Vorbericht: Heusenstammer Sparkassen Open 2015 (26. – 29. November)

„Wo bitte liegt denn nochmal Heusenstamm?“ war meine erste Frage, als ich auf das Ende November stattfindende offene Turnier aufmerksam wurde. Fündig wurde ich in der Frankfurter Umgebung: die hessische Kleinstadt liegt südlich von Offenbach am Main und ist mit der S-Bahn vom Frankfurter Hauptbahnhof in nur 25 Minuten zu erreichen. Der SC Heusenstamm ist ein aufstrebender Verein. In der Oberliga Ost B steht die „Erste“ des Vereins momentan auf Tabellenplatz 1 und hat den Aufstieg in die 2. Bundesliga fest im Visier.

Höhepunkt im Jahresplan ist das Heusenstammer Sparkassen Open 2015. Es schickt sich an, eins der größten, wenn nicht das größte Open in Hessen zu werden.

Heusenstamm wirbt damit, Holzfiguren und Holzbretter als Spielmaterial zu verwenden. Das ist ein Kriterium, welches mich als „Ästheten“ sogleich anspricht.

 

                        

Durch die Bank Holzbretter. Da macht das Spielen Spaß!

Von Donnerstagabend, 17:00 Uhr, bis Sonntagabend werden 7 Runden Schweizer System ausgetragen. Gespielt wird in den zwei Ratingkategorien A und B, wobei das B-Turnier für Spieler mit einer Wertungszahl unter 1600 gedacht ist. Zusätzlich gibt es noch ein Jugendturnier U-14, das aber erst mit einem Tag Verspätung am Freitag, 17:00 Uhr, beginnt und nur fünf Runden umfasst.

Mit dem Kultur- und Sportzentrum Martinssee steht den Organisatoren ein geräumiges Spiellokal zur Verfügung. Hier hat jedes Brett einen eigenen Tisch, da bleibt den Spielern ausreichend Platz, um Kaffee und Getränke abstellen zu können. Hier fühlen sich alle Teilnehmer wie in der 1. Reihe.

Fürstliche Spielbedingungen bis zum letzten Brett: durchweg komfortable Einzeltische

Die Sparkasse Langen-Seligenstadt ist der Hauptsponsor und somit auch Namensgeber. Preisfond in Höhe von 6000 € allein fürs A-Turnier ist garantiert.

Letztes Jahr hieß das neu ins Leben berufene Turnier noch Schloss-Open und wurde in einer Gruppe ausgetragen. 134 Teilnehmer stiegen damals in den Ring, eine beachtliche Zahl für einen Neueinsteiger. Doch 2015 sieht es so aus, als könne der Veranstalter die Teilnehmerzahl mehr als verdoppeln!

Die guten Bedingungen des Vorjahres, die rührige Arbeit der Verantwortlichen – jedenfalls verzeichnet die Internetseite

http://www.schach-chroniken.net/hso/hso_historie.htm

zwei Wochen vor Turnierstart, bereits mehr als 230 Starter! Im Turniersaal stehen 150 Bretter zur Verfügung; gut möglich, dass sich an die 300 Teilnehmer am Donnerstag, den 26. November im Kultur- und Sportzentrum Martinsee einfinden werden, sichern Sie sich deshalb rechtzeitig Ihren Startplatz!

Schon 2014 innovativ:die Spitzenpaarungen werden live ins Internet übertragen und mit dem Beamer an die Wand geworfen

Bei der 2014-Ausgabe war bereits ein sehr starkes Feld zusammengekommen, das neun Großmeister und eine Vielzahl weiterer Titelträger aufwies. Mit dem Chinesen Li Chao war gar ein absoluter Weltklassespieler mit von der Partie. Der 2700-Spieler zeigte dann auch seine sportliche Klasse und holte sich souverän mit 6 Punkten den alleinigen Turniersieg.

Wurde seiner Favoritenrolle gerecht: Li Chao, Supergroßmeister und Bundesligaspieler von Schwäbisch Hall

Heuer hat sich zwar kein Superstar angekündigt, aber die Spielstärke in der Spitze wird wohl noch gedrängter sein als im Vorjahr. Träger des Großmeistertitel sind genau 10 angesagt, dazu gesellen sich noch 10 IM, 5 FM sowie zahlreiche ambitionierte Jugendspieler, die auf Normen aus sind. Angeführt wird die Teilnehmerliste vom französischen Nationalspieler Sebastien Feller. Feller war fast drei Jahre vom Weltverband FIDE gesperrt gewesen, da er im Verdacht stand, zusammen mit Teamkollegen bei der Olympiade in Chanty-Mansijsk betrogen zu haben. Damals war der mittlerweile 24-jährige Feller ein hochtalentierter Jugendlicher. Eine Jugendsünde?! Dem Schach ist Feller treu geblieben, an seiner Spielstärke hat er nichts eingebüßt und spielt wieder sehr aktiv.

Einer der Topfavoriten ist Andrej Sumets aus der Ukraine

Unter den Favoriten mit dabei sind auch wieder Andrej Sumets, der Vorjahresdritte, sowie Igor Rausis, Fünfter der letzten Ausgabe.

Für den ausrichtenden Verein starten auch einige ihrer Titelträger aus der Oberligamannschaft, allen voran Spitzenbrett Daniel Sadzikowski aus Polen. Der 21-jährige ist der einzige IM mit einer Zahl über 2500 und wird sicherlich im Kampf um den Turniersieg ein Wörtchen mitreden können.

Dr. Igor Rausis ist Kosmopolit im Schach, kam viel herum und spielte für mehrere Verbände. Seit 2007 vertritt er Tschechien.

Heusenstamms Spitzenspieler Daniel Sadzikowski (l.) hier im abgesperrten Bereich der Spitzenbretter, die ins Internet übertragen wurden.

Hochkonzentriert: früh übt sich, wer Meister (oder Meisterin) werden will

Der Beweis: selbst bei doppelt so vielen Teilnehmern wie 2014 stehen die Chancen für einen Einzeltisch sehr hoch!

Wenige Meter vom Spiellokal entfernt liegt idyllisch der Martinsee

Turnierseite:

http://www.schach-chroniken.net/hso/2015/a/hso_ausschreibung.htm

Der Sommer bäumt sich noch gegen sein Ende auf, in Baden-Württemberg sind sogar noch Sommerferien – schon steht die neue Saison in der Deutschen Schachbundesliga vor der Tür!

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Ganz schön schräge Typen sind hier zusammengekommen. Summer has almost gone, nun will man wieder Haken schlagen!

Nanu? Gerade hat erst der September begonnen… doch, tatsächlich, die Bundesligasaison 2015/16 beginnt ziemlich früh. Der Terminkalender war im Herbst bereits ziemlich prall, internationale Turniere allerorten. Nach langem Hin- und Her und Abwägen wählten die Verantwortlichen der Schachbundesliga e.V. den Termin 19. und 20. September zum Auftakt der Saison. Für manche Teams beginnt der Zyklus bereits einen Tag früher: am 18. 9. wird in Baden-Baden und in Schwäbisch Hall bereits die vorgezogene 7. Runde, traditionell das Aufeinandertreffen der Reisepartner, absolviert. Somit sieht Schwäbisch Hall sogleich zum Saisonstart einen der Saisonhöhepunkte: ein langes Wochenende vor heimischen Publikum. Und im Duell mit den zur ersten Runde anreisenden Solingern kommt es am Samstag, den 19., sogleich zu einem Spitzenspiel in Hall!

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Hall liegt recht idyllisch am Kocher. Fachwerkhäuser und viele Brücken bestimmen die Szenerie

Solingen scheint recht motiviert zu sein. Die Jungs aus der Klingenstadt haben nochmal ihre Messer gewetzt und ein paar Scharfrichter geholt: den unberechenbaren Richard Rapport nenne ich gleich als ersten. Auch Anish Giri ist nicht ungefährlich, allerdings neigt er unter seinesgleichen zu einem hohen Remisanteil. Fragt sich nur, wieviel seinesgleichen er noch in der Liga findet!

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Richard Rapport geht sorgsam mit seinem Partieformular um 

Solingen will dem Dauermeister Baden-Baden die Feierlaune vermiesen. Immerhin verteidigt Solingen noch den Titel Rekordmeister mit elf Deutschen Meisterschaften (allerdings noch vor der digitalen Revolution und vor Erfindung des Privatfernsehens eingefahren) gegenüber nur 10 von Baden-Grenke.

Auch nicht zu verachten die weiteren Teams des Wochenendes: Trier gehörte in der Vorsaison auch zu den Spitzenmannschaften und ist sehr ausgewogen besetzt. Erfurt ist Aufsteiger, hat ein paar Profis dazugewonnen und stemmt sich mit aller Macht gegen den Abstieg.

Gastgeber Hall ist freilich auch hochmotiviert: als Neuling in der Liga gelang uns in der Saison 2014/15 auf Anhieb der 4. Platz – fast wäre es gar noch der Dritte geworden. Wie kann die Parole dann nur lauten: ein Platz auf dem Treppchen wird angepeilt!

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Wird vermutlich beim Knock-Out in Baku verweilen: Halls Neuzugang Maxim Rodshtein 

Wegen der Überschneidung mit dem FIDE-World Cup in Baku müssen die besseren Teams voraussichtlich auf einige ihrer Stars verzichten. So weilt der oben erwähnte Giri am Kaspischen Meer, Halls Nummer Eins, Dmitri Jakowenko, will es ihm gleichtun.

Stark genug bleiben beide Teams noch, die Großmeisterdichte in Hall wird sicherlich deutlich über 50 Prozent der beteiligten Spieler liegen.  

Dieser Kerl könnte Richie R. am Brett durchaus einheizen:

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Markenzeichen Nuckelflasche: Li Chao, der chinesische Tiger

Seine Elozahl geht immer noch beständig nach oben, mit aktuell 2756 steht er auf Platz 14 der Welt: trotzdem ist Li Chao noch nie in einem Superturnier aufgetaucht. Immerhin bekam er die Chance, einen Beinahe-Weltmeister zu verprügeln: ein Wettkampf mit Peter Leko im August endete 4:2 für Li Chao. Da die chinesische Stärke, die offenbar in der richtigen Grünteemischung liegt, mittlerweile auf der ganzen Schachwelt anerkannt ist, haben die Haller ihren Star angehalten, einen hoffnungsvollen Schüler mit ins Süddeutsche zu bringen. Gesagt, getan, nun darf der Neugierige auf den Jugendlichen Jinshi Bai gespannt sein, der wahrscheinlich bald Großmeister werden wird und noch einiges an Potential besitzt.

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Jinshi Bai will Europa kennenlernen

Umrahmt wird die Veranstaltung von Livekommentaren, im Internet wird ein Videostream diejenigen unterhalten, die es am besagten Wochenende nicht nach Hall schaffen. Das ist ein toller Service, vielzählige Videokameras ermöglichen es Ihnen, die Spieler ganz von Nahem zuhause an Ihrem Bildschirm begutachten zu können. Aber noch besser ist, sie kommen vorbei und machen sich selbst ein Bild. Von den Stars, von der Spannung, der unvergleichlichen Bundesligaatmosphäre, oder auch vom hübschen Städtchen Schwäbisch Hall. Schönwetter ist angesagt! 

Hier nochmal das ganze Programm in der Übersicht:

    Ausrichter: SK Schwäbisch Hall, Stadtwerke-Arena an der Limpurgbrücke 1                                        

Fr. 18. 9.:

16:00  SK Schwäbisch Hall – Erfurter SK

Sa. 19. 9.:

14.00 SK Schwäbisch Hall         -  SG Solingen                       

14.00 Erfurter SK                -  SG Trier

So. 20. 9.:

10.00 SG Solingen                -  Erfurter SK                      

10.00 SG Trier                   -  SK Schwäbisch Hall

  

Ritterlichkeit war mal: welche Vorstellungen von Fair-Play prägen die Opens?

Herr S. ist ein begeisterter Amateurspieler. Turnierschach spielt er erst seit zwei Jahren, war schon über 40, als er begonnen hat, sich intensiver mit der Materie auseinanderzusetzen. Er ist seither ein engagierter und ernsthafter Schachspieler, der nach einem harten Arbeitstag noch Stundenpartien im Internet spielt, Bücher liest, sich ein Eröffnungsrepertoire zusammengestellt hat und regelmäßig mit einem Trainer, mir, übt. Zwei- bis dreimal im Jahr spielt Herr S. ein Turnier, nimmt sich dafür einen Großteil seines Jahresurlaubs, nimmt die Kosten für Startgeld, Unterkunft und Reise auf sich. 

Letztens schrieb er sich fürs Pfalzopen in Neustadt an der Weinstraße ein und ging motiviert in die erste Runde des B-Turniers. Seine Turnierwertungszahl lautete 1317 – seine Elozahl von 1630, die aus nur wenigen Partien zustande kam, wurde nicht zu Rate gezogen. Die „Wahrheit“ liegt wohl irgendwo dazwischen, schon öfters hat er Spielern mit 1800 ein Remis abgeknöpft, aufgrund seiner mangelnden Turnierpartien sind seine Leistungen wechselhaft, aber seine Fortschritte in Spielverständnis und Schachkultur offenkundig. Desöfteren „wundern“ sich seine Gegner, warum er so gut spielen würde, viel besser, als es seine Zahl vermuten ließe. Manche beschimpfen ihn gar deswegen, fühlen sich „betrogen“,  weil ihre Erwartungshaltung seiner Spielstärke(-schwäche!) ihre Konzentration trübe! Regelmäßig bekommt er Remisangebote, obgleich er einen Bauern oder gar eine Figur mehr hat. Wenn die Leute zu verlieren drohen, klammern sie sich an jeden Strohhalm…

Nun aber zur 1. Runde beim Pfalzopen:

Dieses verzeichnete einen regen Publikumsandrang, Rekordteilnehmerzahl! Die Berufsbildende Schule, ohnehin räumlich sehr eng bemessen, platzte aus allen Nähten, schlechte Luft. Kein Durchkommen bei der Begrüßungsansprache, Drängeln. Herr S. zog es vor, das Treiben aus der Ferne zu beäugen, die Kräfte für die bevorstehende Abendpartie, die ja bis Mitternacht gehen konnte, zu schonen.

Dann ging es los, Herr S. führte die weißen Steine gegen einen 15jährigen Jugendlichen, Philipp R., der mit knapp 1700 der Favorit in dieser Begegnung war. 

Bevor es losging, machte Herr S. sein Handy „unschädlich“. Vor den Augen des Gegners nahm er den Akku aus dem Gerät, steckte ihn in seine Hosentasche und das Handy in die Innentasche seines Wintermantels, den er in der Ecke des Raumes an eine Garderobe hängte, etliche Meter vom Brett entfernt. Herr S. hielt diese Vorkehrungen für absolut ausreichend, machte sich keine weiteren Gedanken und eröffnete mit 1.d4. Alsbald entstand das Sämisch-System gegen Königsindisch, das er sich als Repertoire angeeignet hat: 1. …Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.f3 0-0 6.Le3 e5 7.d5 Se8. Hier endeten seine Theoriekenntnisse, er spielte 8.Sge2 f5 9.g3!?, sicherlich nicht ideal oder theoretisch, doch durchaus plausibel. Sein jugendlich übermütiger Gegner, der zu ziemlich flottem Zugtempo neigte, versuchte sogleich eine Attacke in der f-Linie: 9. …Df6 10.Dd2 fxe4 11.fxe4 Df3 12.Tg1

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Und hier packte das Jungtalent eine „Keule“ aus: 12. …Lh6??! Das schockierte Herrn S. zunächst, aber wie er die Sache näher betrachtete, wunderte er sich nur, was sein Gegner beabsichtigte. Er zog – es gab auch nichts anderes – 13.Lxh6 Df2+ 14.Kd1 Dxg1 15.Sxg1 Txf1+ 16.Kc2 Txa1

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Materiell ist es ja recht ausgeglichen, zwei Türme für die Dame. Aber! Schwarz ist ziemlich unterentwickelt, und seine Königsstellung … hier kam Herr S., der inzwischen mehr als eine halbe Stunde Bedenkzeit verbraucht hatte, sein Gegner dagegen noch keine 10 Minuten, eine gute Idee: 17.Dg5! mit offenkundigen Drohungen gegen e7 und d8. Sein Gegner fasste sofort nach seinem Turm und fraß in Windeseile den Springer. Materialgierig eben: 17. …Txg1??, doch nach 18.De7 wurde er unruhig. Wenig später verließ der junge Mann das Brett, obgleich er am Zug war. Herr S. hatte schon mitbekommen, dass sich sein Gegner desöfteren mit seinem im Hintergrund mitfiebernden Vater beriet. Herr S. betrachtete die Stellung, und es wurde ihm zu seiner Zufriedenheit immer klarer, dass das Matt nicht mehr zu verhindern war:

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Weitere Minuten vergingen, dann sah Herr S. seinen Gegner wieder nahen. Im Schlepptau seinen Vater und ein weiterer Mann, der sich als Schiedsrichter entpuppte. Der Schiedsrichter trat an Herrn S. heran mit den Worten: „Ihr Gegner behauptet, Sie würden ein Handy mit sich führen. Trifft das zu?“

Wahrheitsgemäß antwortete Herr S., dass er den Akku, den er dem Handy entnahm, in der Hosentasche hätte, und sich das Gerät im Mantel an der Garderobe befände. Auf Anweisung des Schiedsrichters zeigte er diesem die Gegenstände. „Sie wissen, dass Sie kein Handy mit sich im Turniersaal führen dürfen?“ „Nein, mir ist nur bekannt, dass man verliert, wenn es klingelt. Es ist ausgeschalten und funktionsunfähig.“ „Schon das Mitführen des Handys führt zu Partieverlust“ blieb der Schiedsrichter unbeirrt, „das hätten Sie wissen müssen, wir haben es bei der Turniereröffnung mitgeteilt.“ „Ich war aber nicht bei der Eröffnungsveranstaltung. Es war zu eng, man hat nichts gehört.“ Herr S. versuchte, den Schiedsrichter von seinem unlauteren Verhalten zu überzeugen. Er wies auch darauf hin, dass sein Gegner sich mehrmals vom Brett entfernte und sich mit seinem Vater unterhielt bzw. Tipps einholte, während er sich in der knappen Dreiviertelstunde, die die Partie bislang dauerte, nicht vom Brett rührte.

Es gab Diskussionen, das Schiedsrichterteam zog sich für eine Weile zur Beratung zurück. Dann der Bescheid des Schiedsrichters: es täte ihm sehr leid, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Herr S. völlig auf Gewinn stünde und offenkundig nicht betrogen und ehrlich geantwortet hatte, aber „Regel sei Regel“, ihm seien „die Hände“ gebunden. Die Partie müsse für Herrn S. genullt werden. 

Eine herbe Enttäuschung für unseren Hobbyspieler, der in die Fänge eines absurden Regelwerks geriet.

Herr S. beließ es dann auch auf sich, „schluckte“ die bittere Pille, und nahm es als „Erfahrung“.

Aber was ist das nur für eine desillusionierende Erfahrung?!?!

Ich bin keinesfalls der Ansicht, dass man „Schwamm drüber“ sagen und zur Tagesordnung übergehen sollte. Nein, meines Erachtens gehört dieser Fall an die Öffentlichkeit!

