Hintergrund zu "Polonia Griesheim"

Während der Abstiegskampf in der Bundesliga noch nicht entschieden ist steht der erste Aufsteiger bereits fest: In der 2.Bundesliga Süd hat der SV Griesheim alle sieben Mannschaftskämpfe gewonnen, die meisten hoch, und kann nur von Baden-Baden II noch theoretisch überholt werden - aber da deren erste Mannschaft den Klassenerhalt bereits gesichert hat darf die zweite nicht aufsteigen.

Vor knapp einem Jahr wurde Griesheims - aus deren Sicht unglücklicher bis tragikomischer - Abstieg aus der Ersten Liga in diesem Blog hier und hier thematisiert, wobei der Verein sehr kritisch gesehen wurde. Ich hatte damals bereits per Kommentar widersprochen und mache das nun nochmal etwas ausführlicher. Dieser Beitrag beruht zum Teil auf eigenen Erinnerungen (lang lang ist's her), zum Teil auf aktuellen Informationen vom Mannschaftsführer Benedikt Bayer. Der - inzwischen 74 Jahre alt - ist Urgestein im Verein den er auch finanziell aus eigener Tasche unterstützt. Generell werden fast alle Kosten aus dem Verein selbst getragen, daneben gibt es nur kleine Zuschüsse von der Stadt Griesheim und vom Landessportbund für Spielmaterial und Spiellokal. Jetzt - siehe Presseerklärung zum Aufstieg - suchen sie Sponsoren für die nächste Saison.

Gehen wir zuerst mal zurück in der Zeit bis Mitte/Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Ich komme aus demselben Unterverband, damals war ich Jugendleiter des Nachbarvereins SC Gross-Zimmern. Einmal wurden wir hessischer Mannschaftsmeister, ich glaube in der D-Jugend. Meinen stolzen Pressebericht mit Titel "Gross-Zimmern vor Hofheim und Schöneck" haben die meisten Leser der Lokalzeitung wohl nicht ganz kapiert. Wer sich in der hessischen Schachszene nicht auskennt, das ist etwa vergleichbar mit "Österreich besiegt Armenien und Aserbaidschan". Dass die Kids danach keine grossen Fortschritte machten und irgendwann mit dem Schach aufhörten - naja dafür war es der verkehrte Verein und ich der verkehrte Trainer!
Der direkte Kontakt zu Griesheim entstand zunächst als sie ein internationales Jugendturnier organisierten und Gäste aus Osteuropa z.T. auch bei Nachbarvereinen privat unterbrachten, wir bekamen eine Delegation von Bohemians Prag. Gewonnen hat das Turnier übrigens, vor viel älteren Spielern, ein relativ unbekannter 10-jähriger Ungar der kaum übers Schachbrett gucken konnte. Später stellte sich heraus dass dieser Erfolg kein Zufall war, brauchte er kein Kissen mehr auf dem Stuhl sondern begegnete dem Riesen Kramnik körperlich auf Augenhöhe, und er spielte auch noch öfter in Deutschland.
Später fuhren wir gemeinsam zu einem Jugendturnier nach Hlohovec in der Tschechoslowakei (heutzutage minus "Tschecho") - mit zwei Autos, geplant war dass der schnelle Griesheimer BMW den Zimmerner VW Golf unterwegs einholt und dass wir uns an der Grenze hinter Wien treffen, und nur sie wussten das genaue Ziel. Tempo 150 auf der Autobahn funktionierte dann aber nicht, dichter Verkehr und es regnete in Strömen, nur ich war gerade rechtzeitig an der Grenze. Am Visumschalter war aber eine Schlange, und als wir endlich an der Reihe waren sagte der Grenzbeamte "ich habe Feierabend!". Ich wedelte mit der Einladung die ich immerhin hatte: "Schachturnier, wir werden erwartet!", er nur "ihr Problem nicht mein Problem, schlafen in Österreich". Ich blieb einfach stehen, nach einigen Minuten sagte er "wenn's ihnen nicht passt, gehen sie zu meinem Chef, da die Treppe rauf!". Ich machte zwei drei Schritte, dann rief er "schnell schnell Visum ausfüllen!" - offenbar bekam er Angst dass ich doch wichtige Leute kenne ... . Die Telefonnummer meiner Eltern war als Kontakt vereinbart falls unterwegs was schiefgeht, also musste ich dann aus Bratislava in der 'BRD' anrufen, das war verdächtig und auch nicht gerade billig (natürlich in DM bezahlen) und ging nur von der Hauptpost die man erstmal finden muss. Meine Mutter: "Nein niemand hat angerufen, aber Dein Bruder führte auch 90 Minuten Dauergespräch mit seiner Freundin". Und jetzt? Quasi im Blindflug nach Hlohovec, die ungefähre Richtung wusste ich aber es war bereits dunkel und die Strassen voller Schlaglöcher. Dort die ersten Leute am Strassenrand nach einem Schachturnier gefragt, und das waren bereits unsere Gastgeber die seit Stunden warteten. Das andere Auto "schlief in Österreich" und war tags drauf zur ersten Runde immer noch nicht angekommen - "Gries-Zimmern" bekam vorläufig einige Reservespieler aus Leipzig, Vorschuss auf die Wiedervereinigung?

