Ist Schach langweilig?

10.h4!? - Mut zum Neuen! 10.h4!? - Mut zum Neuen!

„Gravissimum est imperium consuetudinis.“
(Groß ist die Macht der Gewohnheit)
, Publilius Syrus (1. Jahrhundert vor Christus)

Schach in der uns bekannten und vertrauten Form scheint in einer Krise zu sein, schenkt man den aktuellen Diskussionen in der Schachpresse und im Internet Glauben. Da ist zum einen das Problem mit den Möglichkeiten des elektronischen Betrugs. Wem kann man noch Vertrauen schenken in einem Zeitalter, in dem Programme auf Handys stärker spielen als die weltbesten Spieler?! Zerstört das gesäte Misstrauen den Ehrenkodex des Fair Play, mit dem über 150 Jahre sportliches Wettkampfschach betrieben wurde?

Und die andere Gefahr: Schach ist tot, ist remis, sagen einige, vor allem die, die es wissen müssen, weil sie an der Weltspitze stehen.

Doch wir sollten uns nicht mit diesen Unkenrufen aufhalten. Unzweifelhaft ist das professionelle Schach auf hohem Niveau sehr hart und der Zwang zur computerintensiven Vorbereitung eine Geisel der Gegenwart, die es allen Beteiligten schwer macht (etwa auch den Lesern von Partieanalysen, die von Großmeistern „erstellt“ wurden, in denen fast ausschließlich mitgeteilt wird, was der Rechner wann von sich gibt…). Aber wenn man nur will gibt es im Schach so viel noch auszuprobieren und zu entdecken. Solange Partien wie die folgende gespielt werden sehe ich nicht den geringsten Anlass dazu, irgendwelche Regeln abzuändern:

Aronjan, Levon (2805) - Harikrishna, Pentala (2669) Damengambit [D56]

8th World Teams Ningbo (6), 23.07.2011

1.d4 ¤f6 2.c4 e6 3.¤f3 d5 4.¤c3 ¥e7 5.¥g5 h6 6.¥h4 0–0 7.e3 ¤e4 8.¥xe7 £xe7 9.¦c1 c6

Aronian-Hari

Die ultrasolide Lasker-Verteidigung gegen das Damengambit gilt gerade als Inbegriff der Remiswaffe. Die Moden wechseln. Vor ein paar Jahren ließ Russisch die Weißspieler verzweifeln und etliche eingefleischte 1.e4-Spieler ins Lager der 1.d4-Anhänger überwechseln. In Kasan beim Kandidatenturnier packten plötzlich fast alle Spieler, wenn sie auf der schwarzen Seite saßen, das orthodoxe Damengambit mit der Lasker-Verteidigung im Speziellen aus, die verzweifelten Weißen sahen sich gar genötigt, auffallend oft mit soften Aufschlägen wie 1.c4 oder 1.Sf3 überhaupt eine Partie ins Mittelspiel hinüber zu retten. Erleben wir bald wieder eine Renaissance von 1.e4 mit so exotischen Sachen wie Evans-Gambit (wie bei Huschenbeth - Gustafsson)?

Zur Partie: rund sechshundert Mal stand die Diagrammstellung in Partien, die den Eingang in die Datenbanken fanden, auf dem Brett. Fast ausschließlich wurde der Läufer gezogen, nach d3 oder e2, Abwartezüge mit der Dame oder a3 fand zuweilen auch Anwendung. Doch was macht Aronian?

10.h4!? ¤d7 11.g4!?

Aronian-Hari2

Selbst wenn die Stellung immer noch objektiv remis sein sollte, so bietet sie doch Anlass zu Glanzzügen wie zu Fehlern. Von Monotonie und angelernten Reflexzügen keine Spur – Kreativität bricht sich Bahn! Jedenfalls ist was ganz Neues entstanden, Weiß will aus dem Stand heraus einfach mattsetzen. Der Inder versucht, einer alten Devise getreu, Flügelspiel mit Zentrumsspiel zu entgegnen. Ob das hier die richtige Strategie ist?

11. ...e5!? 12.cxd5 ¤xc3 13.¦xc3 cxd5 14.g5! h5? Im Bemühen, die Königsseite geschlossen zu halten. Doch bleibt h5 schwach und der Springer gelangt nicht nach f6.

Aronian-Hari3

15.¥b5! exd4 16.£xd4 £e4 17.£xe4 dxe4 18.¤d2 ¤e5!? Will sich mit einem Bauernopfer befreien, doch zeigt Aronian beste, kreative Technik!

19.¤xe4 ¥e6 20.f4 ¥d5 21.fxe5 ¥xe4 22.0–0 ¥d5

Aronian-Hari4

23.¥d7! ¦fd8 24.¦c7 a5 25.a4 ¦a6 26.¦f4 ¦f8 27.¦d4 ¥c6 28.e6 fxe6 29.¥xe6+ ¢h8


Aronian-Hari5

 

30.¥f7! Ein Echozug zu Ld7. Brückenbau im Feindeslager; die gegnerischen Figuren werden wirkungsvoll gehemmt und am Zusammenspiel gehindert.

30. ...¦b6 31.b3 ¥f3 32.g6 ¦c6 33.¦xc6 bxc6 34.e4 ¥e2 35.e5 1–0

Tolles Ding, in allen Phasen sehr pointiert und unterhaltsam vom Armenier gespielt! Es gibt also viel zu entdecken - für die Weltspitze wie für uns Zuschauer.

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