Denn der Fall könnte „Schule machen“, Denunziationen an den Open zur Tagesordnung werden.

Denn betrachten wir nochmal, welche Art von „Gerechtigkeit“ obsiegte: der Schiedsrichter sprach Herrn S. explizit mit den Worten an: „es wurde behauptet, Sie würden ein Handy mit sich führen“.

Das war es, was der halbwüchsige Denunziant an den Schiedsrichter herantrug, nach Beratung mit seinem fürsorgenden Vaterkomplizen: er sagte nicht: „ich glaube, mein Gegner betrügt mit einem Handy.“ Nein, er sagte nur: „mein Gegner führt ein Handy bei sich.“ Weil er gesehen hatte, wie Herr S. es „wegschloss“. Weil er von der Regel gehört hatte, dass die bloße Anwesenheit eines Handys zu Partieverlust führen würde. Und weil er sich nicht mehr anders zu helfen wusste, denn er stand ja auf Matt! Um den eigenen Kragen zu retten, ist die heutige Jugend also durchaus bereit, andere an den Pranger zu stellen. Was aber der Gipfel der Krönung ist: sie werden von ihren überehrgeizigen Eltern dazu ermuntert, unbescholtene Amateure anzuschwärzen! Wo es um DWZ-Punkte geht, ist einem jedes Mittel recht! Und das Traurige dabei: der Schiedsrichter bestraft den, der fair spielt, und gibt dem den Punkt, der die Konsequenzen seiner Fehler nicht zu tragen bereit ist. Der viel zu schnell – und offensichtlich zu arrogant - spielt, seinen Gegner nicht „ernst“ nimmt, zudem den nötigen Respekt missen lässt. Der falsch kombiniert, und dafür noch den sportlichen Erfolg bekommt.

Früher war Schach noch eine Art „Charakterschule“. Dadurch, dass es einen zur Objektivität zwingt, müssen wir lernen, uns selbst und die Gegner objektiver einzuschätzen. Die Fähigkeit zur Selbstkritik war ein wichtiger Weg zum Besserwerden. Wir verlieren, weil wir Fehler machen, etwas falsch einschätzen. Aber wo bleibt der Lerneffekt, wenn fehlerhaftes Spiel mit Punkten belohnt wird?

Wir leben in einer Generation der „Prinzen“. Die Prinzengruppe im Schach steht für talentierte junge Spieler, die gezielt gefördert wurden. In den meisten Familien gibt es heutzutage „Prinzen“, oder solche, die es werden sollen, wenn es nach dem Wunsche der Eltern ginge. Und diese potentiellen Prinzen werden verwöhnt, verhätschelt, gepuscht. Jegliches Ungemach wird von ihnen ferngehalten, sie lernen es nicht, die Konsequenzen auszuhalten – schlechte Züge, die eigentlich die Niederlage verdienen, werden konterkariert.

Auch die Wissenschaft und die Medien beobachten vermehrt das Phänomen, dass Kinder verhätschelt und zum Narzissten herangezogen werden.

Für Schach in der Schule wird vielfach geworben, auch Exweltmeister Kasparow engagiert sich viel in diverse Projekte. Der Gesellschaft soll vermittelt werden, warum es sinnvoll ist, als Heranwachsender Schach zu spielen. Weil man dadurch Fähigkeiten – heute heißt es Kompetenzen, gar „Kernkompetenzen“ – erlernen, einüben kann. Sei es logisches Denken, die bildhafte Vorstellung,  Willensfähigkeit, Selbstbeherrschung. Auch die objektive Einschätzung von Situationen wurde früher immer gern genannt, im Bemühen, den Stellenwert des Schachs in der Gesellschaft zu mehren. Doch mittlerweile scheint vor allem eins gefragt: der Erfolg: „junge Leute, spielt Schach! Da lernt ihr schon früh,  wie man sich Vorteile verschafft, sich durchsetzt. Begreift, dass nur der Erfolg zählt! Und bloß keine Rücksicht! Lernt, euch zu behaupten, das Leben ist ein Kampf, und Ellbogen sind gefragt!“ Das wär doch mal ein toller Werbeslogan. Und die Eltern lassen sich so überzeugen: „Hatten Sie schon immer das Gefühl, dass Ihr Kind das Schlauste von allen ist? Haben Sie auch einen Prinzen, der es verdient, richtig groß rauszukommen? Im Schach kann Ihr Zögling endlich zeigen, was in ihm steckt! Und der Erfolg wird auf Sie zurückfallen!“       

Um noch auf den/die Schiedsrichter zurückzukommen. Das Totschlagargument heißt dann immer „uns sind die Hände gebunden“. Ich habe mich mit einem befreundeten FIDE-Schiedsrichter über den Fall unterhalten, und der sieht sehr wohl Möglichkeiten zur Interpretation in den Statuten der FIDE, die dem Schiedsrichter Eigenverantwortung bieten, die ein fallgerechtes Abwägen erlauben. So steht in  Art. 11.3 b [...] „wenn es offenbar ist, dass ein Spieler ein solches [z. B. Handy] Gerät in das Turnierareal gebracht hat, verliert er die Partie. [...] Das Turnierreglement kann eine weniger strenge Bestrafung vorsehen.“ Gerade dieser Nachsatz lässt dem Schiedsrichter Freiheiten. Offenkundig wird dieser von vielen Schiedsrichtern überlesen.

Oder unter

- Art. 12.2 steht:

Der Schiedsrichter,

a) sorgt für faires Spiel

b) handelt im besten Interesse der Veranstaltung

Man muss also nicht strikt Regeln befolgen – was für die Schiedsrichter freilich oft das einfachste wäre! – sondern ist gar angehalten zum Abwägen, zum eigenverantwortlichen Entscheiden im Sinne von fair-play und zum Wohle der Gesamtveranstaltung. Hinsichtlich beider Punkte trafen die Schiedsrichter in Neustadt meines Erachtens nicht die richtige Entscheidung: es scheint nicht besonders fair zu sein, den, der auf Matt steht und offenkundig eine Ausflucht sucht, zu belohnen. Auch muss man nicht in der 1. Runde eines B-Opens drastische Strafen aussprechen, wenn Strapazen wie –Anreise am Freitagabend, -Spielen zu später Stunde, Gedränge im engen Turnierort etc., an den Nerven der Teilnehmer zehren. Herr S. wird nach dieser Erfahrung höchstwahrscheinlich nicht mehr am Pfalzopen teilnehmen, man vergrault Teilnehmer – das kann unmöglich im besten Interesse der Veranstaltung gehandelt sein!

kf2105220pxZudem gibt es den Paragraphen

- Art. 11.3 a) Während des Spielverlaufs ist es den Spielern verboten, [...] Informationsquellen oder Ratschläge zu benutzen [...].

Mit gleichem Recht hätte der Schiedsrichter darauf beharren können, denn offenkundig nahm der Jugendliche Rat von seinem Vater an und suchte während der Partie nach dessen Unterstützung.

Kurzum: es gab einige Interpretationsmöglichkeiten, dem Schiedsrichter waren die Hände mitnichten gebunden. Fingerspitzengefühl wäre bitter nötig gewesen. An den wichtigsten Parametern, die ein Schiedsrichter laut meines Freundes zur Grundlage seines Handelns machen sollte, mangelte es: Abwägen und Verhältnismäßigkeit.

Der Schiedsrichter hat auch eine Vorbildfunktion: er steht für Fairness und korrektem, respektvollen Umgang am Brett. So gesehen hat er mit dieser Entscheidung, die jedes Verständnis von Fairplay auf den Kopf stellt, seinem Berufsstand einen Bärendienst erwiesen. Wenn schon die Eltern dazu nicht fähig sind, sollten wenigstens die Schiedsrichter dafür sorgen, dass die Heranwachsenden eine Vorstellung von ethischem Empfinden entwickeln können. Jenseits der Komfortzone einer heilen Prinzenwelt, auch wenn`s mal weh tut. Denn Frustrationstoleranz ist eine „Kernkompetenz“, die Ihrem Kind später einmal zum Vorteil gereichen könnte! 

Das Turnier „mit Herz und Niveau"

In wenigen Tagen ist es wieder mal soweit, in Schwäbisch Gmünd startet die mittlerweile schon 27. Ausgabe des Traditionsturniers „Staufer Open“. Unter den offenen Turnieren in Deutschland nimmt es schon lange eine Sonderstellung ein, es gehört zu den Größeren in unseren Landen, vor allem zählt es von den Räumlichkeiten, dem Ambiente her als eines der schönsten. Das Congress-Zentrum Stadtgarten bietet  viel Platz, insbesondere nach oben.

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Viel Luft im geräumigen Turniersaal, dem Aushängeschild des Staufer Open, das laut Ausrichter ein „weltmeisterliches Ambiente“ bietet.

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Blick auf die Bühne während der Eröffnungsansprache. Vor der Bühne erkennt man ein paar separierte Bretter. Das sind die Spitzenbretter des Open, an denen meist die Titelträger, aber auch immer wieder Amateure ums Preisgeld streiten.

Aber auch in die andere Richtung nimmt die Ausdehnung großangelegte Formen an, in der darunterliegenden Tiefgarage kann man während der ganzen fünf Turnierlage umsonst parken. Autofahrer sind insofern privilegiert, da kann einem höchstens der Winter auf der schwäbischen Ostalb einen Strich durch die Rechnung machen. Bequemer ist es freilich, vor Ort zu übernachten. Trotz der Landesgartenschau, die im letzten Sommer in Schwäbisch Gmünd, der ältesten Staufer-Stadt, ausgetragen wurde, sind Fremdenzimmer in Gmünd immer noch ein bisschen knapp bemessen, einige neue Hotels haben noch nicht eröffnet.

Wer also noch ein Zimmer benötigt, sollte sich sputen, es wird knapp! Immerhin haben sich schon mehr als 250 Teilnehmer für A- oder B-Turnier vorangemeldet,  das lässt auf eine steigende Zahl der Starter hindeuten. Im Januar 2014 nahmen knapp Spieler an der 26. Auflage teil.  

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Wieder mit von der Partie: Ilmars Starostits und Oliver Schackmann. Der unbekannte Jugendliche schlug letztes Jahr sensationell den lettischen Großmeister. Mittlerweile liegt Oliver schon bei fast 2100 ELO.

Zum zweiten Mal wird das Turnier in zwei Gruppen, A-Open ab 1800 und B-Open bis 2000 Elo/DWZ, ausgetragen. Einige Neuerungen hält die aktuelle Ausgabe indes auch parat: so wird im A-Open zum ersten Mal mit einem neuen Zeitmodus gespielt: nämlich mit Inkrement, um zu verhindern, dass Spieler über die Zeit gelupft werden können. Statt des bisherigen 2 h für 40 Züge plus 30 Minuten für den Rest (kommt im B-Turnier zur Anwendung) heißt es heuer 100 Minuten für 40 Züge, 20 Minuten bis zum Partieende, dabei aber von Beginn an 30 Sekunden zusätzlich pro Zug!

Neu ist auch die Homepage des Turniers, die die Gmünder überarbeitet haben. Diese bietet alle wichtigen Informationen, unter anderem kann man sich nun übers Internet anmelden:

http://www.staufer-open.de

Desweiteren wird es am 4. Januar das traditionelle Kinderturnier mit Schnellpartien für unter -14-Jährige geben.

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Siegerehrung bei den ganz Kleinen, den Unter-8-Jährigen

Auch in der Spitze wird das 2015-Open an Klasse zulegen, bislang haben sich bereits rund 30 Titelträger angemeldet, darunter 8 Großmeister, 2 Frauengroßmeisterinnen und 7 Internationale Meister. Turnierfavoriten sind die beiden großen Bu`s, Rainer Buhmann und Vladimir Burmakin, die schon öfters das Staufer Open gewinnen konnten, und immer wieder gern dabei sind. Zu den Mitfavoriten zählen Normunds Miezis, ebenfalls ein Dauergast in Gmünd, sowie die „Deutschen Prinzen“ in ihrem Schachjahr, Matthias Blübaum und Dennis Wagner, die nun, durch die neuere Modus mit A-und B-Gruppe sowie beschleunigter Auslosung angezogen, auch ihren Weg auf die schwäbische Ostalb auf der Suche nach Normmöglichkeiten fanden. Blübaum hat mittlerweile seinen Großmeistertitel bereits gesichert, Wagner ist auf dem besten Wege dahin.

Vorläufige Teilnehmerliste:

http://www.staufer-open.de/a-open

An Attraktivität hat auch der Austragungsort, Schwäbisch Hall, im letzten Jahr deutlich dazugewonnen. Zur baden-württembergischen Landesgartenschau im abgelaufenen 2014 wurde die große Kreisstadt Gmünd, im Württembergischen zwischen Stuttgart und Aalen gelegen, jahrelang umgebaut und verschönert, die Ergebnisse konnte der Tourist ab dem letzten Mai begutachten.

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Bilder aus dem Sommer: die Rems wurde zentrumsnah zum Badestrand umfunktioniert, manche neue futuristisch anmutende Häuser kann man an ihrem Ufer entdecken. Zum Baden einladend wird es Anfang Januar dennoch nicht sein… 

Kulturell wie historisch hat Schwäbisch Gmünd einiges zu bieten, vor allem ein mittelalterliches Stadtbild in der Altstadt mit schönem Markplatz, ich verweise auf den Wikipedia-Artikel:  

http://de.wikipedia.org/wiki/Schw%C3%A4bisch_Gm%C3%BCnd

Sowie die Internetpräsenz der Stadt:

http://www.schwaebisch-gmuend.de/

Blick vom Koenigsturm

Wer kennt von den heutigen Vereinsspielern noch Zukertort? Das wäre mal eine Umfrage wert. Vorstellbar, dass die junge Generation dahinter nicht viel mehr als eine dergestaltige Delikatesse vermuten würde:

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In die Schachgeschichte ging Johannes Hermann Zukertort vor allem als tragische Figur ein: als Verlierer des ersten offiziellen Weltmeisterschaftskampfes, der im Jahre 1886 in drei Städten der USA ausgetragen wurde, und aus dem Wilhelm Steinitz als Sieger hervorging. Mit dem Wettkampf verlor der Unterlegene nicht nur ein Spiel, die menschliche Katastrophe folgte auf dem Fuße: finanziell litt Zukertort stark unter der Niederlage. Heutzutage erhält auch der Verlierer eines WM-Kampfes eine ausgezeichnete Entschädigung, mit der sich ein angenehmer Lebensabend bestreiten lässt. Damals strich nur der Sieger ein sattes Geldpolster ein. Die Kontrahenten in einem Zweikampf mussten ihren Einsatz entrichten, jede Seite hatte ihre Stakeholders, Mäzene und Geldgeber, die auf ihren Sieg wetteten. Der Wettkampf zog sich wochenlang hin, Zukertort, der in London lebte, musste übers Meer nach Amerika, wieder zurück – kurzum, er ging leer aus. Zudem war seine Gesundheit ruiniert, sein Selbstvertrauen erlitt einen irreparablen Schaden, er fand nicht mehr zu alter Stärke zurück. Zwei Jahre nach dem WM-Kampf starb er – an einem Schlaganfall, einer Herzschwäche, mutmaßlich gar an „gebrochenem Herzen“ (Broken-heart-syndrom ist in der Medizin ein anerkannte Krankheit: emotionaler Stress lässt die Herzgefäße verengen).

Durchaus plausibel, zu behaupten, dass die Niederlage Zukertort in letzter Konsequenz das Leben gekostet hat. Als er starb, war er gerade mal 45…

Abgesehen von dieser tragischen Note ist vieles im Leben Zukertorts von Mythen und Legenden umrankt. Er selbst hat sicherlich dazu beigetragen, dass „Wunderdinge“ über ihn in den Umlauf kamen. So soll er etliche Sprachen fließend gesprochen, mehrere Uni-Abschlüsse gehabt haben. Selbstverständlich auch den Doktortitel in Medizin, anscheinend hätte er sich sogar in mehreren Kriegen (1866 und 1870) ausgezeichnet und diverse Tapferkeitsmedaillen eingeheimst. Und so nebenbei sei er auch noch Klaviervirtuose usw. usw. gewesen…

Schaut man mal kritisch und genauer hin, was vor allem die polnischen Historiker Tomasz Lissowski und Cezary W. Doma?ski in ihrer Zukertort-Biographie Arcymistrz z Lublina  2002 taten, bleibt nicht viel von all dem übrig. Zukertort hat zwar in Breslau Medizin studiert, aber das Studium nie abgeschlossen, schon gar nicht mit einem Doktortitel. Auch seine Kriegsabenteuer in bestem Münchhausen-Stile waren geflunkert, höchstens als Helfer in der medizinischen Abteilung war er eventuell im Einsatz.

Offenbar warb der Pole im Londoner Exil für seine Sache, versuchte er, Gönner für sich einzunehmen.  Unbestritten musste er über ausreichend Witz, Charisma und Esprit verfügt haben, denn es gelang ihm tatsächlich, in England populär und geschätzt sowie in elitäre Schachzirkel aufgenommen zu werden. Zunächst noch ein paar weitere biographische Daten: in Breslau verlor sich der Student unwiderruflich ans Schach. Hier residierte Adolf Anderssen, der vielleicht der damals stärkste Spieler der Welt, zumindest der mit dem renommiertesten Namen, nachdem sich Morphy vom Schach zurückgezogen hatte. Zukertort wurde Schüler, dann Sparringspartner des großen Deutschen, wechselte unzählige Partien und Wettkämpfe mit ihm. 1867 ging Zukertort nach Berlin, wo er Redakteur der Neuen Berliner Schachzeitung wurde, 1872 dann entschloss er sich zum Umzug nach London, wo er sich ein besseres Auskommen als Schachprofi erhoffte. In der Londoner Zeit nahm seine Spielstärke auch kontinuierlich zu, er wurde zu einem der besten Spieler der Welt. Höhepunkt seiner Karriere war London 1883, wo er die gesamte Konkurrenz einschließlich Steinitz deutlich distanzierte. Erst gegen Ende des langen Turnieres, als er bereits als Sieger feststand, verlor er noch ein paar Partien, wodurch sein Vorsprung auf nur(!) drei Punkte vor Steinitz schmolz.

Die Schachöffentlichkeit betrachtete ihn danach als weltbesten Spieler, was den der eitle Steinitz nicht auf sich beruhen lassen konnte. Fast drei Jahre dauerte es schließlich, bis die Modalitäten für ein großes Match geklärt waren. Zukertort wollte in London spielen, Steinitz in seiner neuen Heimat USA. Schließlich fügte sich Zukertort in ein Match in Übersee, sicher ein psychologischer Vorteil für den fünf Jahre älteren Steinitz.  Zwar ging Zukertort rasch in Führung, verlor aber dann zusehends die Geduld. Er neigte zum schnellen, impulsiven Ziehen – sein Gegner verbrauchte oft doppelt so viel Bedenkzeit -, was ihm mehrere Partien kostete. Nach einer Berechnung, die von Johannes Minckwitz angestellt wurde, betrug der gesamte Bedenkzeitverbrauch während des Wettkampfes 48:27 Stunden für Steinitz, dagegen nur 31:39 Stunden für Zukertort!

