Dirk Paulsen

Dirk Paulsen

Dienstag, 10 Februar 2015 15:23

Der Lasker Grand-Prix und eine Menge Drumrum

Der Lasker Grand-Prix vom 30.1.2015 und eine Menge Drumrum, oder auch ein weiteres Kapitel zum Stichpunkt „Vize-Paulsen“

Am Nachmittag des 30.1. machte ich eine längere Radtour mit meinem Sohn David, bei keineswegs angenehmen äußeren Bedingungen. Da wir uns aber sehr angeregt unterhielten – ich mache das jetzt regelmäßig mit ihm und wir sprechen über alle möglichen Themen, nach freier Wahl, aber machen dabei einen Rundkurs durch alle denkbaren Wissensgebiete; gestern kamen wir auf Bodenschätze, Erdöl, Diamanten, die OPEC, Scheichtümer, Demokratien, Plattenspieler, wegen der Saphire, Politik(er) na und was nicht so alles --, verging die Zeit aber wie im Fluge und trotz am Ende eiskalter Füße, Ohren und Hände hatten wir eine Menge Spaß – und zugleich ein paar nette Begegnungen. So trafen wir zunächst Jan-Daniel und Sohn Jirawat Wierzbicki, welche ich spontan zum abendlichen Schnellschachturnier bei Lasker lud, sowie später Ismajl Rama, mit identischem Vorschlag.

Nur ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass, sofern die drei den Einladungen gefolgt wären, der Schachclub tatsächlich die Kapazitätsgrenzen überschritten hätte. Denn: es wurde ein denkwürdiger Abend im altehrwürdigen Schachclub Lasker, welcher zwar sehr angenehme, aber doch begrenzte Spielbedingungen zu bieten hat, seit dem Umzug zurück in Rathaus(Steglitz)Nähe, wo ich ihm einst, am 5. März 1973, beitrat, als er damals im Café Schallehn in der Albrechtstraße 127 beheimatet war. Warum ich diese beiden Eckdaten so genau erinnere? Nicht allein ein mir unbestätigt zugeschriebenes gutes Gedächtnis (welches ich, aufgrund vor allem in letzter Zeit, zahlreicher unliebsamer eigener Erfahrungen, schlichtweg verleugne) zeichnen dafür verantwortlich, sondern vielmehr hat Gevatter Zufall, der Grimmelschnitter, da seine Hände im Spiel. Denn: a) stellte der damalige Kassierer, Herr Kessler, mir meinen Mitgliedsausweis zwar am 5. März aus, jedoch trug er als Eintrittsdatum den 15. März ein. Seine durchaus sympathische Begründung: so wäre der März für mich beitragsfrei.

Die 127 hat eine sehr profane Bewandtnis, ist doch mein Geburtstag am 27.1. gelegen und dieser Umstand verschaffte mir von Beginn weg eine höhere Verbundenheit mit diesem Verein: das kann doch kein Zufall sein? Gibt es nicht doch so etwas wie Schicksal? Das geht denn wohl doch etwas zu weit? Jedoch wurde ich gerade unlängst mal wieder befragt, wo sich denn der Schachclub Lasker, nach längerer, bewegter Geschichte, nun befände? Dies veranlasste mich, noch einmal zu rekapitulieren (und dies verbal meinem Gegenüber zeitgleich zu vermitteln), und ich kam auf den Umzug in die AWO, dann zum Gemeindepark, später in den Bahnhof Lichterfelde West, und letztlich nun beinahe zurück an die alte Stätte, wo man sich möglicherweise nun wieder für längere Zeit heimisch fühlen darf?

