oder?

Es ist einzuräumen, dass das Patt ein gewisses Paradoxon darstellt, aber macht nicht gerade das Paradoxe einen großen Teils des Reizes des Schachspiels aus, z.B. wenn eine materiell klar unterlegene Partei sich auf überraschende Weise ins Remis rettet? Wie viele zauberhafte Studien beruhen auf solchen Motiven? Und dass Materialvorteile wie zwei Springer oder falscher Läufer+Randbauer gegen den nackten König nicht gewinnen, mag zwar intuitiv etwas unbefriedigend erscheinen, aber man weiß es ja im Voraus und muss eben sein Spiel entsprechend einstellen. Auch darin sehe ich kein durchschlagendes Argument. Ich sehe eher die Gefahr, dass nach der Regeländerung sich kaum noch jemand trauen würde, Material zu opfern, weil das Materialverhältnis gegenüber anderen Faktoren an Gewicht gewinnen würde. Wollen wir das wirklich?

Ganz abgesehen davon habe ich auch erhebliche Zweifel, ob sich mit Einführung des Pattsieges überhaupt ein nennenswerter Effekt ergeben würde. Zur Einnerung: Es geht eigentlich um die Remisquote im Spitzenfernschach! Natürlich wären Engines und Tablebases erst einmal "verwirrt", aber na und? Nach kurzer Zeit gäbe es sicherlich neue Engines und neue Tablebases und man wäre wieder am selben Punkt angelangt wie vorher. Und die vielen anderen Remisgründe, die mit der Pattmöglichkeit nichts zu tun haben, blieben sowieso unangetastet.

Fazit: Finger weg vom Regelwerk!

Michael Schwerteck

Ein paar Hintergrunddaten zu meiner Person: Jahrgang 1981, deutsch-französische Nationalität und Sprachzugehörigkeit, wohnhaft in Tübingen. Von Beruf Jurist und Übersetzer. Nahschach spiele ich in der Verbandsliga (4. Liga), DWZ meist irgendwo zwischen 2000-2100. Seit ein paar Jahren spiele ich auch (in bescheidenem Umfang) Fernschach, aktuelle Elo etwa 2325. Schachpublizistisch tätig war ich früher für chessvibes.com (Kolumne "Beauty in Chess" und ein bisschen Turnierberichterstattung), aktuell schreibe ich aber, abgesehen von meiner Tätigkeit hier, nur auf Vereinsebene.

Webseite: koenigskinderhohentuebingen.wordpress.com/

Kommentare   

#1 Losso 2013-10-05 15:10
Das Regelwerk ist gar nicht so eine heilige Kuh wie es hier scheint. Die Modifikation mit dem Pattsieg wie hier vorgeschlagen wäre insofern sehr weitreichend, dass ein weiteres Ergebnis eingeführt wird und der Charakter des Spiels deutlich anders wird. Dabei wäre die Festlegung, für das Patt einen ganzen statt drei Viertel Punkte zu geben doch eigentlich durchaus naheliegend, wird doch auch in ähnlichen Spielen so gehandhabt. Aber auch das würde das Spiel weitreichend ändern, was wohl kaum mehrheitsfähig sein dürfte.

Ansonsten steht es den Fernschachspielern natürlich frei, sich eigene Regeln zu schaffen. Auch die Problemschachspieler haben ja einen eigenen Kodex, der u.a. Die 50-Züge-Regel ausknippst.

Die Teilnahme an unserer Kommentarfunktion ist nur registrierten Mitgliedern möglich.
Login und Registrierung finden Sie in der rechten Spalte.