Der nervlichen Belastung eines wochenlangen Ringens im WM-Zweikampf zeigte sich Steinitz letztlich besser gewachsen.

Soviel zur „Geschichte“, kommen wir zum Buch: Jimmy Adams hat in seiner Fleißarbeit so ziemlich alles zusammengetragen, was über Zukertort publiziert wurde: vor allem seine Partien, die machen den weitaus größten Teil der über 500 Seiten dicken Biographie aus. Adams selbst analysiert nicht, nimmt keine Stellung dazu. Er hat die Anmerkungen zu den Partien aus zeitgenössischen Quellen entnommen, mühselig zusammengetragen. Zukertort im Spiegel der damaligen (Schach-) Presse wird so erlebbar. Der andere Teil des Buches besteht aus Artikeln, die über Zukertort geschrieben wurden. Größtenteils sind dies unmittelbare Nachrufe auf seinen frühen Tod, einiges ist erst später, mit gewisser Distanz, geschrieben worden. In diesem Zusammenhang will ich auf eine Schwäche des Buches hinweisen: es fehlen erläuternde Hintergrundinformationen des Herausgebers. Adams hält sich vornehm zurück, möchte nicht eingreifen, und die Quellen für sich sprechen lassen. Nur in einem kleineren Artikel meldet er sich selbst zu Wort und weist auf den mangelnden Wahrheitsgehalt der von Zukertort selbst in Umlauf gebrachten Größenphantasien hin. Ansonsten bekommt

der Leser gerade noch mit, von wem einer der abgedruckten Artikeln geschrieben ist, muss sich aber selbst einen Reim darauf machen, wann und in welchem Zusammenhang der jeweilige Artikel geschrieben wurde. Es ist eben eine unkritische Ausgabe. Auch wird nirgends deutlich gemacht, dass es sich bei der nun 2014 in New in Chess erschienenen Erstauflage eigentlich um einen Reprint von 1989 handelt!  Adams gab das Buch damals in rotem Leinen mit goldverziertem Deckel in begrenzter Auflage heraus, diese raren Exemplare werden heutzutage unter Händlern hoch gehandelt (eines davon habe ich als Angebot im Internet gefunden – für schlappe 600 Dollar ist es erhältlich!).

Artist-of-the-Chessboard-1989

Insofern ist New in Chess zu danken, dass sie dem breiten Publikum ein wichtiges Stück Schachgeschichte in Softcover zum erschwinglichen Preis zugänglich machen!  

Die 2014-Ausgabe unterscheidet sich gegenüber dem 1989-Original nur durch eine kleine Ergänzung: ein Bild, auf dem man den englischen Großmeister Stuart Conquest Blumen am restaurierten Grab Zukertorts niederlegen sieht. Conquest entdeckte Zukertorts Grab auf einem Friedhof im Londoner Westen wieder. Er sorgte dafür, dass 2011 ein neuer Grabstein eingeweiht werden konnte.

Dafür ermöglicht es der dicke Sammelband, in eine vergangene Welt einzutauchen, sich ganz den schönen Partien und den zeitgenössischen Kommentaren hinzugeben, die meisten stammen aus der Feder von Zukertort selbst oder von Steinitz. Beide Meister waren journalistisch äußert rege, gründeten Schachperiodiken und trugen ihre Rivalität auch auf theoretisch-verbaler Ebene aus (Chess Monthly war Zukertorts Organ, Steinitz schrieb im The Field und später im International Chess Magazine).

Für jeden historisch interessierten Schachspieler ist das Buch ein großer Genuss.  

Denn Zukertort, das erkennen wir beim Nachempfinden seiner von Schönheit und Eleganz sprühenden Partien, war ein großartiger Spieler, den die Nachwelt nicht nur durch seine Niederlage in Erinnerung bewahren sollte. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zeigten sich zum Beispiel bei seinen Blindvorstellungen. Dort war er ganz klar die Nummer Eins der Welt, er spielte schon mal gegen ein Dutzend Spieler Blindsimultan. Und es gelangen ihm dabei Partien wie diese:

Zukertort - Webber [C25]

10–fach Blind, London 15.01.1878

1.e4 e5 2.Sc3 Sc6 3.f4 exf4 4.Sf3 g5 5.h4!? g4 6.Sg5 h6 7.Sxf7 Das hochaggressive Allgaier-Gambit. Der schwarze König wird lange Zeit schutzbedürftig sein.

7. …Kxf7 8.d4 d6 8. ...f3! hielt Steinitz schon damals in seinen Kommentaren für das beste, moderne Engines bestätigen diese Ansicht.

9.Lxf4 Lg7 10.Lc4+ Ke8 11.Le3 Sf6 12.0–0!? Riskant. Sicherer sieht 12.De2 Sh5 13.0–0–0 mit langfristiger Initiative aus.

12...De7 von Steinitz kritisiert, vom Rechner gelobt!

13.Dd2!? g3! 14.Tae1!? Lg4?! Es war schwer zu überblicken, dass nach 14...Sg4! 15.Tf7 Dxh4 16.Txg7 Tf8! die schwarzen Drohungen gefährlicher als die weißen sein würden.

Zukertort

15.Sd5!? Forciert das Geschehen. Erst15.Tf4! war stärker. Auch wenn die moderne Software nicht immer einverstanden ist, müssen wir die Risikobereitschaft und die Fantasie Zukertorts hoch ansiedeln. Immerhin spielte er an 10 Brettern blind und scheute keinerlei Komplikationen. Beide Könige, auch sein eigener, geraten nun in akute Mattgefahr.

15. ...Sxd5 16.exd5 Se5 17.dxe5 Dxh4 18.Tf4 Lxe5 19.Ld4 Tf8? Notwendig war 19. ...Kd7!, wonach Weiß gefährdet steht. Da 20.Lxe5?? an …Dh2+ 21.Kf1 Dh1# scheitert, muss Weiß durch 20.Lb5+ oder 20.Tf7+ Schach bieten, um 20. …Taf8 zu verhindern. Nach 20. ...Kc8 muss er allerdings in irgendeiner Form die Qualität auf f4 geben, worauf nicht klar ist, ob er dafür ausreichend Kompensation erhalten kann. Schwarz wird sich mit …a6 nebst …Kb8 langsam konsolidieren können.

20.Lb5+ Ke7 21.Txe5+! dxe5 22.Lc5+ Kd8 23.Txf8# 1–0

Donnerstag, 28 August 2014 00:00

Nimzowitsch, move by move

Steve Giddins: „Nimzowitsch, move by move“, Everyman Chess 2014

Wohl ziemlich jedem Vereinsspieler sagt der Name Nimzowitsch was. Selbst die Jüngeren im Schachvolk sind häufig mit ihm konfrontiert, denn kaum ein anderer Meister hat so viele Eröffnungen und Systeme geprägt: allen voran die Nimzo-Indische-Verteidigung, die so ziemlich jeder Großmeister im Repertoire führt, die Nimzowitsch-Verteidigung 1.e4 Sc6!? sowie die Nimzowitsch-Larsen-Eröffnung 1.b3. Aber nicht nur in der Eröffnungstheorie hat der große Letten, der die letzten Jahre seines nicht allzulangen Lebens in Dänemark zubrachte, seine Spuren hinterlassen. Mindestens ebenso groß ist sein Beitrag zur Strategie im Mittelspiel, „Blockade“ ist da der zentrale Begriff.

Legendär sind seine Bücher „Mein System“ und „Die Praxis meines Systems“, mit dem er Generationen vom Lernenden maßgeblich beeinflusst hat – nicht immer zum guten Nutzen, wie heutzutage kritischer reflektiert wird. Ausführliche Biographien und Partiesammlungen über ihn sind vorhanden. So gibt es auf Deutsch ein ausgezeichnetes Werk über den späten Nimzowitsch von  Rudolf Reinhardt: Aaron Nimzowitsch 1928-1935.

Was bislang noch fehlte ist eine analytische Betrachtung seiner Partien, seiner Spielweise im Lichte der heutigen Möglichkeiten, sprich mit Rechenprogrammen unters Mikroskop genommen.

Diese Lücke schließt nun Nimzowitsch, move by move von Steve Giddins. Der englische FM, ein renommierter, erfahrener Schachautor, nähert sich dem Weltklassespieler der 20er und 30er im move-by-move-Format des Everyman-Verlages: Ganze Partien werden hierbei vorgestellt, der Autor spielt ein Frage-und Antwort-Spiel mit dem Leser. Auf diese Weise soll der Leser, insbesondere der Amateur, an den sich die Reihe richtet, miteinbezogen und zum Denken angeregt werden. Meines Erachtens gelingt es Giddins recht gut, die „richtigen“ Fragen zur rechten Zeit zu stellen, ist Nimzowitsch eines der besseren Bücher dieser Everyman-Reihe. Die Fragen helfen, das Wesentliche des Partiemomentes herauszustellen, ohne zu sehr abzuschweifen. Sie sind auch für die stärkeren Spieler durchaus hilfreich, das Buch liest sich fließend, geht nicht zu sehr ins Detail, vermittelt indes die entscheidenden Momente einer Partie, die „Knackpunkte“, sehr gut. Und es verschafft einen guten Zugang zum Denken eines der kreativsten Spieler der Schachhistorie, zeigt seine Eigentümlichkeiten, seine Stärken und Schwächen auf. Nimzowitschs Spiel war häufig sehr provokant, der Meister spielte auf Gewinn, ging dabei schon mal Risiken ein. Für den Mut, eigene Wege zu gehen, wurde er mit zahlreichen strategischen Meisterwerken belohnt. Besonders in Stellungen mit geschlossenem Zentrum, wie es im Franzosen und im Nimzoindischen oft der Fall ist, zeigte er seine überlegene Lavierkunst, sehr gern, das stellt auch Autor Giddins heraus, trifft man bei Nimzowitsch Partien an, in denen er seine Gegner regelrecht stranguliert.

Nimzowitsch – Haakanson, Kristianstad 1922

(nach 22. ...Da8)

nimzzeller

23.Tc7 Sf5 24.Sc3 Le7 25.Sxd5 Sxd4 26.Sxd4 exd5 27.Dxd7+! Ein Damenopfer verschafft der Partie einen eleganten Abschluss, 28.Se6 setzt matt. 1–0

Dieses Ende weist darauf hin, dass Nimzowitsch nicht zuletzt ein sehr starker Taktiker war. Es ist auch ein Verdienst Giddins, stets auf die Verkettung Strategie – Taktik hinzuweisen und aufzuzeigen, wie sich die Strategie Nimzowitschs durchsetzt: nämlich indem er in den wichtigen Varianten oft den Tick präziser rechnet als seine Widersacher. Schachpraktisch Relevantes nimmt der Leser so nebenbei mit: die Abhängigkeit der Stellungsbeurteilung von konkreten Faktoren, die Behandlung verschiedener Stellungstypen, insbesondere die bei Nimzowitsch so geschätzten „langsamen“ mit geschlossenem Zentrum.  

Diese Stellungstypen lassen sich immer noch schwer mit Computerhilfe beleuchten, vielleicht auch mit ein Grund, dass uns Giddins nicht mit Computervarianten überhäuft. So bleibt der Blick für wesentliche Zusammenhänge offen, die Analyse verliert sich nicht im Detail – und weiteren Autoren bleibt noch Arbeit übrig, denn im Buch kommen „nur“ rund 40 Nimzowitsch-Partien vor, darunter die ganz berühmte wie die Blockade-Partie gegen Johner, Dresden 1929, aber auch ein paar weniger bekannte. Das Lebenswerk Nimzowitschs bietet sicher noch mehr Material für weitere, tiefgründigere Analysen!

Insgesamt ein gelungenes Buch, das nicht nur Amateure oder schachhistorisch Interessierte anspricht, das leicht und unterhaltsam durchzuarbeiten ist, und durch dessen Lektüre einiges Wissenswertes und an Verständnis „hängen bleibt“. (IM Frank Zeller)

3,5 von 5 Sternen!

Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Schach Niggemann überlassen.  

Samstag, 17 Mai 2014 10:57

Himmlische Züge

Martin Breutigam:  „Himmlische Züge“  

Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2014, 160 Seiten Paperback, 9,90 €

„Eigentlich braucht kein Mensch jedes Jahr ein neues Schachprogramm“ meint Martin Bräutigam in einer seiner Kolumnen, und Recht hat er. Dennoch warten die Houdinis, Rybkas und Fritzens immer wieder mit neuen, verbesserten Versionen auf, und der durchschnittliche Vereinsspieler kauft sich die neue Software oder erhält ein kostengünstiges Update, und gibt sich der Illusion hin, durch sein noch stärkeres Programm zu einem besseren Spieler zu werden.

Schach in den letzten vier Jahren, das bedeutet zu einem großen Teil auch exzessiver Umgang mit den Rechenmonstern, sowie die Veränderung in Schachverständnis und –Kultur, die damit einhergeht. Unser allgemeines Schachverständnis wird durch die Rechner verbessert bzw. muss sich immer aufs Neue adaptieren; manche Begleiteffekte wirken dabei pervertiert, kritische Töne spart der Autor deshalb auch nie aus, sei es, wenn es zum Beispiel um das heutzutage schwergewichtige Problem „elektronisches Doping“ geht.

Das Thema durchzieht einige der Kolumnen, die Martin Bräutigam in den Jahren 2010 bis 2013 vor allem im Berliner Tagesspiegel und im Bremer Weser-Kurier veröffentlichte, die er nun zusammengetragen und im Verlag Die Werkstatt unter dem Titel „Himmlische Züge“ herausgegeben hat. Im Mittelpunkt steht aber immer noch der Mensch, stehen Emotionen und geniale Anflüge, steht die Poesie auf den 64 Feldern, die uns so verzaubert. Vor allem werden dem Leser die handelnden Personen nähergebracht, die ganz oben in der Weltspitze stehen: die Anands, die Carlsens, die Aronjans und Kramniks. Facettenreich werden diese in ihrem Charakter, ihren Stärken und Schwächen dargestellt, und hautnah erfahrbar gemacht, was Bräutigam ausgezeichnet gelingt. Die einzelnen Geschichten rund ums Schachgeschehen sind lebendig, unterhaltsam und mit viel Einsicht geschrieben. Abgerundet wird die Kolumne jeweils durch ein Diagramm mit Aufgabestellung, damit der Leser auch seine grauen Zellen anstrengen muss. Diese sind gut ausgewählt, die Lösung dabei pointiert, schwierig, aber ohne all zu schwer zu sein. Die Schlüsselzüge verdienen durchaus das Prädikat „himmlisch“, weshalb der Titel auch nicht im luftleeren Raum hängen bleibt oder zu viel versprechen würde. Einige Bilder runden das Buch ab, so ist z.B. Viktor Kortschnoi abgebildet, der mit rund 80 Lenzen, kaum dass er sich noch aufrecht halten kann, eine verbissene Simultanvorstellung gibt. Ein Bild vom neuen Weltmeister Magnus Carlsen beendet das Buch, gleichsam als würde nun eine Epoche enden und eine neue Zeitrechnung anbrechen.

Es finden sich aber auch zeitlose Dokumente, so ein Bild mit Fidel Castro oder mit der Vorreiterin im Damenschach, Sonja Graf, was darauf verweist, dass das Buch nicht nur im Hier und Jetzt stecken bleiben, sondern sich auch der Wurzeln und Entwicklungslinien bewusst machen will.

Fazit: Vergnügliches, Hintergründiges und Nachdenkliches zum Modernen Schach, dazu ist das Buch noch ungemein preiswert, deshalb spreche ich die unbedingte Kaufempfehlung aus! 

(IM Frank Zeller)

Dienstag, 02 August 2011 09:03

Smile trotzdem!

Die Zeitungsredakteure streiken. Verhandlungen verliefen bislang ergebnislos. Die Verleger wollen Sparpolitik betreiben, denn es fehlen Werbeeinnahmen wie Leser. Die Internetkonkurrenz und Stimmungsbarometer wie Facebook machen der klassischen Tageszeitung das Leben schwer. Besonders Berufsanfänger werden darunter zu leiden haben: Neuredakteure sollen, geht es nach den Verlegern, mit 25 Prozent weniger Gehalt abgespeist werden. Wird da der Todesstoß der papierenen Zeitung eingeleitet? Geht sie schleichend ihrem Untergang entgegen? Und was wird aus kritischem Journalismus? Können wir uns den noch leisten? Entscheiden künftig Suchmaschinen und Optimierungshilfen über die Meinungsbildung in der zusammenwachsenden Online-Weltgemeinschaft?

Auch die Schachgemeinde, eigentlich gewohnt daran, ein Außenseiterdasein zu fristen, bleibt nicht verschont von den globalen Entwicklungen. Das Internet bietet Informationen über Schach en masse – und das auch noch für umme! I

Nun, im Schachzeitschriftensektor sind wir hierzulande noch verwöhnt, alle regelmäßig erscheinenden Schachorgane lassen sich gar nicht an den Fingern einer Hand abzählen. Es gibt was für die Profis, die Jugend, den Vereinsspieler, den kulturell interessierten Schacher wie den Liebhaber von abgefahrenen Eröffnungen. Jeder Schachliebhaber kommt hierzulande auf seine Kosten und darf aus einem breiten Spektrum wählen. Aber wie lange noch? Der Niedergang der Artenvielfalt auf dem Schachsektor begann im letzten Jahr, als sich Herausgeber Hickl entschloss, seine gedruckte Monatszeitschrift „Schachwelt“ aufzugeben und fortan für eine Internetpräsenz zu ersetzen, auf der Sie gerade diesen Artikel lesen können. Umsonst versteht sich! Und die weitere Entwicklung? Wer weiß? Ich fühle mich nicht berufen, in die Zukunft zu blicken, zumal mir der wirtschaftliche Weitblick völlig abgeht. Aber die Zeichen stehen nicht gerade auf rosig.

Andere anscheinend kennen sich besser aus mit den Markgesetzen und umgeben sich mit dem Selbstverständnis, die Entwicklungen prognostizieren wenn nicht gar in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Hellhörig hätte der aufmerksame Leser schon vor geraumer Zeit werden können. Vor bald einem Jahr war auf der Chessbase-Seite ein Interview mit dem Herausgeber des seit mittlerweile drei Jahren bestehenden Periodikums „Schachzeitung“, Michael Schönherr zu lesen, in dem dieser seine Philosophie erläuterte und die Zukunft voraussagte. Da heutzutage eh jedes Taschen-Programm Großmeister in dieselbe steckt kommt die Zeitschrift weitgehend ohne fachliche Hinweise von Schachprofis aus. Schönherr dazu

„um so etwas (eine Partieanalyse) zu produzieren, muss man ja offenbar auch kein Großmeister sein...“

In der Tat. Es gibt ja auch schon Musikprogramme,  zum Beispiel aus dem Hause Chessbase

 Banner-JH-Sonnenalp2Damit wird jeder User zum Mozart, die bildende Kunst wird sicherlich auch bald für den Eigenbedarf reproduzierbar werden, der Künstler als solcher wird bald überflüssig werden, weil jeder Einzelne im Verbund mit seiner häuslichen Software Kunst aus der Retorte produzieren und in Facebook und Youtube auf Applaus aus sein darf. In jedem steckt ein Genie, wollte das nicht der alte Polgar beweisen? Damals, ohne PC, bedurfte dies noch einer gewaltigen Energieleistung und eines disziplinierten Lehrplanes, heutzutage ist selbst das nicht mehr vonnöten. Nein, in jedem steckt sogar ein faules Genie!