Falls noch ein paar mehr Randdetails (ebenso wenig) interessieren sollten: mein anderer Sohn, Ben-Luca, hat ja ebenfalls eine ganz Erfolg versprechende Karriere gestartet, ebenfalls in diesem Schachclub. Klar werde ich in letzter Zeit regelmäßig auf ihn angesprochen, vor allem, wenn ich OHNE ihn zu einem Turnier auftauche. „Wo ist denn dein Sohn? Der spielt ja stark in letzter Zeit.“ Gestern hatte sein Fernbleiben nun diesen einfachen Grund: seinen 17. Geburtstag beging er im Kreise seiner Freunde und Verwandten. So sieht man: der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Gerade einmal drei Tage weit weg... Allerdings wäre es schon höchst kurios, wenn der Schachclub nun, quasi anlässlich dessen, in die Albrechtstraße  130 umgezogen wäre?!

Nach meiner Ankunft im Schachclub so gegen 19:15 füllte sich dieser zusehends, wobei bereits mit Andreas Modler, aus Konstanz angereist (allerdings nicht alleindeswegen, wie man annehmen muss) und Dr. Maxim Piz, sowie weiterhin Herrn Draheim, vom Marienfelder Schachclub nun zu diesem gewechselt, wie ich von ihm persönlich vernahm, und den „üblichen Verdächtigen“ Lasker Urgesteinen – nennen wir zuvorderst Roman Matzkowiak – eine Reihe starker Spieler  anwesend waren. Dies wurde jedoch im Verlaufe der nächsten Minuten noch um Einiges überboten. Nicht nur kam Großmeister Sergej Kalinitschew herein, sondern zugleich brachte er seine russischen Begleiter Vitali Major und Dimitri Kostyuchenko mit. Nun, warum ich dies so speziell erwähne? Hatte nicht exakt dieses Dreigestirn der gesamten Lasker-Belegschaft, einschließlich meiner Wenigkeit, vor exakt einem Jahr eine Nase gedreht, indem sie die ersten drei Plätze belegten, wobei ich direkt nur Vitalij und Dimitrij begegnete – nicht Sergej – jedoch gegen beide eine 0 quittieren musste, und somit so ziemlich einmalig Grand-Prix-Punkte-frei durchs Ziel ging, mit 4.5/7, während die drei auf dem Siegerfoto strahlend in die Kamera blickten (ist das auf der Homepage der SG noch zu finden?).

Weiterhin darf man jedoch durchaus erwähnen, dass mich Vitalij vor Kurzem erneut bezwingen konnte – beim Präsident Schnellturnier, in der entscheidenden Schlussrundenpartie, wonach ich auf 3 einging und er auf 2 – und Dimitrij am Mittwoch das Schnellschachturnier bei den Schachfreunden mit 5 aus 5 gewinnen konnte, vor Lars Thiede, Udo Hoffmann und mir, wobei er ausgerechnet die 1 und die 2 der Setzliste (Thiede, Paulsen) geschickt umschiffte.  Dennoch: die 5 aus 5 sind schon eine gewaltige Referenz, um seine schachliche Veranlagung, speziell im Schnellschach, herauszustellen.

Da sich zu den „üblichen Verdächtigen“ kurz vor Meldeschluss auch noch Adis Artukovic gesellte – und man darf schon sagen: von den aktiven Laskeraner mit Sicherheit der Stallhengst (ok, zusammen mit Maxim Piz), was die Turnierchancen anging -- konnte man nun wirklich von einem gigantischen Teilnehmerfeld sprechen, was Zahl und Qualität der Teilnehmer anging. Auch der Nachwuchs hatte sich reichlich gemeldet, sowie ein paar wohl noch nie gesehene Gesichter. Da mussten direkt noch ein paar Extratische aufgestellt werden.

Wie ich spät nachts erfuhr hatte sich Ismajl Rama für die  Partie VfL Wolfsburg gegen Bayern München, zum Rückrundenauftakt der Fußball Bundesliga, entschieden, während Jirawat zwar schüchtern zu seinem Vater aufblickte, und so seinen Spielwunsch zur Schau stellte, hatte dieser bereits, aufgrund anderweitiger Verpflichtungen, recht zuverlässig abgewinkt: „Nein, heute wird das wohl nichts. Wir müssen noch...“

Dies, so darf man nun sagen, war ein beinahe schon glücklicher Umstand. Wie der Schachclub sonst mit dem Ansturm fertig geworden wäre, hätte man sehen müssen. So genügte noch immer der vordere Spielraum, selbst wenn man schon etwas beengt saß. Macht einem wahren Schachenthusiasten doch nichts aus? So lange die Partie läuft, ist man in der Regel doch eh ausschließlich auf die Geschehnisse AUF dem Brett fokussiert? Was schert einen da der geringere Abstand des Sitznachbarn?