Anekdote Nummer zwei: Einige Zeit später fuhren wir, mitten im politischen Umbruch, nach Prag. Die Kids waren sehr neugierig was in der besetzten westdeutschen Botschaft so passiert, aber von aussen sah man natürlich nix. In der Stadt waren auffällig viele Leute und viel Polizei, es braute sich etwas zusammen ... . Die entscheidenden Stunden verbrachten wir bei einer (stummen) Vorstellung im Theater "Laterna Magika", und erst einige Tage später sah ich im westdeutschen Fernsehen was wirklich los war in Prag: eine Demonstration mit 800.000 Teilnehmern und das Ende des kommunistischen Regimes. Uff, das hätte auch anders ablaufen können, und wir mittendrin. Erst jetzt erfuhr ich von Benedikt Bayer (und Wikipedia) dass das Theater Laterna Magika auch Hauptquartier des oppositionellen Bürgerforums von Vaclav Havel war.

Beim Mauerfall erging es unseren Schachfreunden aus Leipzig ähnlich: Zurück von einem Turnier in Kiew kamen sie nach langer Zugfahrt in Berlin an und wunderten sich warum auf den Strassen soviel los was und die Leute so gutgelaunt. Jemand sagte "sie können gleich weiter nach Westberlin!" "Wie bitte, wir haben doch nicht den 1. April!". Vor der Wende konnten wir sie nur in Drittländern treffen, und auch da waren deren Westkontakte für die Stasi unerwünscht. Und den Griesheimern - da war ich selbst bereits zum Studium in Kiel - ging es in Moskau nochmal ähnlich. Sie waren da genau während des versuchten Putsches, kurz auf dem Roten Platz und dann schnell weiter zum ohnehin geplanten Ziel Jalta.

Warum ich das alles schreibe? Zum einen weil ich die Anekdoten loswerden wollte, zum anderen zeigt es wieweit die Ostkontakte der Griesheimer zurückreichen - während sich diverse andere Vereine wohl erst nach der politischen Wende mit Spielern aus Osteuropa eindeckten. Ich gebe nun Benedikt Bayer das Wort: "Die intensiven Kontakte zu Polen begannen im März 1990, als eine Darmstädter Jugendgruppe zu einem Jugendturnier in die Schwesterstadt Plock eingeladen wurde. Stellvertretend für Darmstadt wegen Spielermangel fuhr Griesheim (quasi ein Vorort von Darmstadt) zum Turnier.  Selbstverständlich wurde eine Gegeneinladung ausgesprochen, die dann zu 20 Jahren intensiver Kontakte führte und die Basis für den Aufbau der Griesheimer Mannschaft wurde. Seit 20 Jahren spielen bereits Bogdan und Miroslaw Grabarczyk für den Verein. Durch die beiden Spieler haben sich wiederum Kontakte zu anderen Spielern ergeben und so wurde es allmählich eine gut harmonierende deutsch polnische Gemeinschaft, die durch ungarische Spieler ergänzt wurde." Die jüngeren Spieler im heutigen Griesheimer Team haben die oben beschriebenen Ereignisse wohl kaum bewusst miterlebt.
Bereits erwähnt: neben Deutsch und Polnisch wird in der Griesheimer Mannschaft auch Ungarisch gesprochen, auch dazu Benedikt Bayer: "Das Interesse für Ungarn und ungarische Spieler hat einen verständlichen Hintergrund, denn schließlich wurde ich im Grenzbereich zu Ungarn im ehemaligen Jugoslawien geboren und bin teils von deren Mentalität geprägt." Die Kontakte entstanden ursprünglich auch durch die Einladung zu einem Jugendturnier in Kecskemet vor ca. 25 Jahren mit anschliessendem Gegenbesuch - für die Ungarn damals die einzige Möglichkeit ein westliches Land kennenzulernen. Ungarische Schächer wurden dann zunächst als (qualifizierte und finanzierbare) Jugendtrainer im Verein eingesetzt, später auch als Spieler in den Mannschaften.
In Griesheim übernachten die ausländischen Spieler generell privat bei Benedikt Bayer, nicht etwa in Hotels. Die Spieler sind in den Gesamtverein integriert, spielen und trainieren auch mit Spielern der anderen Mannschaften. Bayer: "Freundschaftliche Beziehungen entwickelten sich und so wurden auf privater Ebene gemeinsame Urlaube verbracht und drei Ehen haben sich daraus ergeben."