Doch hören wir noch mal in das Interview rein, da gibt es eine sehr interessante Stelle zu entdecken:

Schönherr: “Ich glaube übrigens, dass es in einiger Zeit nur noch zwei Schachzeitungen geben wird.“
Andre Schulz (Chessbase) Zwei zusätzliche Schachzeitungen...?
„Nein, nur noch zwei Schachzeitungen insgesamt!“
Also zwei, die von den sieben noch übrig sind? Und Sie sind dabei?
„Ja.“

Mag sein, der Mann ist nur realistisch. Oder visionär. Zumindest scheint er Selbstzweifel nicht zu kennen. Wie dem auch sei, man kann nur hoffen, dass sein Szenario nicht eintreffen wird. Schon um der Vielfalt und der Qualität willen.

Übrigens hat der Kampf um die Marktanteile schon begonnen. Oder sagen wir um die Verkündigungsorgane der Landesverbände. Immer mehr Länder nehmen Abstand vom Altbewährten und laufen zum Neuen über. Schwer zu beurteilen, an welchen Schrauben da gedreht wurde, aber eine Art Dominoeffekt ist zu beobachten. Zuletzt probten die Schwaben den Aufstand. Ganz wie in der Politik. Da wurde die Regierung auch einfach abgewählt.

Was werden die Bayern tun? Die Bayern fallen doch nicht etwa um? Nein, die Bayern sind aus anderem Holz. Stellen Sie sich vor, die CSU würde abgewählt werden?! Nein, nein, da muss man schon die Kirche im Dorf lassen.

Tendenzen zur Nivellierung  sind in den etablierten Schachzeitschriften bereits zu erkennen. Ich habe drei davon abonniert, zudem kaufe ich mir von den anderen (auch englischsprachigen) am Bahnhofskiosk  öfters welche. Die Partieanalysen klingen gern mal ähnlich, auch wenn unterschiedliche Leute (mit ausgewiesenem Schachverstand) die Partie analysiert und kommentiert haben. Liegt es daran, dass sie alle mit demselben Schachprogramm arbeiten? Denn ohne scheint man heutzutage nicht mehr auszukommen, es spart Zeit und hilft, etwaige Fehler auszumerzen. Also ähneln sich in den unterschiedenen Magazinen gern mal die Einschätzungen zu einzelnen Zügen, etwa: „bla? der entscheidende Fehler; richtig war …bla! , wonach laut dem Rechner Weiß nur einen geringfügigen Vorteil aufweist.“ Dann folgt noch die Computervariante: 35.Sxg5 Lf6 37.T L xx 7l Sa )O50. xxKD …. bla bla usw. Oder wenn man ganz gewitzt sein und Platz und Nerven sparen will heißt es: „diese computergenerierte Variante wollen wir dem Leser nicht zumuten.“ (und der Redakteur will sich selber auch nicht das Entwirren zumuten, zurecht übrigens)

Heutzutage kann man es eh keinem Leser mehr zumuten, sich anzustrengen. Die Happen müssen mundgerecht serviert werden, sonst geht dieser zur Konkurrenz, die haben mehr Diagramme, da muss man nicht mal blind spielen geschweige denn ein Brett aufbauen. Denn bis man da wieder bis zu 32 Figuren aufgebaut hat, das dauert, damit kann sich heutzutage kein zeitgemäßer Mensch mehr aufhalten, er muss ja alle neuen Einträge in unzähligen Internetbloggs durchlesen und Stellung beziehen.

Der Großmeister macht sich übrigens selbst überflüssig, wenn er beim Aufzählen von Computerbewertungen stehen bleibt.

Eine weitere Tendenz erkenne ich: den Hang (vor allem der jüngeren Kommentatorengilde) zum Gebrauch des Smilies! Vielen Schachfreunden passiert es beim Daddeln an ihrer Tastatur, dass sie „:“ und „)“ eingeben, und plötzlich erscheint dann dieses Sonderzeichen: lächelnd 

Goldig! Zunächst weiß man noch gar nicht recht, wie einem geschieht und wodurch man diese freundliche Erscheinung denn ausgelöst hat, doch beim wiederholten Male wird einem klar, mit welcher Tastenkombination man das lachende Mondgesicht erhält. Mittlerweile stößt man immer öfters bei einer Partiekommentierung auf das witzige Sonderzeichen. Es steht womöglich kurz davor, zum international anerkannten Informatorkürzelalphabet hinzugefügt zu werden. In welcher Bedeutung ist noch unklar, vielleicht so:  „nicht der beste Zug, aber mit Humor gespielt.“

Man könnte auch via Facebook zukünftig über die Schönheit von Partien abstimmen. „Wie hat Euch die letzte Partie von Carlsen gefallen? Und dann die Smilies sammeln. Weil jedes lächelnd zählt!

So wie es in geraumer Zeit nur noch zwei Schachzeitungen geben wird, wird auch die Schachanalyse einer Standardisierung anheim fallen. Spätestens im Jahre 2022, passend zur Fußball-Retorten-WM in Katar, wenn für 5 Scheichs, 20 Funktionäre und 25 798 Haremsdamen im künstlich angelegten Fußballtempel von Doha die Temperatur von 55 auf 18 Grad herabgekühlt wird, werden nur noch zwei Arten verwendet werden. Und so wird es dann aussehen, wenn das neue Schachwunderkind Haschisch Bibi (Name redaktionell erfunden) sein Gedankengut unters Volk bringt (bzw. die Schachzeitung sie volksnah kommentiert):

a)  N.N. – Haschisch Bibi, Elista 2022

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 0–0 bislang einzige Züge +0,12

8.c3 d5?! Nur die sechstbeste Wahl. Hatte Schwarz die Theorie vergessen? Besser ist …d6.

Bekannt als Marshall-Angriff, nach dem amerikanischen General, der nach dem 2. Weltkrieg Finanzhilfen für Europa ermöglichte (wikipedia)

9.exd5 Sxd5 10.Sxe5 Sxe5 11.Txe5 c6 (einziger Zug +0,07)

12.d4 Ld6 13.Te1 Dh4 14.g3 Dh3 (einzige Züge, +0,15)  15.De2? Warum nicht 15.Lxd5 mit +0,45? Weiß spielt wie ein Patzer und vernachlässigt sträflich die Entwicklung. Meine Oma hätte das besser gespielt, die hat auch mehr Freunde auf facebook.

15. …Lg4 0.02 Die Partie ist sehr ausgeglichen. Das Remis unvermeidlich. 16.Df1 0.00 Dh5 0.00 17.Sd2 Lh3 0.00 18.De2 +0,41 Weiß steht deutlich besser 18. …Lg4 19.Df1? Weiß vergibt den klaren Gewinn (19.f3 +- ) 19. …Lh3 20.De2 Lg4 Remis. Das moderne Schach bedarf einer Erneuerung. Wir fordern die Einführung zweier neuer Figuren mit dem Aussehen von Schwarzenegger und der Gangart von Heidi Klum!

b) N.N. – Haschisch Bibi, Elista 2022, (Bibi analysiert) 1.e4 e5 Ich wollte meinen Gegner überraschen lächelnd 2.Sf3 Sc6 Russisch ist ja remis, aber ich wollte Schach spielen lächelndlächelnd  

3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 0–0 8.c3 d5 In der Kleinkindgruppe hat mir meine Nanni die Feinheiten des Marshall-Gambits erklärt, es ist altmodisch, aber ich hatte eine unruhige Nacht hinter mir und die Cheesburger drückten mir unangenehm im Gedärm lächelndlächelndlächelnd    

9.exd5 Sxd5 10.Sxe5 Sxe5 11.Txe5 c6 12.d4 Ld6 13.Te1 Dh4 14.g3 Dh3 15.De2 Er kneift. Beim Frühstück hatte mein Trainer mir noch ein paar Dateien zu den aktuellen Varianten untergeschoben. Ich bestrich sie mit Ahornsirup und hatte sie auswendig gelernt, noch bevor ich sie runterschlucken konnte. unentschlossenStirnrunzelndCoolschreiendBetretenlächelnd

15. …Lg4 Der Rest war einfach lächelndschreiendZunge rausCoolBetretenlächelndKüssendStirnrunzelndlächelnd  

16.Df1 Dh5 17.Sd2 Lh3 18.De2 Lg4 19.Df1 Lh3 20.De2 Lg4 okay Kumpels, es war nicht gerade eine Immergrüne, aber Schach ist halt Remis und wir spielten beide einfach zu perfekt  

lächelndStirnrunzelndStirnrunzelndunentschlossenschreiendlächelndlächelndVerlegenStirnrunzelndlächelndlächelndlächelndlächelndCoolStirnrunzelndSchreiendZunge rausunentschlossenlächelndzwinkerndüberraschtLachendBetretenSchreiendlächelndlächelndlächelndlächelndlächelndzwinkerndZunge raus

Gens una sumus (wir sind alle genial - oder alle gleich blöd)!

Dienstag, 26 Juli 2011 18:36

Ist Schach langweilig?

„Gravissimum est imperium consuetudinis.“
(Groß ist die Macht der Gewohnheit)
, Publilius Syrus (1. Jahrhundert vor Christus)

Schach in der uns bekannten und vertrauten Form scheint in einer Krise zu sein, schenkt man den aktuellen Diskussionen in der Schachpresse und im Internet Glauben. Da ist zum einen das Problem mit den Möglichkeiten des elektronischen Betrugs. Wem kann man noch Vertrauen schenken in einem Zeitalter, in dem Programme auf Handys stärker spielen als die weltbesten Spieler?! Zerstört das gesäte Misstrauen den Ehrenkodex des Fair Play, mit dem über 150 Jahre sportliches Wettkampfschach betrieben wurde?

Und die andere Gefahr: Schach ist tot, ist remis, sagen einige, vor allem die, die es wissen müssen, weil sie an der Weltspitze stehen.

Doch wir sollten uns nicht mit diesen Unkenrufen aufhalten. Unzweifelhaft ist das professionelle Schach auf hohem Niveau sehr hart und der Zwang zur computerintensiven Vorbereitung eine Geisel der Gegenwart, die es allen Beteiligten schwer macht (etwa auch den Lesern von Partieanalysen, die von Großmeistern „erstellt“ wurden, in denen fast ausschließlich mitgeteilt wird, was der Rechner wann von sich gibt…). Aber wenn man nur will gibt es im Schach so viel noch auszuprobieren und zu entdecken. Solange Partien wie die folgende gespielt werden sehe ich nicht den geringsten Anlass dazu, irgendwelche Regeln abzuändern:

Aronjan, Levon (2805) - Harikrishna, Pentala (2669) Damengambit [D56]

8th World Teams Ningbo (6), 23.07.2011

1.d4 ¤f6 2.c4 e6 3.¤f3 d5 4.¤c3 ¥e7 5.¥g5 h6 6.¥h4 0–0 7.e3 ¤e4 8.¥xe7 £xe7 9.¦c1 c6

Aronian-Hari

Die ultrasolide Lasker-Verteidigung gegen das Damengambit gilt gerade als Inbegriff der Remiswaffe. Die Moden wechseln. Vor ein paar Jahren ließ Russisch die Weißspieler verzweifeln und etliche eingefleischte 1.e4-Spieler ins Lager der 1.d4-Anhänger überwechseln. In Kasan beim Kandidatenturnier packten plötzlich fast alle Spieler, wenn sie auf der schwarzen Seite saßen, das orthodoxe Damengambit mit der Lasker-Verteidigung im Speziellen aus, die verzweifelten Weißen sahen sich gar genötigt, auffallend oft mit soften Aufschlägen wie 1.c4 oder 1.Sf3 überhaupt eine Partie ins Mittelspiel hinüber zu retten. Erleben wir bald wieder eine Renaissance von 1.e4 mit so exotischen Sachen wie Evans-Gambit (wie bei Huschenbeth - Gustafsson)?

Zur Partie: rund sechshundert Mal stand die Diagrammstellung in Partien, die den Eingang in die Datenbanken fanden, auf dem Brett. Fast ausschließlich wurde der Läufer gezogen, nach d3 oder e2, Abwartezüge mit der Dame oder a3 fand zuweilen auch Anwendung. Doch was macht Aronian?

10.h4!? ¤d7 11.g4!?

Aronian-Hari2

Selbst wenn die Stellung immer noch objektiv remis sein sollte, so bietet sie doch Anlass zu Glanzzügen wie zu Fehlern. Von Monotonie und angelernten Reflexzügen keine Spur – Kreativität bricht sich Bahn! Jedenfalls ist was ganz Neues entstanden, Weiß will aus dem Stand heraus einfach mattsetzen. Der Inder versucht, einer alten Devise getreu, Flügelspiel mit Zentrumsspiel zu entgegnen. Ob das hier die richtige Strategie ist?

11. ...e5!? 12.cxd5 ¤xc3 13.¦xc3 cxd5 14.g5! h5? Im Bemühen, die Königsseite geschlossen zu halten. Doch bleibt h5 schwach und der Springer gelangt nicht nach f6.

Aronian-Hari3

15.¥b5! exd4 16.£xd4 £e4 17.£xe4 dxe4 18.¤d2 ¤e5!? Will sich mit einem Bauernopfer befreien, doch zeigt Aronian beste, kreative Technik!

19.¤xe4 ¥e6 20.f4 ¥d5 21.fxe5 ¥xe4 22.0–0 ¥d5

Aronian-Hari4

23.¥d7! ¦fd8 24.¦c7 a5 25.a4 ¦a6 26.¦f4 ¦f8 27.¦d4 ¥c6 28.e6 fxe6 29.¥xe6+ ¢h8


Aronian-Hari5

 

30.¥f7! Ein Echozug zu Ld7. Brückenbau im Feindeslager; die gegnerischen Figuren werden wirkungsvoll gehemmt und am Zusammenspiel gehindert.

30. ...¦b6 31.b3 ¥f3 32.g6 ¦c6 33.¦xc6 bxc6 34.e4 ¥e2 35.e5 1–0

Tolles Ding, in allen Phasen sehr pointiert und unterhaltsam vom Armenier gespielt! Es gibt also viel zu entdecken - für die Weltspitze wie für uns Zuschauer.

Sonntag, 29 Mai 2011 23:27

Du bist raus!

FalkoBindrichstefan64250Heute bei der Deutschen Meisterschaft griff zum erstem Mal die Nullkarenz-Regel. Als Turnierdirektor Ralph Alt die Runde starten wollte war Falco Bindrich nicht an seinem Brett. Der Münchner Jurist wartete eine Minute, dann erklärte er die Partie kampflos verloren. Rund eine Minute darauf erschien der Täter und protestierte gegen die kampflose Konsumation, doch mit seinem Protest kam er nicht durch. Das hohe Schiedgericht beharrte auf seinem Urteil. Bindrich, der schon die Runde zuvor verloren hatte, erklärte daraufhin seinen Rücktritt vom Turnier. Soweit die Faktenlage, wie sie auf der Homepage des Ausrichters auf www.dem.2011.de geschildert wird.

Hat das noch was mit Schach zu tun? Und wird dieser Vorfall dafür sorgen, das ohnehin schon ramponierte I
mage der Deutschen Meisterschaft aufzuwerten?RalphAltstefan64250 Wohl kaum. Magere fünf Deutsche Großmeister gaben sich auf der Meisterschaft die Ehre, nun sind es deren nur noch vier. Die Teilnehmer schlafen am selben Ort, an dem gespielt wird. Es sollte von daher kein Problem sein, pünktlich am Brett zu sitzen. Genaueres über den Tathergang ist freilich noch nicht bekannt - war es reine Boshaftigkeit von Bindrich, um seinen Gegner zu irritieren? Vergesslichkeit oder jugendliche Gedankenlosigkeit? Suchte er noch nach seinem Glückskuli oder hielt ihn ein dringendes Bedürfnis noch an einem stillen Örtchen fest? War er über seinem Laptop eingeschlafen oder schmeckte der Nachtisch im Ibis so außerordentlich lecker, dass er darüberhinweg das Schach vergaß? Was ist schon ein Minütchen im Vergleich zu den 240 oder mehr, die eine Partie so im Schnitt geht? Im Vergleich zur Ewigkeit?
Richter, Verzeihung, Turnierleiter Ralph Alt hatte keinen Handlungsspielraum. Die Regeln sind so, ein gewisser Iljumschinow hat sich diesen Käse mal ausgedacht, und wir müssen das natürlich peinvoll einhalten. So wie auch diverse absurde Klauseln über Doping im Schach, die der Schachweltenherrscher, der sich auch mit Außerirdischen gut versteht, einst verbreitete. Muss das alles wirklich so sein und können wir nicht anders?
Nein, für mich ist das kein Schach mehr...bannersr300
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Freitag, 27 Mai 2011 10:26

Nochmal Gelfand!

Was für eine Überraschung: der mit Abstand älteste Teilnehmer kommt durch! Wie war das noch mal mit der Kondition? Anscheinend sind bei einem Modus wie dem in Kazan angewandten dann doch andere Faktoren wichtiger wie Erfahrung in Zweikämpfen, die Nerven usw. Wir hätten nicht vergessen dürfen, dass Gelfand sich als Sieger des Weltcups 2009 für dieses Kandidatenfinale qualifiziert hatte. Und auch da wurde dieses Bäumchen-wechsel-dich-Spiel betrieben, bei dem einem alle paar Tage ein neuer Gegner gegenübersitzt. Auch da gab es Tiebreaks, ging zum Beispiel das Finale über 12 Partien und wurde im Blitz ausgefochten. Auch da bewies der Israeli schon eiserne Nerven und sicherlich waren ihm die damals gemachten Erfahrungen jetzt zunutze.
Nicht zuletzt waren auch schachliche Qualitäten gefragt. Und Gelfand konnte überzeugend seine ganze Vielfalt an schachlichem Können ausspielen. Er war an etlichen herausragenden Partien beteiligt, erfühlte die Dynamik, verteidigte heroisch, holte Rückstände auf. Keine Frage, sein Sieg war verdient und er ist ein würdiger Herausforderer, auch wenn andere Kandidaten den Werbewert eines Weltmeisterschaftskampfes erhöht hätten. Freuen wir uns mit Gelfand, dass er in einem Alter, in dem andere wie Kasparow schon in Schachrente gingen, einen Höhepunkt seiner Karriere erreicht und um die Krone des Weltmeisters spielen darf!
Ich will kurz an die Höhepunkte seines Schaffens in Kasan erinnern:
Ist Ihnen aufgefallen, wie oft er sein Bauernzentrum eindrucksvoll in Szene setzte? Schon im Viertelfinale gegen Mamedscharow gelang ihm eine phantastische Konterpartie:

Mamedscharow - Gelfand

Gelfand1

20. …Txc3! 21.bxc3 Dxc3 Sammelt einen zweiten Bauern für die Qualität ein und hindert den Weißen daran, noch mehr Figuren zum Angriff am Königsflügel heranzuziehen. Achten Sie auf die weiße Strategie: er schwenkte den Turm über die Horizontale zur h-Linie, was attraktiv aussieht, sich aber letztlich als nicht stichhaltig erweist. Genau so ließ sich Grischuk in der allerletzten Partie blenden. Der Übermut der Jugend? Das mag der abgeklärte „Oldie“ ins psychologische Kalkül gezogen haben.
22.Td4 a5 23.Td3 Dc6 24.c3 a4 25.Lc2 e5 26.Lg5 b4 27.Dh4 bxc3 28.Th3 Kg8 29.Te1 e4 30.g4 Kf8 31.Le3 Dc4 32.g5
Gelfand2
32. …Lxf5!! Hier sind die schwarzen Zentrumsbauern bereits weit vorgeeilt, Weiß setzt alles auf die h-Linie. Mit einem Figurenopfer macht Gelfand die gegnerischen Sturmbauern unschädlich.
33.gxf6 Lxf6 34.Dh5 Lg6 35.Dg4 Dxa2 36.Lb1 Dc4 37.Dg2 a3 38.La2 Dc6 39.Tg3 Tb8 0–1

Gelfand3   
Sechs Bauern für den Turm – eine Konstellation, die in die Schachgeschichte eingehen wird. Sehen Sie, wie sicher der schwarze König steht. Das Läuferpaar verleiht dem ganzen Stabilität.