Als in Runde 1 die Paarungen gelost wurden – nach dem Lasker typischen, einzigartigen Muster, mit rein zufälligen Paarungen, und NICHT nach Setzrangliste, kam es direkt zur Begegnung Modler – Artukovic, also zweier Favoriten auf den Turniersieg. Adis stöhnte leicht hörbar, wobei er dies wohl gleich wieder zu unterdrücken versuchte. Attitüde: „Ich kann eh jeden schlagen, egal in welcher Runde.“

Nun brachte dies nicht nur eine (unangenehme) Erinnerung zurück, sondern veranlasste mich direkt, mit Sergej – der am Nachbarbrett Platz nahm (eine Besonderheit bei Lasker bleibt: man sucht sich ein freies Brett mit seinem Gegner;   nur ein einziges Mal versuchte ich organisatorisch mitzuwirken. Die Folge: es wurde die Brettnummern aus dem Schränkchen herausgeholt und wunderschön durchnummeriert die Bretter aufgestellt; ich finde: ein Zugewinn an Qualität) – zu philosophieren über dieses Lasker-typische Lossystem:


Erinnerung die: Adis hatte vor einiger Zeit einmal in der ersten Runde Schwarz gegen mich. Auch damals schon war, kaum merklich, ein leichtes Lamentieren zu vernehmen. Er gewann die Partie, gewann weiter bis zur vorletzten Runde, ich gab noch ein Remis ab, gegen Dr. Trebbin, und seine beiden Schlussremisen gegen etwas weniger namhafte Gegner genügten, um ihm Platz 1 mit 6 aus 7 vor mir mit 5.5 aus 7 zu sichern.

Das leichte Stöhnen überging ich damals, jedoch rein innerlich schmerzte der Verlust natürlich ein wenig, aber noch mehr deshalb, weil man eben gegen einen lamentierenden Gegner antreten musste. Der Tenor: warum muss ich ausgerechnet in Runde 1 gegen den antreten, wo ich vermutlich gleich eine 0 kassiere? Dies setzt den Favoriten ein wenig mehr unter Druck und von wegen „die hab ich schon gewonnen“ ist ohnehin niemals, und noch weniger ratsam, gerade, wenn der Gegner leicht resignativ ist, womit nämlich die eigene Konzentration herabgesetzt wird.

Folgerung, übergehend in Philosophie: der Außenseiter hat doch BESSERE Chancen gegen einen Favoriten in einer frühen (am besten: der ersten) Runde? Der Favorit muss doch fürchten um seine Form, weiß noch nicht genau, wo er steht? Dem Außenseiter kann meist nur der „lucky punch“ gelingen, jedoch wahrscheinlicher dies zu Beginn des Turniers.

Wobei immerhin der Bogen zum Fußball geschlagen wäre und die Erwähnung der Ismajlschen Abendbeschäftigung einen weitläufigeren Sinn erhält: Wolfsburg hatte zu Saisonauftakt bereits, beim 1:2 in München, mit die beste Chance zu einem Überraschungscoup beim Seriensieger, speziell als der gerade tödlich verunglückte (das Spiel stand unter dem Zeichen dieser Tragödie) Wolfsburger Junior Malanda in der 79. einen Ball in etwa von der Torlinie aus für die Bayern über das Tor „klärte“, anstatt das 2:2 zu erzielen – mit offenem Ausgang.

Gestern Abend, wie ich bei Heimkehr ziemlich bald erfuhr, indem ich zumindest die Zusammenfassung des Spiels schaute, bewahrheitete sich mein Sergej gegenüber geäußerte These (zu diesem Zeitpunkt das Spiel ja noch nicht einmal angepfiffen) also auf beeindruckende Art. Wolfsburg fegte die Bayern mit 4:1 vom Feld.