Man kann das Griesheimer Modell natürlich trotzdem kritisieren und fragen "warum so wenige deutsche Spieler in der ersten Mannschaft"? Bayer: "Auch wir hätten gerne mehr deutsche Spieler eingesetzt, wenn wir sie uns finanziell hätten leisten können. Die Forderungen sind fast doppelt so hoch wie die der bei uns spielenden Ausländer. Unsere deutschen Spieler bekommen außer der Unterkunft bei entfernten Spielorten nichts bezahlt." Nun sind finanzielle Erwartungen oder Forderungen gleichwertiger deutscher Spieler wohl nachvollziehbar, schliesslich sind die Lebenshaltungskosten hierzulande höher. Allerdings: Hat ein Spieler mit Elo unter 2600 das "Recht" vom Schach bequem leben zu können? Und jeder Verein kann jeden Euro nur einmal ausgeben. Wie sparsam die Griesheimer sein müssen zeigte sich letztes Jahr beim Entscheidungsspiel in Berlin: Sie reisten morgens an (per Zug aus Darmstadt bzw. Kleinbus aus Polen), und direkt nach dem Spiel ohne Übernachtung wieder ab.

Soweit ich es beurteilen kann ist Griesheim ein "intakter Verein" ähnlich wie Hamburg und diverse Clubs aus Berlin, und keine Söldnertruppe. Gegenbeispiel wäre vielleicht "Europa Trier" - eine bunte Truppe aus aller Herren Länder (wobei ich dazu nicht recherchiert habe). Und vor einigen Jahren gab es, oberflächlich vergleichbar mit Polonia Griesheim, Cesko Bann die mit einer rein tschechischen Mannschaft ein Jahr Bundesliga spielten - damals gab es günstige Flüge von Prag nach Zweibrücken. Allerdings blieb Griesheim auch in der Zweiten Liga zusammen während Bann sich offenbar auflöste, gibt es den Verein überhaupt noch?

Der erste Schein trügt eben mitunter, ich gratuliere den Griesheimern jedenfalls zum Wiederaufstieg! Jetzt noch ein Sponsor - sollte der sich melden, dann auf deutschen Titelträgern bestehen und diese bezahlen hat der Verein wohl nichts dagegen.

Kommentare   

#1 StefanM 2012-03-08 21:03
"Gegenbeispiel wäre ... wobei ich dazu nicht recherchiert habe". Das ist - mit Verlaub - der haarsträubendste Satz, den ich seit langem in diesem Blog gelesen habe. Entweder man kann solche Behauptungen belegen, oder man sollte sie unterlassen. Übrigens, wie sich sehr leicht herausfinden lässt, hat Trier derzeit über 150 Mitglieder und 18 Mannschaften in fast allen Spielklassen. Das scheint mir eine ziemlich intakte Vereinsstruktur zu sein, Herr Richter.

Griesheim ist aber tatsächlich eine ganz nette Truppe, und Benedikt Bayer ein Schachidealist, der Respekt verdient.
#2 Tiger-Oli 2012-03-08 21:22
Sachte, sachte - der Satz von Thomas bezog sich meiner Ansicht nach auf das Bundesligateam von Trier, das scheinbar sehr international aufgestellt ist.
Nur konnte er dazu wohl nicht recherchieren, wie da die familiären/ internen Bindungen sind - ähnlich wie bei Griesheim schon jahrelang etabliert, oder wie bei anderen Clubs auf die Schnelle zusammengebaut.

So habe ich es jedenfalls verstanden. Den Satz mit der Recherche fand ich in Ordnung. Sind ja keine (bezahlten) Profi-Journalisten hier, und selbst die hauen ja manchmal daneben. :-)
#3 Thomas Richter 2012-03-08 23:54
Danke Tiger-Oli, ich meinte natürlich das Bundesligateam von Trier. Dort spielten dieses Jahr zwei Rumänen, drei Engländer, drei Ungarn, drei Polen, ein Georgier ... und auch noch drei Deutsche (Brett 7 und 8 - insgesamt 6 von 88 Partien). Zum Vergleich: Griesheim hatte dieses und letztes Jahr immerhin zwei deutsche Stammspieler, und einige weitere die gelegentlich eingesetzt wurden.

Da frage ich mich schon wie es in Trier ausschaut betrifft Bindung der Bundesligamannschaft intern und zum "Restverein". Wohl jeder Bundesligaverein hat auch Mannschaften in niedrigeren Spielklassen, wenn auch nicht alle soviele wie Trier.

Ich konnte dazu schon recherchieren (email-Adressen stehen ja im Web), hatte ich sogar erwogen. Aber dann hätte ich der Vollständigkeit halber (fast) alle Bundesligavereine kontaktieren müssen!? Und das fand ich übertrieben, jedenfalls für einen unbezahlten Blogbeitrag.

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