Das Duell gegen Kamsky sah auch ein paar originelle Stellungsbilder. Hier ein Ausschnitt:

Kamsky - Gelfand

Gelfand4
 

Wieder das starke Zentrum, typisch für den offenen Sizilianer, den Gelfand kämpferisch wählte (nein, kein Remiswinseln mit „Russisch“ wie z.B. bei Kramnik!), doch diesmal hat Weiß das Läuferpaar und der schwarze König steht nicht unbedingt sicher. Mit viel Kunstfertigkeit hielt Gelfand diese Partie remis und den Wettkampf offen.
Dann der Tiefpunkt, ein Aussetzer in den Schnellpartien – und für Gelfand schien der Wettbewerb zu Ende zu sein:

Gelfand - Kamsky

Gelfand5
 

16.a3?? (nimmt der Dame das Fluchtfeld a3) 16. …c4! (das lässt sich Kamsky nicht entgehen) und Weiß verliert zumindest eine Figur – bei 17.dxc4 Sc5 ist die Dame weg und die Partiefortsetzung 17.Dxc4 Lxf3 war auch wenig besser.
Es drohte womöglich ein WM-Kampf Anand gegen Kamsky an, um Gottes Willen! Der Amerikaner hatte schon mal seine Chance, damals gegen Karpow. Sicher, von seinem Schlägervater hat er sich schon lange abgenabelt, aber dennoch… Gelfand musste mit Schwarz gewinnen, um im Match zu bleiben, wer hätte noch auf ihn gewettet. Ich drückte ihm die Daumen – und das Wunder geschah! Er gewann drei Partien in Folge! Und wie? Mit dem beeindruckenden Zentrum:

Kamsky - Gelfand

Gelfand6
23. …Sa5!! Das Motiv werden wir in der letzten Partie wieder finden: er nimmt eine Verdopplung der Randbauern in Kauf, dafür wird Weiß Probleme haben, das Zentrum zu halten. Etwas später, nachdem weiße Angriffsbemühungen auf der h-Linie abgeschlagen waren,  nahm die Überhand in diesem Bereich deutliche Konturen an:

Gelfand7
Gelfand gewann das Endspiel in sicherer Manier und beflügelt vom Sieg gleich noch die folgenden Blitzpartien.
Im Finale gegen Grischuk zeigte er großartige Fähigkeiten im Verteidigen schlechter Endspiele. Zweimal am Rande der Niederlage hielt er sich schadlos, mit einem Figurenopfer in der zweiten Partie sorgte er für die verrückteste Neuerung des Turniers.

Gelfand - Grischuk

Gelfand8

Bei 45.Txa4 Ke5 gerät Weiß in Mattgefahr, Gelfand fand die Abwicklung 45.e5+! Kxe5 46.Txc5+ Ld5 47.Txd5+! Kxd5 48.h6 und ertrotzte sich schließlich ein Turmendspiel, das punktgenau remis gehalten werden konnte. Wenn Sie zuhause beim Zuschauen Ihre Engine mitlaufen haben erkennen Sie schnell, dass viele Stellungen „remis“ sind. Aber Sie fühlen nicht, wie knapp dies letztlich ist, von wie viel Details es letztlich abhängt und wie schwer es für die Spieler zu erkennen ist, ob das resultierende Turmendspiel letztlich knapp remis oder verloren ist.
Sicher, es kam dann zwischendurch ziemliche Langeweile auf, aber man muss die Spieler auch verstehen. Was sie in den Tagen, Wochen zuvor an nervlichen Strapazen durchgemacht haben ist doch enorm.
Für gewisse Längen entschädigte uns die letzte Partie:

Gelfand - Grischuk

Gelfand9
Hier war ich überzeugt, dass Grischuk im Angriff gewinnen würde. Gelfand blieb cool mit 19.f4!, er erkannte, dass sein König sich notfalls selber helfen konnte und dass sich langfristig, wenn Grischuk den Läufer auf h4 geben würde, die lange Diagonale a1-h8 für ihn bemerkbar machen würde. Das Kernstück dazu war die spätere Durchsetzung von e3-e4, um die Lücken zu schließen und das Bauernzentrum mobil zu machen:

Gelfand10
23.Lb2! Und nicht 23.Lxd5, was zwar die Qualität gewinnt, aber völlig die weißen Felder vernachlässigt. Schwarz kann dann mit …De6 und notfalls …f5 dauerhaft verhindern, dass sich das weiße Zentrum mit e3-e4 in Bewegung setzt. Die Nachteile der weißen Struktur lassen sich nur durch ein bewegliches Zentrum im Verbund mit dem Läuferpaar kompensieren. Grischuk verlor dann den Faden, Zeitnot, und die Gelfandschen Träume reiften:

Gelfand11
 

Was für ein imposantes Zentrum! Wieder mal! Der schwarze Schwenkturm auf h5 verhungert dagegen. Gelfand erwies sich das ein oder andere Mal als der bessere Stratege. Gratuliere!
„Ich mogelte bei meiner Metaphysikprüfung, indem ich dem Jungen neben mir in die Seele guckte“ (Woody Allen)

Dem Österreicher Gerhard Kubik ist es gelungen, ein Buch über Schach zu schreiben, das eine garantierte Leistungssteigerung der Spielstärke verspricht und dabei ganz ohne einen einzigen Schachzug auskommt. Das ist schon an sich beachtlich, aber kann es auch halten, was es verspricht?

„Schach 2012
“, Untertitel: „In 12 Schritten zum spirituellen Schachmeister“ heißt die kleine, schmale Broschüre, die auf knapp 100 Seiten kommt und dabei den Mut zu viel Leere aufbringt. Fast die Hälfte des Raumes soll dem Leser dazu dienen, eigene Gedanken und Erfahrungen niederzuschreiben, beim Lesen eine Art Tagebuch zu führen. Die marktschreierischen Versprechungen sind sicher überzogen, Voraussetzung für die Lektüre ist eine gewisse Affinität zum Weltbild des Autors. Kubik selbst gibt an, in vergangene Leben sowie in die Zukunft blicken zu können; einen Hang zur Seelenwanderung und Vorkenntnisse in indische und fernöstliche Kulturen sind beim Leser durchaus von Nutzen. 2012 ist für manche Leute ein Jahr, in dem einschneidende Veränderungen im Bewusstsein der Menschheit geschehen sollen, für andere dagegen das Jahr der nächsten Fußball-EM. Verschiedene Leute setzen eben die Prioritäten anders. Kurzum: man muss schon dran glauben, um gewisse Dinge ernst nehmen zu können.

Wenn Sie bei Begriffen wie „Astralebene“ „Ätherkörper“ nicht richtig mitschwingen können wird Ihnen die Lektüre des Buches womöglich herzlich wenig bringen. So regt sich bei mir ein innerer Widerstand bei Sätzen wie „erklären Sie sich zum Kanal für Spirit!“ Da fällt es mir schwer, ernst zu bleiben, vielmehr drängt sich mir ein Buchtitel Dieter Hildebrandts auf: „Ich musste immer lachen“ (2006). Die Sprache und die Begrifflichkeiten, derer sich Kubik bedient, sind was für Eingeweihte. Der „Verstandesmensch“ wird eher verdutzt an manchen Formulierungen hängen bleiben und läuft Gefahr, schnell „dicht zu machen“. Der leichteste Weg etwas abzutun, wofür man kein Verständnis aufbringen kann oder will ist sicher, es abzulehnen, zum Beispiel in dem man es der Lächerlichkeit aussetzt.

Nun wollen wir nicht den bequemen Weg gehen. So rät Kubik in einer Lektion: „Urteile nie!“ und weist dabei auf eine menschliche Grundsituation hin, die auch im Schach existiert: um uns im Umfeld zu orientieren sind wir zu schnellen Urteilen gezwungen, die ganz schnell zu vorschnellen Urteilen und damit zu Vorurteilen werden. So ist es beim Schach schwierig, die Elozahl des Gegners auszublenden. Man lässt sich mehr oder minder bewusst von der nominellen Spielstärke seines Gegenübers blenden, unter- bzw. überschätzt ihn, klammert deshalb verstärkt auf Remis, nimmt zuviel Risiko, kurz verhält sich voreingenommen und von daher eingeschränkt. Auch wir sollten nicht zu vorschnell den Kubik verdammen oder gar der Lächerlichkeit preisgeben. Denn auch bei gesundem Misstrauen kann man einiges Positives aus der Lektüre ziehen!

Zunächst finde ich es begrüßenswert, ein Schachlehrbuch zu entdecken, das einen ganz anderen Zugang zur Materie hat als die „Üblichen“: ohne Diagramm, ohne Varianten! Viel zu sehr sind wir es gewohnt, unseren Verbesserungsprozess als eine Ansammlung von Wissen zu sehen: Mittelspielstrukturen, Pläne, Motive und im überdimensionalen Maßstab freilich Eröffnungsvarianten bestimmen unsere schachliche Ausbildung. „Das ausgefeiltere Repertoire gewinnt!“ wollen uns die meisten Schachschriftsteller weismachen.  Das Büffeln von Varianten und deren computergestützte Überprüfung diktieren die Diskussion über „Wahrheiten“ im Schach. Wo man früher komplizierte Stellungen nach der Partie zusammen mit dem Gegner im Gedankenaustausch überprüfte bekommt man heute hinterher stereotyp zu hören: „das muss ich mal mit Rybka checken!“ Oder noch personifizierter: „…mit MEINEM Rybka“ oder „…mit MEINEM Fritz“, so als wäre die Software durch die Häufigkeit des Anschaltens zu einem liebgewordenen Familienmitglied geworden oder gar mit dem Stammhirn des Spielers verwachsen.
Je mehr wir uns bemühen, zu Computerwesen zu werden und mit unseren Programmen zu verschmelzen, geben wir unsere Persönlichkeit preis und vergessen ganz, dass wir als Menschen mit unseren Emotionen am Schachbrett sitzen und die Fehlerquellen in uns sind. Von daher empfinde ich es als wohltuend, mal auf einen anderen Zugang hingewiesen zu werden.

Zudem gefällt mir, dass Kubik ausdauernd auf die sinnliche Seite des Schachspiels verweist: er fordert dazu auf, das Brett und die Figur in ihrer Präsenz und Schönheit wahrzunehmen, rät dazu, die Figuren ganz bewusst zu berühren und zu fühlen, ihnen gleichsam „Leben einzuhauchen“. Das erinnert mich an die Weisung eines bekannteren „Schachgurus“, Jonathan Rowson, der da forderte: „talk to your pieces!“ –Plaudere mit Deinen Figuren und frage sie, wie sie sich fühlen und was sie sich wünschen!

Das hat sicher einen belustigenden Unterton,  trägt aber auch Substantielles in sich. Dieser Aspekt des Spieles kommt in der Fachliteratur leider etwas zu kurz.
Ich will Ihnen nun nicht raten, den Kubik zu kaufen, aber schauen Sie sich bei der Suche nach Lektüre doch mal um und wagen Sie es auch mal ein Buch mitzunehmen, das einen anderen Zugang zu Schach eröffnet als diese hoch gezüchteten „Weiß gewinnt im x.ten Abspiel des y-Angriff gegen die z-Verteidigung“ und auch mal das Menschliche, das Sinnliche und Psychologische am Schachspiel nicht zu kurz kommen lässt. Und ich wünsche mir mehr Bücher, die in diese Richtung gehen.

Vielleicht hilft uns der Kubik wirklich, unser Schach zu verbessern, zumindest insofern, indem wir uns überlegen, welche Faktoren noch eine Rolle spielen neben den rein schachlichen und wir uns versuchen klarer (bewusster) zu werden, was es heißt, dass wir mit unserer Persönlichkeit eine Partie spielen in einem gewissen Raum an einem sinnlichen Brett zu einem bestimmten Zeitpunkt.  Und so weiter…
Im Prinzip verweist uns der Österreicher Kubik (der immerhin eine Spielstärke um die 2100 mitbringt) auf die alte Binsenweisheit, die schon am Orakel von Delphi zu lesen war: „erkenne Dich selbst“ …und alles wird besser bzw. Du wirst Deine Fähigkeiten effektiver einsetzen können.
Und wenn Sie nicht wollen, müssen Sie auch nicht „Kanal von Spirit“ werden. Es bleibt auch Ihnen überlassen, was Sie zur Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode denken. Woody Allen ist in diesem Thema skeptisch, aber für den Fall, dass da doch noch was wäre führt er stets Zweitwäsche mit sich. Dieser Gedanke hat zweifellos was für sich: ich halte das Mitführen eines Magnetschachs beim Ausgehen für unerlässlich. Man weiß schließlich nie, wie alles endet.
Dienstag, 05 April 2011 10:23

Brutale Bauernendspiele II

 















Huschenbeth_-_Gyimesi_1

Niclas Huschenbeth (2460) – Zoltan Gyimesi (2595)

Schachbundesliga (6), 2010, (nach 46.g5xf6) :

Gerade hat der Weiße, unser amtierender Deutscher Meister, auf f6 Läufertausch angeboten und der ungarische Großmeister, der die ganze Partie über hart ums Remis hatte kämpfen müssen, hat das Angebot dankend angenommen! Weiß besaß schon seit längerem einen Mehrbauern, doch war seine Struktur durch einen Doppelbauern auf der b-Linie sowie einen weiteren auf der g-Linie entwertet. Nun ist zwar dieser g-Doppelbauer durch Tausch auf f6 aufgelöst worden, doch der vorgepreschte Bauer f6 droht ganz schnell verloren zu gehen. Was aber hat Huschenbeth veranlasst, ins zumindest auf den ersten Blick unklare Bauernendspiel abzuwickeln, wo er doch wissen sollte, dass nun ein Tempo, ein Zugzwangmotiv, eine kleine Feinheit die Stellungseinschätzung radikal ändern kann von sagen wir mal „Weiß gewinnt“ auf sogleich „Schwarz gewinnt“.

Denn alles „gesehen“ hat er sicher nicht bei seiner Entscheidung, abzuwickeln. Er erhoffte sich in diesem Bauernendspiel zumindest einen halben Punkt.

Letztlich ergeben sich in wenigen Zügen ein paar „Schlüsselstellungen“, in denen die Entscheidung zwischen Tod und Leben am Zugzwang hängt. Richtig, es geht um nicht mehr oder weniger als Tod oder Leben, denn bei vielen Bauernendspielen, diesem eingeschlossen, ist die Remisbreite, die man so vom Mittelspiel gewohnt ist, verdammt schmal! Eine Remisabwicklung ergibt sich oft nur etwas „zufällig“ oder studienartig. Häufiger ist es schon so, dass sich die Lage auf eine Zugzwangsstellung zuspitzt und schließlich derjenige, der „Dumme“, der ziehen muss, Opposition oder Deckungsaufgaben zwangsweise aufgeben muss und hernach die Dämme brechen und der gegnerische Monarch alles vernichtend eindringen kann.

Letztlich sah Huschenbeth wohl einige Stellungen, in denen der Zugzwang den Schwarzen hart traf, aber er sah nicht alle Feinheiten/Zugumstellung, die nötig gewesen wären, um das Bauernendspiel komplett zu erfassen und zu beurteilen.

Zunächst ging er davon aus, dass er, nachdem Schwarz mit Kd5-e5xf6 den vorgedrungenen Bauern eingefangen haben wird, mit Kd3-e3-f4 die Opposition sichern würde. Müsste Schwarz dann seinen König ziehen, könnte der weiße auf die 5. Reihe vordringen, etwa so:

Beispieldiagramm:

Huschenbeth_-_Gyimesi_2

Diese Stellung wäre optimal für den Weißen: er besitzt den aktiveren König, vor allem hat er den Damenflügel zu seinen Gunsten festgelegt. Hier gewinnt Weiß unabhängig davon, wer am Zug ist! Schwarz am Zug ist offenkundig im Zugzwang, sein König muss dem Opponenten Platz machen oder zulassen, dass sich der Weiß mittels g4-g5 einen entfernten Freibauern verschafft. Während sich der schwarze König um den h-Freibauern kümmern muss räumt der weiße Widersacher die schwarzen Bauern am Damenflügel ab und gewinnt – vermutlich, manchmal schafft es der Schwarze vielleicht gerade noch rechtzeitig zum Damenflügel zurückzueilen. Aber  abgesehen von gewissen Ausnahmen, prinzipiell interessiert uns mal das typische Szenario des entfernten Freibauern als Masterplan mit ausgezeichneten Gewinnaussichten. Und wenn Weiß am Zug wäre hätte er gar zwei Gewinnideen: zunächst ist da das Reservetempo, b2-b3!, womit er das Zugrecht an Schwarz abtreten kann. Zudem geht die Wendung 1.g5! hxg5+ 2.Kg4, was den Schwarzen wieder mal in einen unangenehmen Zugzwang bringt. Das greift auch, wenn der Damenflügel bereits in irgendeiner Form festgelegt wäre, ein Beispiel:

Analysediagramm:

Huschenbeth_-_Gyimesi_3

 Das ist so ein typischer Fall, in dem nur „Hopp“ oder „Topp“ gilt. Wer dran ist, verliert! Selbst mit momentan zwei Mehrbauern würde der Zugzwang dem Schwarzen den Garaus bereiten.

Diese wenigen Beispiele zeigen: es gab durchaus Gründe und es war verlockend für den Weißen, den Abtausch ins Bauernendspiel einzuleiten. Hinzu kommen zwei nicht unbedeutende Faktoren: 1. der Wunsch, gewinnen zu wollen. Huschenbeth stand die komplette Partie über besser, spielte auf Gewinn und da kann es leicht passieren, dass der Wunsch, gewinnen zu wollen, mächtiger wird als die realen Faktoren am Brett. Dann nimmt man selektiv nur die sich potentiell ergebenden Stellungen war, die auch wirklich zum Gewinn führen würden! Und 2. Konzentration und Kondition. Nach 5 Stunden Spielzeit kann es leichter passieren, dass man die Varianten nicht mehr sauber durchrechnet. Besonders bei den Bauernendspielen, wo alles genau „sitzen“ muss, kann eine Ungenauigkeit in der Ausarbeitung fatale Folgen zeitigen. Und so kam es auch:

46. …Ke5!  