Adis allerdings war ein ähnliches Schicksal nicht vergönnt. Andreas wackelte zwar ein ganz klein wenig in der Endphase, aber Stellungsüberlegenheit und Zeitvorteil waren einfach zu groß: Matt, unabwendbar, vor mittlerweile ALLEN Teilnehmern als Zuschauer, 1:0.

1

Modler – Artukovic, Runde 1, Weiß am Zuge

Adis hatte soeben den Bauern a5 verspeist. Aber er hatte nur noch etwa 35 Sekunden auf der Uhr. Allerdings hatte Andreas nun den Gewinn vor Augen. Nach 1. Df3-h5+ Kg6-h7, 2. Dh5-h6+ Kg7-g8, 3. Sf3-h5

2

war das Matt nicht abzuwenden. Es folgte noch 3. ... Da5-d5+, 4. Kg2-g1 lief die Zeit auf 6 Sekunden runter und Adis neutralisierte die Uhr. 1:0

Sergej wackelte das erste Mal in Runde 3 (so weit ich weiß?) als er einen in Hochform agierenden Roman Matzkowiak die Finger in den Mund steckte (wie es einst Steinitz ausdrückte: „Ich bin ein alter Mann, aber wenn man mir die Finger in den Mund steckt, dann beiße ich.“). Roman gewann, Sergej nahm danach seine typische Haltung ein: „Ab jetzt gewinne ich ALLES.“ Hoch konzentriert, nicht ansprechbar ist er dann.

Mich persönlich ereilte das Schicksal der Favoriten in Runde 4: bis dahin meist einfache Siege (ein kleines Eröffnungsexperiment gegen Wolfram Steiner veranlasste ihn, eine Figur zu opfern; Kompensation? Gegen Null, wegen eines Übersehens im Zuges des aufkeimenden Optimismus´(rettet den Genitiv!!). Robert Draheim, der mir direkt das Du anbot nach seinem Sieg in unserem ersten Aufeinandertreffen, nutzte seine Gegenchancen gegen Ende in einer eigentlich von mir ganz ordentlich geführten Partie.  Ich hatte einen Bauern erobert, aber dafür einen Aktivierungszug zugelassen. Noch war das Matt abzuwenden – aber nicht so. 0:1.

3

Steiner – Paulsen, Runde 2, Weiß am Zuge

Mein Zugvorschlag für Weiß lautete, nach der Partie, 1. Le2-c4, wonach ich wenig Anlass sehe, mich wohl zu fühlen. Das Läuferpaar wird eh halbiert und nach der von mir angedachte Zugfolge 1. ... f6xe5, 2. Lc4xe6 e5xd4 hat Schwarz zwar einen Bauern mehr, aber Weiß ein Monster auf e6. Mehr also Kompensation?

Die Partiefolge hatte ich aber ebenfalls gesehen – und für nicht angängig eingestuft. 1. Le2-h5+ g7-g6 2. Lh5xg6? h7xg6 erkannt, dass aufgrund der Mattdrohung auf h2 der Springer nicht auf g6 schlagen kann. Eine Figur war eingesackt, der Punkt bald danach. 0:1.

 4

Paulsen – Draheim, Runde 4, Weiß am Zuge.

Schwarz hat hier bereits guten Ausgleich geschafft, meine ich. Ich verrannte mich aber ziemlich rasch, auf der Suche nach Vorteil. 1. f4-f5 Se6-g5 2. Le3xg5 h6xg5 3. Sd2-f3 Sa4-c5 4. Sf3xg5 Sc5-e4 5. Df2-h4? Se4xg5 6. Dh4xg5 Db4-c5+ Nun steht der weiße König wirklich schlecht. Schwarz kommt zuerst.

 5

Paulsen – Draheim, Runde 4, Weiß am Zuge.