Ganz richtig, Schwarz muss einen möglichen Durchbruch am Königsflügel sogleich unterbinden. 46...b4?, was sich einen Zug später als goldrichtig erweisen würde, wäre hier falsch: 47.g5 Ke5 48.g6! Kxf6 (48...hxg6 49.hxg6 Kxf6 50.gxf7 Kxf7 51.Kc4) 49.gxf7 Kxf7 50.Kc4 Kf6 51.Kxb4 Kg5 52.Ka5 Kxh5 53.Kxa6 Kg4 54.b4 h5 55.b5 h4 56.b6 h3 57.b7 h2 58.b8D h1D führt zu einem Damenendspiel mit praktischen Gewinnaussichten für Weiß. Ergänzend ist dazu zu sagen, dass 46...a5 ein wenig besser für Schwarz wäre als …46. …b4, denn nach der analogen Zugfolge 47.g5 Ke5 48.g6 Kxf6 49.gxf7 Kxf7 50.Kd4 Kf6 51.Kc5 b4 52.Kb5 Kg5 53.Kxa5 Kxh5 54.Kxb4 hätte Weiß einen zusätzlichen Königszug machen müssen und nach 54. …Kg4 55.Kc5 h5 56.b4 h4 57.b5 h3 58.b6 h2 59.b7 h1D 60.b8D Dc1+ ist Schwarz am Zug und sollte das Remis sichern. 
Huschenbeth_-_Gyimesi_4

 47.Ke3 Weiß hat weder Zeit, am Damen- noch am Königsflügel die Bauern in Position zu bringen:

a) Der Durchbruchsversuch 47.g5 Kf5 48.g6 führt zu nichts, weil Schwarz nach …hxg6 49.hxg6 (oder 49.h6 Kxf6 50.Kd4 g5) 49...Kxg6 derjenige ist, der einen Freibauern am Königsflügel beibehält.

b) 47.b4, um den Damenflügel günstig mit Reservetempo festzulegen, scheitert an …Kf4! (wobei auch 47...Kxf6 48.Ke4 Kg5 zum schwarzen Sieg ausreichend wäre, der König auf g5 garantiert den späteren Gewinn des Bh5:  49.Kf3 h6 50.Kg3 f5 51.gxf5 Kxf5 52.Kf3 Kg5–+).

Huschenbeth_-_Gyimesi_5
47...b4! und Weiß gab auf! Das erscheint vielleicht etwas voreilig, ist aber durchaus angebracht, denn Huschenbeth realisierte, dass nicht seinen Gegner, sondern ihn selbst der tödliche Zugzwang ereilen wird!

Bei allen anderen Zügen hätte Weiß zumindest das Unentscheiden gesichert, nur für den Schwarzen wäre es eng geworden, man sehe:

a) 47...Kxf6? 48.Kf4 b4! (der einzige Zug, 48...h6? 49.b4 Kg7 50.Kf5 führt zu einem ganz günstigen Fall für Weiß (siehe 2.Diagramm!), und auch 48...a5 49.g5+ Ke6 50.h6 b4 51.Ke4 Kd6 52.Kf5 Ke7 53.Ke5 gewinnt für Weiß)

49.g5+ Kg7! (nur so, 49...Ke6 50.h6! mit Zugzwang) 50.Kf5 h6! 51.gxh6+ Kxh6 52.Kf6 Kxh5 53.Kxf7 Kg5 54.Ke6 Kf4 55.Kd5 Ke3 56.Kc4 Kd2 57.Kxb4 Kc2 58.Ka4 a5 59.Kxa5 Kxb3 und Schwarz hat sich gerade noch mit einigen einzigen Zügen gerettet.

b) 47...h6? 48.b4! Kxf6 49.Kf4 Ke6 50.g5 hxg5+ 51.Kxg5 und Weiß gewinnt wegen des entfernten h-Bauern.

c) 47...a5 erlaubt 48.b4! (48.Kf3 Kxf6 49.Kf4 b4! hält ähnlich wie bei a) gerade noch remis; prüfen Sie es bitte selber!) 48...axb4 49.b3 Kxf6 50.Kf4 Kg7 51.Kf5 und Schwarz droht in Zugzwang zu kommen. Hier gibt es eine weitere unerwartete Wendung, mit Einsatz des Pattmotivs kann der Nachziehende die schwierige Lage doch noch halten:

Analysediagramm:

Huschenbeth_-_Gyimesi_6
51. …f6! (51. …h6? 52.g5 +-) 52.Ke6 Kh6! 53.Kxf6 und patt!

Doch zurück zur Partie. Nach 47. …b4! ist der Weiße plötzlich in allen Varianten verloren. Hier das Wesentliche:

48.Kf3 Oder 48.h6 Kxf6 49.Kf4 Kg6 50.g5 f6! 51.gxf6 Kxf6 bzw. 48.g5 Kf5 49.g6 hxg6 50.hxg6 Kxg6

48...Kxf6 49.Kf4

Analysediagramm:

Huschenbeth_-_Gyimesi_7
49. …h6! 50.Ke4 Denn bei 50.g5+ hxg5+ 51.Kg4 verfügt Schwarz diesmal über das entscheidende Reservetempo 51. …a5!

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50...Kg5 51.Kf3 f5 52.gxf5 Kxf5 und der Rest ist klar, Schwarz holt sich den Bh5, hat damit einen entfernten h-Bauern erschaffen, und während sich der Weiße um den kümmert läuft der schwarze König nach c2. 

Montag, 28 Februar 2011 18:07

(Schach-)Odyssee im Weltraum

Vor vier Tagen startete die Raumfähre Discovery zu ihrer letzten intergalaktischen Reise. Danach ist Schluss, sie wird ins Museum geschickt. Dieses Schicksal werden alsbald die Geschwisterschiffe Endeavour und Atlantis teilen, die ebenfalls eingemottet werden.
Die Discovery hat an der Internationalen Weltraumstation ISS angedockt; ihre Mission besteht  darin, neue Gerätschaften und Module auf dieses in rund 350 Kilometern Höhe dahinschwebende Fußballfeld zu verfrachten.
Das Interessante dabei: sie haben einen menschenähnlichen “humanoiden“ Roboter  in die Schwerelosigkeit gebracht, der darauf getestet werden soll, inwieweit er die Aufgaben von Menschen übernehmen kann. Vielleicht kann man irgendwann mal ganz oder teilweise bei Raumflügen auf die Anwesenheit von Menschen verzichten? Welcher vernünftige Mensch will sich denn schon gerne hergeben für einen Zweijahresflug zum unzivilisierten Mars? Komischerweise viele, hört man immer wieder. Die müssen wohl sehr unzufrieden mit ihrem irdenen Dasein sein…
Da kommt mir unweigerlich Kubricks Weltraumepos „2001, Odyssee im Weltraum“ in den Sinn. Das Herzstück der Mission, die dort zum Jupiter fliegt, ist der Großcomputer HAL. Nein, kein Roboter, sondern ein riesiger, anscheinend unfehlbarer Bordcomputer, der ebenfalls, wie der Roboter der Discovery, von Menschenhand erschaffen wurde und der sich im Film anschickt, die Macht über seinen Schöpfer zu übernehmen, nachdem die zwei Piloten bemerkt haben, dass er fehleranfällig ist. (der Rest der Crew ist „eingefroren“, das wäre noch eine Herausforderung für amerikanische Wissenschaftler: im „Schönheitsschlaf“ könnten die Astronauten zu fernen Galaxien bugsiert werden, ausgeruht und verjüngt, die Astronautinnen botoxoptimiert, die strahlenden Helden könnten Milchstrassen-Aliens als Handelspartner gewinnen und neue Absatzmärkte auf Alpha Centauri  erschließen)
Bevor es aber zur Sache geht und der Kampf Computer – Mensch auf Leben oder Tod eskaliert messen sich die Vegetationsformen zunächst noch intellektuell – im Schachspiel!
Pilot Frank Poole riskiert den aussichtslosen Kampf – heute weiß man nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn man sich auf ein Spiel gegen Rybka, Fritz oder neuerdings Houdini einlässt, früher oder später wird man zerschmettert. Und die Software dafür passt dabei gar auf ein handflächengroßes Gerät. Doch damals, Ende der 60er, war es noch kaum abzusehen, dass alsbald Computer besser als der Weltmeister spielen würden, selbst wenn sie riesig und leistungsfähig sein sollten. Erst in den 70ern gab es erste Vorläufermodelle von Schachcomputern.
HAL allerdings vermöbelt den Menschen nach Strich und Faden. Auf dem Großbildschirm ist die Diagrammstellung zu sehen:

Roesch-Schlage

Hier sagt HAL ungefähr mit jovialem Unterton: „Es tut mir leid, Frank, Du hast  verloren. Df3, Läufer nimmt Dame, Springer nimmt Läufer matt.“ Der konsternierte Poole gibt daraufhin auf. Besonders gefällt mir an dieser Szene, dass man dem Computer richtig seine Genugtuung über den Sieg anmerkt. Er gaukelt Mitleid mit seinem Gegner vor („es tut mir leid“), aber ein genießerischer Unterton ist nicht wegzuleugnen. So ein Computer ist halt auch nur ein Mensch…
Der Filmpartie liegt ein Original zugrunde: es handelt sich um die Partie Roesch – Schlage, Hamburg 1910 (bei meiner Datenbank wird das Jahr auf 1913 beziffert, aber alle anderen mir zur Verfügung stehenden Quellen ordnen es dem DSB-Kongress von Hamburg zu, der im Jahr 1910 stattfand).

 Roesch - W. Schlage [C86] Hamburg, 1913 

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.De2 b5 6.Lb3 Le7 7.c3 0–0 8.0–0 d5 9.exd5 Sxd5 10.Sxe5 Sf4 11.De4 Sxe5 12.Dxa8 Dd3 13.Ld1 Lh3 14.Dxa6 Lxg2 15.Te1 Df3 0–1

Willi Schlage gewann damals das  B-Turnier des Kongresses und wurde später Reichstrainer des Großdeutschen Bundes, was dem heutigen Bundestrainerjob entspricht. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere an diese Bilder aus den späten Dreißigern, auf denen Schlage im Kreise seiner Talentschmiede  mit Klaus Junge,  Wolfgang Unzicker und Edith Keller zu sehen ist.
Der narzisstische Bordcomputer HAL bringt später seinen Spielpartner Poole um die Ecke, indem er ihn in den endlosen Weltraum schießt. Dafür wird ihm vom zweiten Piloten, Dave Bowman, der Saft abgedreht. Bevor seine Lebenskräfte erlahmen, retardiert der Computer und singt Kinderlieder, ein aussichtsloser Versuch, sein emotionales Gleichgewicht wiederzuerlangen. Wunderbar, wie vieles andere auch in diesem seltsamen Film, der noch einige andere Ähnlichkeiten mit Schachspielen aufweist: größtenteils wird gar nicht geredet. Es wird geschaut, gedacht, gelauscht, geschnauft, Angst treibt die Akteure an, selbst Bowmans psychedelische Irrfahrt hinterm Jupiter erinnert irgendwie an das Sich-Selbst-Verlieren im endlosen Strudel der Schachkombinationen. Zuletzt treibt das „Starchild“, ein Fötus in der Fruchtblase, etwas kitschig durch den Welttraum und suggeriert uns die Idee der Wiedergeburt. Und ist auch nicht jede neue Partie eine Art Wiedergeburt, in der wir uns neu erfinden können?

Übrigens scheinen sich Kubriks Visionen größtenteils bestätigt zu haben, wenn auch nicht im Jahre 2001, dann im Jahre 2011. So gibt es eine riesige Raumstation auf halbem Weg zum Mond, die international verwaltet wird, der Mond wurde zwischendurch „erobert“ (auch wenn manche Hartgesottenen noch an ihrer „Verschwörungstheorie“ festhalten), die Menschheit plant lange Reisen zu den Planeten unseres Sonnensystems, künstliche Intelligenz übernimmt immer mehr Bereiche und die Grenzen zwischen Menschen und Computer nehmen so langsam fließende Konturen an. Wer weiß, wie lange es noch dauern wird, bis die ersten Androiden oder Kleinmeister mit implantiertem Chip im Kopf unsere Open dominieren werden?

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congstar prepaid Die  Namen der Filmpersonen Dave Bowman und Frank Poole erinnern sehr an den damaligen amerikanischen Weltraumhelden Frank Borman. Dieser war schon 1965 zusammen mit Jim Lovell zu einem sensationellen Langzeitrekord aufgebrochen: die beiden umkreisten zwei Wochen lang die Erde, da lernt man sich bestimmt gut kennen. Im Jahre 1968, als „2001, Odyssee im Weltraum“ gedreht wurde, war Borman der Kommandant einer der bevorstehenden Apollo-Missionen und es bestand die reelle Aussicht, dass er der erste Mensch auf dem Mond sein könnte. Schließlich war man Ende 1968 noch nicht so weit, dass man auf dem Mond hätte landen können, doch die USA war unter Zugzwang und benötigte dringend einen Propagandaerfolg und somit wurde Apollo 8 losgeschickt, um als erstes Raumschiff den Mond zumindest zu umrunden. Uns sind alle deutlich diese Bilder vor Augen, die die Apollo-8-Crew nach der ersten Mondumrundung schoss: sie zeigt die Erde, wie sie als sehr fragiles Etwas aus dem dunklen Nichts am Horizont des unwirtlichen Mondes auftaucht, das einzige Farbenprächtige in der schwarz-weißen Weite.  Und da es Weihnachten ward und die Astronauten kurzerhand die Schöpfungsgeschichte vorlasen wurden diese Bilder zur Ikone der Weltraumfahrt. „Es werde Licht. Und es ward Licht“. Einen besseren Text hätten die Jungs nicht finden können. Diejenigen unter den Erdlingen, die sich ihrer christlichen Wurzeln erinnerten, waren zu Tränen gerührt. Auch wenn es ein Propagandaerfolg und geschickt eingefädelt war: diese Bilder bewegen auch beim x-ten Betrachten. Und führen uns wieder vor Augen, wie gut wir es eigentlich hier erwischt haben und wie dünnhäutig die Atmosphäre ist, die unseren Planeten einhüllt.

Ohne diesen „Nebeneffekt“ des Kalten Krieges hätte die Ökologiebewegung womöglich nicht soviel Zulauf bekommen.
Warum also bloß zum Mars auswandern? Halten wir uns doch lieber an den Gassenhauer: „Im Himmel gibt’s kein Bier,  drum trinken wir es hier!“

P.S: Frank Borman wird in Kürze seinen 83. Geburtstag begehen. Als er in den Weihnachtstagen `68 den Mond umrundete war ich ein Fötus im Bauch meiner Mutter, ca. 20-30 Zentimeter groß und weniger als ein Kilo schwer. Ein Starchild gleichsam. Also auf zur nächsten Partie!

 

Grau ist alle Theorie in den Turmendspielen. Gesehen oder gelesen haben wir schon so manches darüber und wissen um die wesentlichen Prinzipien. Eigentlich. Doch zu jedem Grundsatz gibt es mindestens eine Ausnahme – und oft sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht, will sagen, man starrt auf das Brett, sieht ein Turmendspiel vor sich, weiß aber nicht, zu welcher Kategorie man dieses spezielle Stück zuordnen soll. „Ist das Lucena? Oder Philidor? Behrsche Regel? Oder vielleicht ganz was anderes?“ Und selbst wenn man es verifizieren sollte – wie ist die Position dann zu behandeln?
Durch nichts lernt man besser als durch die praktische Partie. Das gilt besonders für Turmendspiele. Eine wichtige Erfahrung machte ich vor ein paar Jahren, als ich glaubte, gegen Großmeister Joszef Horvath eine Remisstellung erreicht zu haben. Doch das war dann eher die Ausnahme zu der Regel, die ich mir zur Grundlage meiner Beurteilung gemacht hatte:
„Türme gehören hinter die Freibauern“ (Tarrasch) und „ der König muss aktiv eingesetzt werden“

F. Zeller (2451) – J. Horvath (2560), Deizisau 2000

Nach 53...Ta3+ 
Zeller_-_Horvath_1
 
Nach ziemlich vielen Aufregungen zuvor blieben mir nur noch wenige Minuten, um hier die richtige Strategie abzuschätzen. Augenscheinlich müsste die Stellung Remis sein, mein Turm steht sehr aktiv und kann jederzeit nach a8 hinter den Freibauern gehen, was „in der Regel“ günstig ist. Und wie verhält es sich mit dem König? Soll der sich bescheiden auf die zweite Reihe zurückziehen oder sich aktiv ins Geschehen stürzen?
 
54.Kf4? Ich entschied mich für die offensive Ausrichtung, im Glauben, dass dies den Schwarzen in seinen Möglichkeiten einschränken würde. Bei 54.Kg2 war mir nicht klar, wie ich den vielfältigen schwarzen Ideen begegnen soll und ich fürchtete später in einer passiven Stellung zu landen und dann den Bauern unter ungünstigeren Umständen zu verlieren. Vor allem wird er e5 aufs Korn nehmen: 54. …Td3 (bei 54...Te3 55.Tb5 a4 56.Ta5 a3 57.h4 kommt er nicht recht weiter und bei 54...Kg5 ist f7 schwach: 55.Tf8=), doch Weiß hält Remis, indem er seinen Turm auf eine anscheinend passive Position zurückbeordert: 55.Tb1! (55.Tb5 Td5) und nun
a) 55...Td5 56.Te1! a4 (56...Kg5 57.Tf1!) 57.Ta1 Td4 (57...Ta5 58.Ta3 Kg5) 58.Kg3 Td3+ 59.Kf4 a3 60.h4 Td4+ 61.Kg3 Ta4 62.Ta2 und Schwarz kommt nicht voran.

Analysediagramm:
y
Zeller_-_Horvath_2

Schauen Sie, wie dumm der weiße Turm auf a2 steht – so eine Verteidigungsführung lehnt man intuitiv ab! Doch Weiß hat eine Festung. Er gerät nicht in Zugzwang, er kann mit seinem König zwischen f3 und h3 pendeln. Ein äußerst wichtiger Umstand! Und bringt Schwarz seinen König über f8-e8-d7 gen Damenflügel, so kann Weiß den Trumpf des entfernten h-Bauern in die Schale werfen.  In der Partie gab ich diesen leider viel zu voreilig ab…
b) 55...a4 56.Tb4! (56.Ta1 a3) 56...a3 57.h4! a2 58.Ta4 und bei 58. ...Td4 59.h5+ Kg5 60.Txa2 Txg4+ 61.Kf3 Kxh5 hält unter anderem 62.Ta7 Tg1 63.Ta8! das Gleichgewicht.  
54...Txh3 55.Tg8+ Kh7 56.Ta8 Ta3 57.Kg5

Zeller_-_Horvath_3
 

Darauf war ich aus, ich dachte, Turmzüge auf der a-Linie würden nun ausreichen und der schwarze König befände sich in einer Pattsituation. Aber das erweist sich als grobes Fehlurteil.