Nach 7. Kg1-g2 Ld3-e4+ 8. Kg2-f1 Td8-d3 9. f5-f6? Td3-f3+10.  Kf1-e2 Dc5-f2+ war das Matt nicht abzuwenden. 0:1.

Andreas Modler zog also einsam seine Kreise, da auch Vitalij und Dimitrij früh Punkte abgegeben hatten (war es nicht auch Dimitrij, dessen Hoffnungen ebenfalls von Roman in Runde 1 gedämpft wurden?). Er hatte zur sechsten Runde einen ganzen Punkt Vorsprung. Verfolger aber: Sergej, Adis und mindestens ich noch, mit je einer Verlustpartie (und sonst Siegen). Das kurze Gespräch mit dem durchaus in überzeugender Form agierenden Andreas Modler vor Runde 6 ergab: alles gewonnen hat er bis dahin, aber weder Sergej noch mich (die 1 und 2) bisher zum Gegner gehabt.

Das sollte sich, beinahe schon während dieses Gesprächs, ändern, nämlich als Reinhard Grüner die Paarungen der sechsten Runde verlas: „Paulsen – Modler...“ Immerhin: ich hatte Weiß.

Nun darf ich auch hierzu die kleine Vorgeschichte erzählen: wir kannten uns bestenfalls sehr oberflächlich, als wir einst bei Gillette im Firmenschach gegeneinander spielen mussten, und zwar bis dahin zum ersten (und auch einzigen; aber dazu gleich mehr) Mal. Wir erreichten ein Endspiel, mit Vorteilen für mich. Mag sein: es ist Remis, die Vorteile klein oder akademisch. Aber: mich ritt der Teufel und ich trennte mich von meinem Läufer (meiner einzigen Leichtfigur; wir waren also im Läuferendspiel). Ich hielt meine Chancen mit den zwei Bauern gar Gewinn bringend, in gänzlicher Verblendung. Denn: sein König und Läufer kamen locker zur rechten Zeit und hielten das Bauernpaar. Logische Folge:  0:1.

Nun bin ich nach Niederlagen, ähnlich wie Sergej, oft gar nicht so gut zu leiden. Das Verhältnis blieb also neutral bis angespannt. Es war ja weder ein böser Blick noch ein böses Wort gefallen. Dennoch: meine Erinnerungen waren natürlich unerfreulicher Art.


Als er nun, vor ein paar Jahren, bei einem Lasker Grand-Prix auftauchte, kam es zu folgender Kuriosität: als Schachspieler hatte ich eh allen Anlass, ihn zu respektieren. Wir tauschten auch ein paar Worte aus, erinnerten uns aber gemeinsam an diese Partie. Ebenfalls kam zu Gespräch: sein Engagement für Lasker (später spielte er nur eine einzige Partie in dieser Saison, gewann die aber überzeugend; ich meine, gegen Mike Pflantz). So waren war also Mannschaftskollegen. In der ersten Runde die Paarung: Paulsen – Modler.

Allerdings kam die Partie nicht zur Austragung: es gab eine Verwirrung in der Auslosung, Reinhard Grüner oder Christoph Weiten oder beide kamen nicht klar, es wurde durchgehend gesprochen, ich meinte, das Turnier solle erst beginnen, wenn das alles geklärt wäre und klar wäre, ob alles so passt und überhaupt das ständige Geklapper und Geplapper, von Computer und dessen Bändigern, aufhöre. Dazu kam es nicht. Andreas wartete auf den ersten Zug. Ich führte ihn nicht aus. Ich schlug ein Remis vor, er lehnte ab, mit den Worten: „Nein, ich  möchte eigentlich gerne Schach spielen, deshalb bin ich gekommen.“ Ich verbrachte die halbe Stunde bei einer in der Nähe gelegenen Bekanntschaft, welche ich ohnehin gerne besuchen wollte, mit dem Fahrrad in zwei Minuten erreichbar, und kehrte zu Runde 2 zurück. Turnierausgang weiß ich nicht mehr, aber ich habe wohl den Rest gewonnen.

So stand also auch unsere zweite Begegnung unter einem unglücklichen Stern. Nun stand die dritte an, und diese würde nun ausgespielt werden, keine Frage.

Ich wagte ein Eröffnungsexperiment, wenn man so möchte, indem ich wusste, dass die von mir gewählte Variante gravierende Schattenseiten hätte. Während ich die Züge ausführte, dämmerte mir, dass Andreas – wie er nämlich nach der Partie gegen Mike Pflantz bewies durchaus theoretisch bewandert – dies sicher kennen würde und ich eine schlechte Wahl getroffen hätte. Dies bestätigte sich. Noch immer hielt ich meine Kreativität für ausreichend, dem etwas entgegen zu setzen, aber ich merkte, dass das Abspiel forcierten Charakter hatte: keine Abweichung möglich.

Als der letzte Zug (oder: die letzten beiden Züge) der Variante quasi einzig logisch hätten folgen müssen – verfiel er plötzlich in tiefes Grübeln. Nach sicher um die 2 Minuten Geistesarbeit – machte er einen Fehler. Ab diesem Moment wurde es eine ziemliche Einbahnstraße. Nicht nur auf der Uhr wuchs mein Vorteil, auch auf dem Brett fanden sich bald Läuferpaar UND Mehrbauer ein, bei weiterhin aktivem Figurenspiel. Das musste doch nun ausreichen?

Jedoch geschah auch hier das typische, von mir glücklicherweise in letzter Zeit aber meist vermiedene „Unglück“: er schaltete den Turbo ein, traf dabei mit seinen Zügen, während ich weder von Bedenkzeitvorteil noch vom Verstand Gebrauch machte – und zog auf weit niedrigerem Niveau (auch das typisch) mit. Der Mehrbauer war weg, die Aktivität ging flöten, die Partie nun ausgeglichen (immerhin: nicht verloren). Ich war aber entschlossen und auch cool genug, noch einmal die Kurve zu bekommen: als er bei 11 Sekunden angelangt war (ich bei 54), jeder drei Bauern und zwei Leichtfiguren hatte (ich noch immer das Läuferpaar) ahnte ich, was sein nächster Zug sein würde. Auf diesen war ich vorbereitet: der Springer war weg, er gab auf. 1:0.

6

Paulsen – Modler, Runde 6, Schwarz am Zuge

Hier nur mal ein Auszug, ohne nähere Zugfolgenangabe. Weiß hat den Bauern mehr, das Läuferpaar und die aktiveren Figuren. Das sollte doch zu gewinnen sein?

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Paulsen – Modler, Runde 6, Weiß am Zuge

Hier bin ich wohl vom rechten Wege abgekommen, denn hier müsste es noch immer klarer Vorteil sein. Schwarz kann nicht viel ziehen, Weiß hat die bessere Linie für seine Turm. Der Zeitvorteil war recht gravierend, das verführt zum Leichtsinn.

1. f4-f5?! g6xf5 2. e4xf5 Le6-d5 3. c3-c4 Ld5-c6 4. Le3-h6? Sd7-e5! 5. Tb1-d1 Sc5-d3!

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Paulsen – Modler, Runde 6, Weiß am Zuge

 

Das hat er wirklich gut gemacht (und ich weniger). Nun ist MEIN Springer, der einst so aktive, in Schwierigkeiten geraten (weil der Läufer den Druck auf c5 aufgegeben hatte). Ich fand nichts Besseres als 6. Lc2xd3 Td8xd6 7. Ld3-e2 Td8xd1+ 8. Le2xd1 Se5xc4 und das Prunkstück, der Mehrbauer, war wieder weg. Nun musste ich den Zeitvorteil in Anspruch nehmen.

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Paulsen – Modler, Runde 6, Schwarz am Zuge

 

Das war alles, was mir geblieben war. Er war bei 11 Sekunden, ich bei um die 50. Allerdings hatte ich hier seine Idee 1. ...Se5-c4 erahnt, und darauf den Zug 2. Le4-d5+ vorbereitet. 1:0. So war die Partie zum Glück doch noch auf schachlichem Wege entschieden worden.