57...a4 58.Ta7 Kg7 59.Ta8 Ta1 60.Ta7 a3 61.Ta6
Zeller_-_Horvath_4
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61. …a2! Nur so, anders kommt Schwarz nicht weiter: 61. …Kf8 62.Ta8+ Ke7 63.Ta7+ Ke8 64.Kh6! nebst Kg7. Das Erstaunliche ist, dass nun Weiß in Zugzwang gerät. Ich dachte, ich hätte den schwarzen König in der „Mausefalle“, aus der er sich nicht oder nur durch eine Konzession befreien kann, doch plötzlich dreht Schwarz den Spieß um und setzt den weißen König patt! Auf g5 steht er nur scheinbar aktiv; in Wirklichkeit wird jeder Schritt, den er tut, mit einem tödlichen Schachgebot des schwarzen Turmes bestraft.
In meinem Optimismus und meinem Urteil ließ ich mich vom Standardendspiel leiten, das ungefähr so aussieht:

Beispieldiagramm:
 
Standardendspiely

Weiß zieht 1.Kg2! und macht Remis, der schwarze Turm kann nicht ziehen und sobald sich der König dem a-Bauern nähert bietet der weiße Turm von oben Schach und der schwarze Monarch kann sich nicht verstecken. Anders wäre dies, wenn der Bauern noch auf a3 stünde – dann könnte der König sich auf a2 verstecken. In dem Fall müsste der weiße Turm von der Seite Schach bieten – aber das ist schon wieder eine andere Geschichte!  Obiges Standardendspiel ist auch Remis, wenn Schwarz noch einen zweiten Mehrbauern auf der g- oder der h-Linie hätte. Dass ich in der Partie indes in Zugzwang geraten würde wurde mir erst klar, als es schon zu spät war!
62.Ta8 Kh7 63.Ta7 Kg8 64.Ta8+ Kg7 65.Ta5 Kf8 66.Ta7 Ke8 Weiß kann nur den Turm ziehen und durch Zugzwang und Dreiecksmanöver entkommt der schwarze Monarch seinem Gefängnis.  67.Ta3 Kd7 68.Ta6 Kc7 69.Ta8 Kb6 70.Ta3 Kc5 71.Ta8 Kd4 72.Ta5

Zeller_-_Horvath_5
72. …Ke4! die zweite Feinheit: Schwarz kann von zwei Feldern aus den e-Bauern angreifen. Leider fällt der e-Bauer - und zwei sind einer zuviel!                            0–1

Diese Erfahrung grub sich tief ein, seither fühle ich mich in solchen und ähnlichen Turmendspielen deutlich sicherer in Punkto Urteil und Planfindung.

Im Januar in Schwäbisch Gmünd wurde ich dann Zeuge dieses Turmendspieles am Spitzenbrett der 5. Runde:

R. Buhmann (2577) – H. Pötsch (2408), Staufer Open 2011

(nach 51.Kd3-c2 ):
Buhmann_-_Ptsch_1  
Achtung: ich habe das Brett absichtlich gedreht, damit die Ähnlichkeiten mit dem Vorherigen besser ins Auge springen – Sie sehen die Stellung von der Perspektive des Verteidigers aus. Hier stand Pötsch vor der schwierigen Entscheidung, ob er den seinen König aktiv nach vorne oder passiv ins Eck beordern sollte.
51.Kc2 Kc6? Während ich verlor, weil ich zu aktiv spielte, geht Pötsch hier am passiven Spiel zugrunde! Richtig war 51...Kc5!, um das Zusammenspiel König und Turm zu optimieren und noch die letzten Ressourcen herauszuquetschen. Doch es war auch kaum möglich, bei begrenzter Zeit herauszufinden, dass Schwarz nach 52.Th8 Kc4 53.h7 Th2+ 54.Kb1 Kd3 55.c4! die Partie noch retten kann:

Analysebrett:

Buhmann_-_Ptsch_2
 

Und zwar mit 55. ...d4!
(55...dxc4 56.Td8+; 55...Kxc4 56.Tc8+) 56.c5 Kc3 57.c6 Th1+ 58.Ka2 Th2+ 59.Ka3 und nun ...Th6!! (der springende Punkt, dagegen büchst der weiße König nach 59...Th1 60.Ka4 Kc4 61.Ka5 Kc5 62.Ka6 aus) 60.Ka4 (60.c7?? Ta6 matt –  das Zusammenspiel der schwarzen Figuren eben!)  Txc6 61.Ta8 Th6 62.Tc8+ Kb2! 63.h8D Txh8 64.Txh8 und nach …d3 ist es remis.
52.Th8 Kb7 53.Kd2 Ka7 

Buhmann_-_Ptsch_3
 
54.h7!
Die einzige Möglichkeit, voran zu kommen. Nun kann Weiß mit seinem König übers ganze Brett wandern, während sein schwarzer Widersacher auf g2/h2 verweilen muss. Aber halt! Immerhin hat Schwarz zwei Felder für seinen König zur Auswahl – dann sollte er ja eigentlich nicht in die Verlegenheit kommen müssen, seinen Turm zu ziehen und der Turm kann von h5 aus den Bauern d5 decken, oder? Denn was klar wird, wenn wir uns wieder an das Standardendspiel von vorher erinnern: sollte d5 verloren gehen, dann besitzt Schwarz zwei Mehrbauern, und das wäre, da der zweite Bauer von Weiß nicht auf den äußeren zwei Linien steht, für Weiß gewonnen!
54. ...Kb7 55.Ke2 Ka7 56.Kf2 Kb7 57.Kg2 Th5 58.Kg3 Th6 59.Kf4 Th5 60.Kg4 Schon das erste Problem. Der schwarze Turm kann den weißen König nicht daran hindern, den Äquator zu überschreiten. Kein Problem wäre es für Schwarz, wenn Weiß den König nach d4 gebracht hätte. Dann bleibt der schwarze Turm auf h5 und Schwarz zieht einfach …Kb7-a7-b7. Doch nun pirscht sich der weiße König von hinten an den Bd5 heran:
60. ...Th1 61.Kf5 Th2 62.Ke6 Th5 63.Kd6 Ka7

Buhmann_-_Ptsch_4

64.Kc6!
Und schafft es, den Gegner in Zugzwang zu bringen: er nimmt dem Gegner b7 und zwingt den Turm, sich zu bewegen.
64. ...Th6+ 65.Kxd5 Kb7 66.c4 Jetzt ist die Gewinnführung klar und einfach: der c-Bauer läuft unbeirrt nach vorne und wenn Schwarz ihn schlägt gewinnt Tc8+ bzw. die Umgehung Ta8.
66. ...Th5+ 67.Kd4 Th4+ 68.Kc3 Th5 69.Kb4 Ka7 70.c5 Th6 71.c6          1–0 
Mittwoch, 16 Februar 2011 10:32

Menschen ändern sich – nicht wirklich

Gestern, spät am Abend, war ich zu müde, um mich zu sehr zu konzentrieren, sei es um etwas zu schreiben. Überhaupt der Computer. Viel zu oft hängt man an diesem Kasten, es muss doch noch möglich sein, ohne auszukommen. Also kruschtelte ich in meinem Büro, in den Büchern, Unterlagen, Erinnerungen. Über Capablanca und Aljechin und ein paar Schleifen von Assoziationsketten hinweg blieb ich irgendwie im Jahr 1991 haften. Zwar nicht so weit weg wie Capablanca, aber doch auch schon ein ordentliches Stück. Es dauerte, bis mir auffiel, dass die Zeitspanne von 20 Jahren dazwischen liegt. Überhaupt, war es nicht ziemlich genau vor 20 Jahren, dass ich mich hier in Tübingen zum Studium einschrieb? Stimmt, das muss im Februar gewesen sein, im April zog ich hierher – und bin hängen geblieben.

Da bekam ich spontan Lust, Partien von mir aus dieser Zeit, Anfang 1991, nachzuspielen!

Früher konnte ich mich noch lange an jede einzelne Turnierpartie erinnern, das hörte irgendwann mal auf. Heute kann ich mich kaum mehr an die Züge erinnern, dann schon eher an Gefühle, die an eine bestimmte Partie verknüpft sind oder an die spezielle Turniersituation.  Jedenfalls erscheinen mit heute alte Partien von mir völlig fremd und ich kann davon ausgehen, dass ich über manche Züge und Sentenzen, die ich damals gespielt haben soll (es steht so auf dem Partieformular!) im Guten wie im Schlechten verblüfft sein werde!

Es war noch eine halbe Flasche Rotwein vorrätig, ich stellte die „Feiertagsfiguren“ auf und schaltete dazu SWR1 im Radio ein – da läuft immer noch ziemlich die gleiche Musik, die ich schon vor 20 Jahren hörte – und begann die ersten Partien aus dem Ordner herauszusuchen und nachzuspielen.

Man ist es ja vom Internet, zum Beispiel bei Live-Übertragungen, gewohnt, den Rätselspaß „predict the move“ zu spielen. „Was würden Sie nun machen – und was spielt der Großmeister dann tatsächlich? Rechnen Sie sich 5 Punkte an, wenn Sie genau so spielen wollten und noch mal 3, wenn Sie die versteckte Drohung wahrgenommen haben“. So oder ähnlich kennt man das, nur betrachtete ich hier nicht fremde, sondern eigene „Werke“, wenngleich mit einer gewissen Distanz, hervorgerufen durch die verflossene Zeit und die schwindende Erinnerung. Und die Frage lautete nicht: „ spiele ich wie ein Großmeister?“,  sondern „spiele ich wie ich?“ oder „hat sich mein Denken und mein Schachverständnis entwickelt, oder habe ich immer noch dieselben Gedankengänge?“ 

Spätestens nachdem ich die folgende Partie nachspielte war mir schlagartig klar, dass vor allem die letzte Behauptung zutrifft. Im Grunde verändert man sich nicht. Weder als Mensch noch als Schachspieler. Meistens wollte ich letzte Nacht dieselben Züge machen, die ich dann auch vor 20 Jahren zog. abgesehen von ein paar Ausnahmen und „barocken Ausrutschern“. Damals hatte ich eine Zahl von um die 2300, im Grunde war die Entwicklung meines, wenn man es so will, „Stils“, schon abgeschlossen. Auch wenn im Laufe der Jahre noch Erfahrung, Genauigkeit, Wissen und psychologisches Geschick dazukam – die Spielstärke war damals vorhanden und ausgeprägt, die „Kampfeskraft“ wahrscheinlich größer als heute. Aber im Grunde genommen ist man derselbe. Das Frappierende: man lernt auch schwerlich aus seinen Fehlern, das geht vielleicht kurzfristig, solange einem eine Fehlleistung noch deutlich im Bewusstsein ist, aber wenn die Fehlerquelle nicht mehr so präsent ist, wird man in ähnlichen Situation wieder zu den gleichen falschen Schlüssen und Intuitionen gelangen wie einst vor ferner Zeit:

P. Kunert – F. Zeller

Staufer Open 1991

(nach 23.Sf3-e1 )

Kunert_-_Zeller_1991

Weiß ist derart überspielt, dass ich damals wie heute gar nicht mehr wahrnahm, dass er mit seinem letzten Zug, Sf3-e1, ja was angegriffen hatte. Ich wunderte mich beim Nachspielen, warum in aller Welt ich diese völlige Gewinnstellung verloren haben soll. Hatte ich das Resultat falsch eingetragen? In der Diagrammstellung drängt sich mir auch das Motiv …Lc6-b5 auf, zu gern wollte ich es zum Laufen bringen. Deshalb kreisten meine Gedanken letzte Nacht um die Züge …Lb5 und …cxd4, und als ich auf dem Partieformular 23. …Td8 las war ich spontan tiefster Zustimmung – ja, wunderbar, toller Vorbereitungszug, muss gut sein! Aber dann stand da 24.Sxg2 und ich erschrak! Ich hatte die Bedrohung übersehen – damals wie heute! Immerhin war es nur die Qualität, aber wenige Züge später gab ich nach einem weiteren Fehler entnervt auf. Auch in dieser Beziehung hat sich in all den Jahren nichts geändert: nach einer Enttäuschung bin ich nicht mehr in der Lage, mich mit allen Kräften gegen die drohende Niederlage zu stemmen und gehe schnell unter.

Wie im Schach so auch im Leben. Sie kennen die Modellfrage: „was würde ich tun, wenn ich wieder in dieselbe Situation kommen würde wie damals, so frisch und knackig, nur mit der heutigen Erfahrung und Weisheit aufgemotzt?“ Ich sage Ihnen: Sie würden es genauso wieder machen. Auch Ihre Fehler würden Sie wiederholen. Und Jahre später würden Sie hoffentlich darüber schmunzeln können, so wie ich es letzte Nacht tat, der Rotwein trug mittlerweile das seinige zum verklärten Lächeln bei.

Freitag, 04 Februar 2011 01:05

Spielerschwund: Rücktritt von Florian Jenni

Kürzlich las ich in Schweizerischen Schachzeitung (SSZ), dem Verkündigungsorgan des Schweizer Schachbundes, daß Florian Jenni, seines Zeichens Großmeister und Nationalspieler, seinen Rücktritt vom Profischach bekannt gegeben hat. Zur Begründung dieses Schrittes gab er „Motivationsprobleme und fehlende Zukunftsperspektiven“ an. Der 30jährige war bereits mehrfach Schweizer Meister. Innerhalb der Schweiz hätte er schon alles erreicht, aber international sei ihm der Sprung zu größeren Taten verwehrt geblieben. Neben der zunehmenden Enttäuschung über die Fide-Politik und deren Unfähigkeit, Sponsoren zu akquirieren fühlt sich Jenni auch vom eigenen Verband im Stich gelassen, der sich nur um die Jugendlichen kümmern würde. So zitiert ihn die SSZ: „…wenn die Spieler dem Juniorenalter entwachsen sind, werden sie praktisch fallengelassen.“

Jenni ist einer von nur sechs Großmeistern in der Schweiz. Dabei sind Milov, Kortschnoi und Gallagher eingebürgert, Brunner eher inaktiv und Jenni war in den letzten Jahren neben Pelletier der einzige gebürtige Schweizer, der mit dem Großmeistertitel ausgerüstet an seiner Profikarriere gebastelt hat.

In Deutschland ist diese Position vergleichbar mit der von Georg Meier. Der Trierer hat zwar schon gezeigt, dass er international den Anschluss nicht verloren hat und holte sich zuletzt im Ausland einige Turniersiege, doch in der Unzufriedenheit mit der Unterstützung durch seinen Verband können er und Jenni sich die Hände reichen. Der DSB zeigt sich auch wenig beweglich, zudem ist man auf Funktionärsebene gerade mit dem Übergang beschäftigt, da Präsident Weizsäcker sich bald verabschieden wird. Unsere Spitzenkräfte wie Meier und Naiditsch scheinen sich derzeit auf den Bundestrainer eingeschossen zu haben, aber auf eine Wandlung schient man vergeblich zu warten.

http://www.schachbundesliga.de/medien/audioindex.php?menuid=620&topmenu=46&keepmenu=inactive

Auch uns drohen unsere Aushängeschilder verloren zu gehen. Meier wird vielleicht noch nicht so weit sein, sich vom Schach völlig los zu sagen, dazu ist er noch jung genug und hat sein Potential noch nicht gänzlich ausgeschöpft, aber es kursieren immer wieder Gerüchte, dass er einen Verbandswechsel in Betracht ziehen könnte. Verständlich wär`s ja…

   

Samstag, 29 Januar 2011 11:00

Aus der Provinz (II):

 

Während in Wijk aan Zee unter den Augen der Weltöffentlichkeit Schach auf spielerisch wie organisatorisch hohem Niveau gepflegt wird fand ein ähnliches Schachfestival auch im tschechischen Marienbad statt: drei Rundenturniere für Titelträger und solche die es werden wollen, dazu noch ein Open fürs gemeine Schachvolk zur Abrundung. Im Westböhmischen blieb die Öffentlichkeit abgeschnitten vom Geschehen, und das war auch gut so, denn vorzeigbar war die Veranstaltung beileibe nicht.

Schon seit Jahren wollte ich mal in solch einem Rundenturnier mitspielen, bei dem man jeden Tag einen gleichstarken oder stärkeren Gegner bekommt. Üblicherweise spiele ich nur in den Open in meiner näheren Umgebung. Da treffe ich in neun Spielen meist auf sechs oder mehr Gegner, die ich durch meinen Elovorteil eigentlich zu schlagen habe. Zudem wollte ich mal wissen, ob ich mit über 40 noch in der Lage bin, auf Großmeister-Norm zu spielen. Dummerweise schlug ich vor ein paar Jahren die Einladung zu einem Rundenturnier in Wien aus, um stattdessen ein anderes Turnier zu spielen –dies wurde dann das allerschlechteste meiner „Karriere“! Hoffentlich werde ich irgendwann noch einmal nach Wien eingeladen?!

http://schach.wienerzeitung.at/Tnr2582.aspx?art=4

So nahm ich die Chance wahr, zu Jahresbeginn in Marienbad, tschechisch Marianske Lazne, zu spielen. Zunächst muss man sich „einkaufen“, sprich Startgeld in nicht unbeträchtlicher Höhe entrichten. Das verstehe ich durchaus, nur hätte ich dann auch was fürs Geld geboten, nicht „nur“ die nackte Voraussetzung, gegen drei Großmeister spielen zu dürfen.

Vor Ort erwartete mich ein Kulturschock. Zwar ist Marienbad insgesamt ganz reizend, viele alte Villen sind renoviert und auf Hochglanz poliert worden. Barocke Pracht blitzt durch die Baumreihen hervor, üppige vier Sterne-Plus-Hotels gibt es zuhauf. Solcherlei Zuckergussansichten kennt man aus der Internetberichterstattung, ich denke da an das Duell Snowdrobs versus Oldhands (Mädels gegen Altmeister), ein Format, das seit ein paar Jahren in Marienbad unter ausgezeichneten Bedingungen stattfindet. Doch zunächst bot sich mir dieses Bild dar: kalter Winter, Nebensaison, das in die Länge gezogene Städtchen (besteht im Prinzip nur aus einer langen Strasse) eher verwaist, die kulturellen Angebote ausgedünnt, Museen geschlossen. Aber vor allem: das Hotel Kossuth, das Spiellokal, ist von der Aufbruchsstimmung der tschechischen 90er nicht berührt worden. Es befindet sich in einem erbarmungswürdigen Zustand, wenngleich man erahnen kann, dass es vor hundert oder mehr Jahren reichlich Glanz versprühte, denn es bietet, an einem erhöhten Ort liegend, einen prächtigen Blick über den Marienbader Kessel. Der Bau an sich, aus drei aneinander gereihten Häusern bestehend, ist riesig, wuchtig und würde die ideale Grundmasse für eine Nobelhotelkette bieten.

Leider hat sich in Zeiten des Sozialismus und auch danach niemand seiner erbarmt und so führt das Haus heute eine Notexistenz und treibt gelassen seinem Untergang entgegen. Als es mal stark regnete wurden im Flur große Eimern verteilt, um den Regen, der durch das marode Dach triefte, aufzufangen. Behelfszustand und Resignation eben.