Leicht entschuldigen musste ich mich dennoch, hatte ich doch eine so weit ordentliche Partie dennoch unnötig verdorben und nur noch den Zeitvorteil zum Sieg genutzt (anstatt den Stellungsvorteil zu verwerten). Dennoch: wir waren nun alle punktgleich. Sergej, Adis, Andreas, ich.

Paarungen der Schlussrunde: Kalinitschew gegen Modler, Artukovic gegen Paulsen, für das ultimative Drama.

Tatsächlich hatte ich gegen Adis schon früh klare Vorteile. Er beginnt immer erst dann, richtig gut zu spielen. So hatte ich Mühe, den klaren Vorteil festzuhalten. Allerdings blieb mir auch in dieser Partie stets einer auf der Uhr. Allmählich kamen seine Figuren wirklich bedrohlich nahe, während ich meine nicht recht verbessern konnte. Mehrbauer war da, aber Verwertung in weiter Ferne. Nun wähnte er sich bereits auf dem sicheren Weg, in die Siegerstraße einzubiegen. So geht es häufig, dass die eingeschlagene Richtung beibehalten wird. Großer Vorteil weg è Vorteil è Vorteil weg è Ausgleich è Ausgleich weg è Nachteil è Nachteil vergrößert è Partieverlust.

Urplötzlich aber hatte ich die Gegenaktivität, natürlich, so darf ich mir anrechnen, ein wenig geplant. Der Mehrbauer hätte womöglich dran glauben müssen, aber das Remis wäre mir wohl sicher, mit einem Dauerschach.

Ich konnte aber eine Mattdrohung aufstellen, welche nicht einfach abzuwehren war. Möglich, dass bei ihm alles ok war, aber er fand das, bei knapper werdender Zeit  nicht mehr. Es war Matt, nur noch zwei Züge entfernt, als er, anstelle der Aufgabe, die Figuren in meine Richtung über das Brett schubste. Es fiel ihm zwar sofort auf, dass das irgendwie unschicklich war, aber die mir entgegen gestreckte Hand schlug ich aus.

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Artukovic – Paulsen, Runde 7, Schwarz am Zuge

Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, hier die Züge zu wiederholen, wenigstens ein paar Mal. Mal schauen, was ihm einfiele. Ein Markenzeichen: er möchte immer gewinnen – und nimmt dann manchmal eine Niederlage in Kauf, übertreibt das Risiko total. Aber ich entschied, sofort meine Drohung auszuspielen. 1. ... Lh4-g5.

Kurz hatte ich gerechnet, ob die Dame auf f5 nehmen könnte. Aber ich kam zu dem Ergebnis, dass meine Chancen exzellent sind nach den Zügen 1. Dd3xf5 Dg1-c1+ 2. Kc2-d3 Dc1-d1+. So genau wusste ich zwar nicht, meinte aber, auf keinen Fall schlechter stehen zu können. Man beachte, dass Weiß, trotz der aktiven Figurenstellung, noch immer kein einziges Schachgebot droht! So ist das ein (für seine Spielweise)  typischer Konter des Schwarzen. Die Drohungen sind beim Gegner (sonst oft bei ihm). Kein Wunder, wenn dann Fehler geschehen. Zu erwähnen durchaus, dass seine Restzeit bei 2 Minuten war, meine bei 3 Minuten.

 

Er zog also 2. Kc2-b2 worauf ich 2. ... Lg5-c1+ 3. Kb2-a2? (besser war zwar König auf die Grundreihe oder auch König zurück nach c2, aber meine Optionen bleiben weitaus reichhaltiger, jeweils nach 3. ... Lc1xa3, zumal es ja dann zwei Bauern wären). Nun war es sofort aus: 3. ... Dg1-f2+ wonach Matt auf b2 folgt. 0:1.