Für eine Provinzveranstaltung des Schachsports bietet so ein kostengünstiges Ambiente den willkommenen Rahmen. Es ist ja nicht zuletzt eine Geschäftsidee, die die Organisatoren von Czechtour umtreibt, und so gilt es mit möglichst wenig Kosten und Aufwand die Struktur zur Verfügung zu stellen. Ansprüche, so lernte ich, muss man freilich zurückstellen und alles dem Ziel, Norm, unterordnen. Ich bemühte mich und es funktionierte auch. Anfänglich fiel es mir noch schwer, mich mit dem Spielmaterial anzufreunden. Als Bretter dienten vergilbte braun-gelbe Kartons, aus zwei Teilen bestehend und in der Mitte mit einem dunklen Klebeband zusammengehalten. Einmal war das Klebeband auf meinem Brett so breit wie eine Reihe, so dass es wirkte, als hätte das Brett neun Reihen – ich tauschte es schnell aus. Zwischendurch fand ich es auch ganz amüsant in diesem vor sich hinwelkenden Hotelrelikt in seinem muffigen Plüsch, und wenn sich mal eine Sprungfeder meines Stuhles knarzend durch den Stoff Bahn brach oder der Untersatz bei jeder Bewegung zu zerbersten drohte, nahm ich das belustigt hin, schnappte mir einen freien Stuhl, der noch robust wirkte, und spielte unverdrossen weiter.

Drei Großmeister, allesamt ihrer besten Zeit schon entwachsen, stellten sich der Veranstaltung zur Verfügung, von denen einer, Malanjuk, vor ein, zwei Jahrzehnten noch zur erweiterten Weltspitze zählte. Sein Genie blitzt auch hie und da auf, vor allem in der Post-Mortem-Analyse, die ich mit ihm führen konnte. Ansonsten betätigten sich die Großmeister überwiegend als Remisschieber. Kamen im Trainingsanzug und mit Schlappen zum Brett, wurden im Hotel Kossuth abgespeist, zogen ein paar Mal, boten Remis und gingen wieder auf ihr Zimmer. Von den fünf Partien des Großmeisterturniers waren zwei oder gar drei stets nach wenigen Zügen beendet, die gleichzeitig stattfindenden IM-Turniere boten deutlich mehr Abwechslung und Kampfgeist.  Gern traf man die Großmeister auch beim Rauchen auf dem Flur an. In Tschechien gehört der blaue Dunst noch zum Alltag, in Gaststätten gibt es stets ein Raucher- und ein Nichtraucherzimmer. Aber wehe, wenn die Großmeister provoziert werden! Ich erdreistete mich als einer der wenigen, Remisofferten auszuschlagen beziehungsweise opferte als Schwarzer frühzeitig einen Bauern, um die Titelhalter gleichsam zum Spielen zu zwingen. So kommentierte Malanjuk meine Eröffnungswahl 1.d4 Sf6 2.Sf3 c5 3.d5 e6 4.Sc3 b5!? nach 5.dxe6 fxe6 6.Sxb5:

Malaniuk

„I was one pawn up – I couldn`t offer draw!”

Die verdiente Strafe folgte auf dem Fuße: ich musste zweimal gegen die Altmeister hinter mich greifen. In der Tabelle warf es mich auch zurück, doch darauf kam es nicht mehr an, die Norm (6,5 aus 9) war eigentlich nach 5 Runden (2,5) kaum mehr zu erreichen.

http://czechtour.net/marienbad-open/results-and-games/

Dass es alternde Schachprofis nicht leicht haben weiß man eigentlich schon, und doch ist es irgendwie deprimierend, aus nächster Nähe zu sehen, wie sich etliche Profis ihr Gnadenbrot in zugigen Kaschemmen verdingen müssen, ihre Zahl ruinierend und immer bereit, mal ein Spiel für etwas Taschengeld verkaufen zu können. Wozu will ich eigentlich Großmeister werden, wenn solche Aussichten locken?!

Ich bin jetzt auch erst mal „geheilt“ und verspüre zunächst mal keine Lust mehr auf eine „Ochsentour im Osten“. Es gibt sicher eine glamouröse Seite im Schach. Da partizipieren die oberen 2700er und noch die Spitze im Damenschach. Schön ist es auch, nachdem man mal eine andere Perspektive eingenommen hat, wieder zu erkennen, auf welch hohem Niveau hierzulande viele Schachveranstaltungen, offene Turniere ausgetragen werden. Was freue ich mich nun wieder auf Deizisau, dem Mekka des Deutschen Schachs über Ostern! Aber es gibt etwas, das weder attraktiv noch erstrebenswert ist. Schach am Rande des Existenzminimums. Schach am Rande der Gesellschaft. Schach verzagt eben. Und diese Seite unseres einst edlen Spiels ist leider gar nicht so selten anzutreffen…

 

…habe ich heute anlässlich eines GM-Turniers in Tschechischen Marienbad gespielt. 
Sie umfasste nur drei Züge, dabei hatte ich mir eigentlich fest vorgenommen, auf Gewinn zu spielen. Auf jeden Fall zu spielen, denn deswegen bin ich ja hier. Dachte ich. Doch der Traum von der GM-Norm ist längst ausgeträumt, es wird Zeit, dass das Ding zu Ende geht.
Nun gut, werden Sie sagen, nichts Besonderes, das kennt jeder nur zu gut, ein Turnier ist schon überreif, man ist etwas gefrustet oder zumindest nicht ganz zufrieden.  Wo ist also der Witz? Er besteht darin, dass ich mich in meinem Appartement den gesamten Vormittag auf die Partie vorbereitet habe, unterbrochen von kleineren Appetithäppchen und einer erfrischenden Dusche hat mich das Ausarbeiten eines Konzeptes, das einigermaßen überraschend ist und auch noch analytisch wasserdicht daherkommt, runde fünf Stunden Kopfzermartern bereitet…
  
Dabei begann alles recht harmlos. Beim Frühstück war ich die Partien meines Gegners, dem momentanen Tabellenführer und Elobesten im Turnier, der wahrscheinlich auch als einziger eine GM-Norm machen wird, durchgegangen und hatte mich entschlossen, heute nicht mit meinem Lieblingszug 1.e4 aufzuwarten, weil
a)       die Jungs sich vorbereiten; in meinen zwei bisherigen 1.e4-Weißpartien holte ich nichts, aber auch gar nichts aus der Eröffnung, nur Zeitnachteil und ergatterte mühsam einen halben Punkt.  
b)       ich keine Lust auf seinen Franzosen hatte. Es hätte sich gerade die Variante ergeben können, mit der ich eine miserable Bilanz habe.

In dem Fall ziehe ich gern 1.c4, und da mein Gegner auf Grünfeldindisch schwört war 1.c4 Sf6 2.Sc3 d5 so gut wie sicher. Bei der Durchsicht einiger aktueller Partien kam mir eine Begegnung auf den Schirm, in der die Weiße, die Russin Kovalevskaya, recht  flott gegen die frühere Weltmeisterin Stefanova gewann, und das mit einer frühen Abweichung von der Hauptlinie. Als dann noch mein „Rechenmodul“ (ganz falsch, dem sollte man nicht glauben, zumal da mein Laptop und auch mein Programm leicht veraltet sind!) den Zug 7.d3 empfiehlt  und es mit 7.d3 nur eine Handvoll Partien in der Datenbank gibt, war klar: ich bin auf der richtigen Spur! Hier kann man eine Überraschung landen.

Ganz wie früher die Goldgräber fing ich also an dort zu graben, wo ich das gelobte Land vor mir wähnte. Zunächst ließ es sich gut an, ich fand viele vorteilhafte Ideen und Abspiele und war schon einigermaßen euphorisch. Aber irgendwann kam die Sache ins Stocken: als ich selber nachdachte, was Schwarz wohl so spielen könnte, wusste der Rechner auch keinen besonders schlauen Rat mehr und sein anfänglicher „+=“-Optimismus löste sich mit zunehmender Analysedauer auf – und wandte sich sogar vermehrt in das Gegenteil! Je weiter man die Dinge in die Tiefe trieb desto mehr schlug die Bewertung ins Negative aus – für den Weißspieler! Langsam dämmerte es mir: ich war dabei, einen Quatsch zu spielen. Warum sollte man sich freiwillig auf etwas einlassen, was im besten Falle Ausgleich für Weiß versprach? Und das, zumal die richtigen schwarzen Züge allesamt „gesund“ und durchaus zu finden waren, insbesondere von einem 2500+-Mann. Ich war konsterniert, doch das Schlimmste: bis zum Spiel verblieben mir keine zwei Stunden, gegessen hatte ich auch nichts, was sollte ich tun? Wieder was ganz anderes spielen? Doch 1.e4? Es war zum Verzweifeln…

Egal, dachte ich mir schließlich, ich muss den eingeschlagenen Kurs beibehalten, versuche ich eben eine Linie zu finden, die die meisten Chancen bietet und zumindest noch den Ausgleich sichert. Und ich reizte alle Motive aus, die die Stellung hergab, kombinierte die Zugreihenfolge in jeder erdenklichen Kombination, sprang vor, wieder zurück, verbesserte, änderte, knüpfte, nähte und spann… und siehe da, schließlich war es einigermaßen wasserdicht: meine Hauptlinie ging fast bis zum 40. Zug und endete quasi mit einem Remisendspiel!

Schließlich war Zeit, zu gehen. Und wenn er in den ersten sechs, sieben Zügen abweichen würde? Keine Ahnung, dann improvisiere ich eben, so was habe ich schon in den späten 90ern gespielt, wird mir schon wieder einfallen…

Als ich mich auf den Weg ins Spiellokal machte hatte ich noch 25 Minuten Zeit. Normalerweise benötige ich mindestens 15 Minuten für die Strecke, es geht meist bergauf, ich hab` mich schon öfters in der Zeit vertan und tauchte schon einige Male abgehetzt und verschwitzt auf, als die Uhren bereits liefen. Unterwegs machte sich der Hunger plötzlich mit Macht bemerkbar, mein leerer Magen nörgelte. Ich musste dringend noch was Nahrhaftes aufnehmen, das kostete wieder ein paar Minuten -  auch diesmal war die Runde schon gestartet, mein russischer Gegner, der mich an den jungen Putin erinnert, saß schon mit versteinerter Miene am Brett.

Ich gebe ihm die Hand, er entgegnet mir einem emotionslosen Blick, ich notiere auf mein Blatt – plötzlich um mich herum ein Tumult. In einer mir unverständlichen slawischen Sprache beschimpft mich einer, der hinter mir steht – es ist ein russischer Teilnehmer aus dem im selben Raum stattfindenden IM-Turnier. Neben mir spielt Malanjuk, früher ein starker Großmeister, jetzt gibt er hier den abgehalfterten Revolverhelden und Remisenschieber vor Ort – bzw. er spielte. Denn er hat bereits Remis gegeben, bevor ich meinen Partiezettel überhaupt ausfüllen konnte. Er beteiligt sich auch lautstark an der Diskussion in einem tiefen Bass, lacht und gestikuliert wild. Er übersetzt anscheinend, was der Russe mir vorwirft: ich würde jeden Tag zu spät zur Partie kommen, das wäre unverschämt und so weiter. Hat er vielleicht auch recht, ich würde auch lieber pünktlich sein, aber es klappt halt nicht, außerdem ist das doch jedem selber überlassen, komischerweise könnte ich auch nicht sagen, mit welcher „Regel“ wir hier spielen, zumindest hat keiner sich mal zum Thema geäußert, wie viel man sich verspäten darf. Abgesehen davon bezahle ich hier viel Geld dafür, dass ich in dieser jämmerlichen Provinzposse mitmischen darf, doch das ist ein anderes Thema, vielleicht mal später mehr. Jedenfalls geht mir in den wenigen Minuten - oder sind`s nur Sekunden? - wirres Zeugs durch den Kopf, mittlerweile wurde 1.c4 Sf6 2.Sc3 d5 gezogen (a tempo von meinem Gegner) und mein 3.cxd5 beantwortete er unvermittelt mit 3. …Sxd5 untermalt durch ein „Remis?“-Raunen.  Eigentlich wollte ich ja spielen, aber im Moment fühlte sich alles recht absurd an, ich war derart irritiert, mir wurde schlagartig klar, dass ich verlieren würde, wenn ich weiterspielen würde und schlug kurzentschlossen ein.

Als Anhang biete ich Ihnen noch meine festgehaltene Analyse, ungefilterte Eindrücke ins Labor eines Internationalen Meisters, die ganze Paradoxie des modernen computerbewaffneten Schachs wird dabei vor Ihren Augen ausgebreitet – Enthüllungen, wie sie wikileaks auch nicht skandalträchtiger bieten könnten: eine der vielen Variante hätte aufs Brett kommen können, wenn wir denn gespielt hätten. Ich sage: hätte.

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Donnerstag, 30 Dezember 2010 15:47

Brutale Bauernendspiele I

Neulich in der Oberliga Württemberg ergab sich folgendes brisante Bauernendspiel:

zellerg51

Weiß am Zug

Harry Messner  (2154) – Gerd Bader (2063)

Stellung nach 45. …g6-g5!

Wie würden Sie die Stellung einschätzen? Kann Weiß am Zug gewinnen? Oder gerade noch Remis halten?

Mein Mannschaftskollege, der die schwarzen Steine führte, kämpfte ums Remis – so dachten wir alle, denn noch wenige Züge zuvor stand er völlig auf Verlust und das sich anbahnende Bauernendspiel schien oberflächlich betrachtet auch sehr günstig für den Weißen zu sein – er plant mit dem König den Bauern auf d4 abzuholen, dann kann Schwarz  aufgeben. Was soll da noch schief laufen, zumal die verbundenen weißen Freibauern eine Macht zu sein scheinen? Doch zwei Dinge über Bauernendspiele lehrt uns dieses Beispiel wieder: verbundene Freibauern im Bauernendspiel dürfen nicht überschätzt werden – viel kostbarer sind meist weit auseinander liegende Freibauern! Und Bauernendspiele sind brutal, weil sie so konkret sind und letztlich jedes Tempo die Dinge schlagartig ändern kann. In keiner anderen Partiephase ist der Grat zwischen Gewinn und Verlust so schmal wie hier!
46.Kf3?, richtig war 46.g4 und nach ...f4 kommen beide Seiten nicht weiter, weil der König jeweils die zwei potentiellen Freibauern bewachen muss, aber der Weiße, der ja schon seit langem den Sieg vor der Nase hat, sieht keine Anstalten, seinen Gewinnplan radikal aufzugeben. Also: 46.g4! f4 (46...fxg4 47.hxg4 d3 48.Kf2! h5 49.gxh5 g4 50.h6 g3+ 51.Kxg3 d2 52.h7=) 47.Kf2 d3 48.Kf3 Kd7 49.c6+ Kd6 50.Kf2 Kc7 51.Kf3 Kd6 52.Kf2=; ebenso geht auch erst 46.d6+ Kd7 und dann 47.g4 fxg4 (oder …f4 =) 48.hxg4 d3 49.Kf2 (auf den Fehler 49.Kf3? sei hingewiesen: …h5 50.gxh5 g4+! gewinnt ein wichtiges Tempo, Schwarz kommt zuerst zur Damenumwandlung) 49...h5! 50.gxh5 g4 51.h6 g3+ 52.Kxg3 d2 53.h7 d1D 54.h8D Dg1+ 55.Kf4 Dxc5=); schlecht war auch 46.Kf2? mit derselben Idee, den König über e2 nach d3 zu führen, wegen 46. …g4! Und Schwarz gewinnt, etwa 47.h4 (47.hxg4 fxg4 48.Ke2 h5 49.Kd3 h4 50.gxh4 g3 51.Ke2 d3+ 52.Kxd3 g2) 47...f4! und Schwarz erhält zwei auseinander liegende Freibauern, die der weiße König nicht halten kann.

zellerh5

46. …h5!!
Wie schwer man sich stets mit der Beurteilung der Bauernendspiele tut (und wie trügerisch vorschnelle Schlüsse sind) zeigte sich vor der Tür, als sich die besorgten Teamkollegen trafen. Wir hofften, Gerd könne noch das rettende Remis erreichen, wonach wir beste Aussichten auf den Gesamtsieg haben würden. Die meisten aus der Runde nahmen …h5 mit leichtem Entsetzen zur Kenntnis! „Warum spielt er nicht das sichere …h6? Das würde doch Remis machen!“ Ich räumte ein, dass das vielleicht gar nicht so klar wäre und es durchaus sein kann, dass …h5 eher remis hält als …h6. Von wegen Remis – das ist das einzige Ergebnis, das in der Stellung gar nicht mehr vorkommt. In Wirklichkeit wäre …h6? ein glatter Verlustzug, denn nach 47.g4! kämpft sich Weiß den Weg nach e4 frei und holt d4 noch rechtzeitig ab. Freilich ist das alles andere als banal nach 47. …f4 48.Ke4 Kd7 49.Kxd4 Ke7 50.Ke4 Kd7, da Schwarz auch einen gedeckten Freibauern hat. Weiß kann nur gewinnen, indem er zunächst den h-Bauern nach h5 spielt, 51.h4! Ke7 52.h5 und danach im richtigen Moment d6 nebst Kd5 folgen lässt: 52. …Kd7 53.d6! Kc6 54.Kd4 Kd7 55.Kd5!! f3 56.c6+. Im Weiteren werden beide Spieler eine Dame bekommen, doch Weiß wandelt mit Schach um und gewinnt den wichtigen Bh6, wonach die Partie theoretisch gewonnen ist.
Dass dagegen 46. …h5!! gewinnt sahen zu diesem Zeitpunkt beide Spieler!  Schwarz wird am Königsflügel durch einen Durchbruch einen zweiten Freibauern bilden können und Weiß wird außerstande sein, diese halten zu können. Zwar hat Weiß die beiden verbundenen Freibauern, aber die sind in diesem Fall erstaunlich zahnlos, der schwarze König kontrolliert sie recht locker.
47.h4 oder 47.Ke2 (47.g4 fxg4+ 48.hxg4 hxg4+ 49.Kxg4 d3) 47. …g4!! 48.h4 f4! und es reicht gerade – Schwarz opfert zwei Bauern und einer kommt dann durch! 49.d6+ Kd7 50.gxf4 g3 51.Kf3 d3–+
47. …g4+ 48.Kf4 48.Ke2 f4! 49.gxf4 g3-+

zellerkf4

Noch Zugs zuvor dachte ich, dass Schwarz nun mit 48. …d3 49.Ke3 f4+! 50.Kxd3 f3 oder ...fxg3 das Remis forcieren kann, denn der weiße König muss auch den schwarzen Bauern im Zaum halten (mein Programm zeigt übrigens hier unbeirrbar +3,5 an!) . Doch langsam dämmerte es mir: warum sollte Schwarz nicht auch gewinnen können, denn, was zieht eigentlich der Weiße nach einem Wartezug? Und prompt spielte Gerd…
48. …Kd7!  
Und siehe da: Zugzwang! Der weiße König blockiert scheinbar wunderbar aktiv, doch sobald er die fünfte Reihe betritt läuft der d-Bauer zur Dame. Ihm bleiben also nur Züge mit den so imposant wirkenden Freibauern, doch die bedeuten auch nur ein sinnloses Wegwerfen. Welch trauriges Los für diese einst so stolzen Burschen!

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