Nun haben wir schon reichlich Diskussionen über Fairplay und Brettverhalten und alles Mögliche im Zusammenhang stehende gesprochen. Wir fahren ja auch häufig gemeinsam zu Turnieren. Diese Art und Weise der „Partieaufgabe“ meinte er, längst abgelegt zu haben. Nach dieser unschönen Geste, welche ja zugleich bedeutet : „du Glückspilz, deine Stellung war verloren“, und dies durchaus von den Anwesenden gehört und erahnt wird (bei denen also ein FALSCHER Eindruck entsteht), wollte er mir die Hand reichen. Ich nahm sie nicht an. Nun mag auch dies als unfaire Geste „durchgehen“ aber immerhin war es ja eine Reaktion.

Ich meine dies: Adis persönlich gewinnt sehr gerne nach diesem Muster. Schlecht stehen, gut stehen, alles weniger relevant. Irgendwie, irgendwo, irgendwann eine kleine Drohung aufstellen, das ist viel wichtiger. Das nutzt sehr wohl die gleichen schachlichen Elemente wie sie andere zum Einsatz bringen. Vor allem in dem Sinne: sind doch legale Züge? Was ist schon ein Trick oder eine kleine Falle? Stellungsmotiv genutzt – Punkt eingefahren. Um was ginge es sonst, außer Ergebnisse erzielen? Falls ein derartiges Motiv einer eingehenden Analyse nicht stand hielte: wenn der Gegner den Fehler macht, was könne er denn dafür? Am Ende zählen die Punkte. Einem Gegner gesteht er dieses Mittel jedoch nicht zu, wie es scheint. Falls dieser nämlich mit einem allergleiche Motiv eine (ab und an gar schlechte) Stellung zum Sieg führt, hört man nicht nur sein „unfassbar“, verbunden mit dem anhaltenden Kopfschütteln, sondern muss sich als Gegner auch diesem Wortschwall aussetzen: „Das war doch total verloren für dich. Das war ein Witz, diese Stellung.“ Und am nächsten Tag vernimmt man noch, sofern für ihn vorteilhaft, die Computerbewertung : „Du standest bei -2.84.“

Fürs gut Stehen jedoch sollte man, laut Reinhard Müller, lieber zum Kunstturnen gehen, wo man DAFÜR die Punkte erhält. Beim Schach ist es, zugleich nach Adis´ (geh nie tief ins Wasser, weil da tief ist ...) eigener Auffassung, doch der Partieausgang als einziges Kriterium zulässig? Falls es anders wäre (Kunstturnen), so denke ich kaum, dass die Turnierergebnisse sich zu seinen Gunsten verändern würden...

Es kommt diese Beobachtung hinzu, auf welche ich ihn auch oft genug angesprochen habe: sofern er eine derartige Partie mit absolut legalen Mitteln, aber vermutlich aus einer lediglich umkämpften, ausgeglichenen Partie, mit Chancen und guten Phasen für beide Seiten, von Anfang bis Ende, zum Siege geführt hat, hört man ihn oft feixend und über beide Ohren strahlend mit dem Gegner über eine „phantastische Partie“ sprechen, in welcher „der tolle Zug Springer nach b3“ und vom Gegner der Läuferzug mit der Mattdrohung gefunden worden wäre, wonach diese Antwort der „einzige Zug“ war, der Gegner zugleich für sein tolle, aber leider unglückliche Partieführung gelobt wird, so frage ich denn schon mal gelegentlich: „Würde man es je erleben, dass du so herzlich und freundlich, aufmerksam und aufgeräumt, begeistert über die vielen tollen Möglichkeiten und Ideen, fasziniert vom Spiel Schach, nach einer Niederlage dich auf ein derartiges Gespräch einließest? Wie würdest du persönlich reagieren, falls der Gegner, direkt nach dem er dich matt gesetzt hätte, mit diesem strahlenden Grinsen die Kommentierung eröffnen würde: ´tolle Partie, da hast du wirklich stark gespielt. Hast du gesehen, was gekommen wäre, wenn du zuerst auf c6 geschlagen hättest, vor dem Turmtausch? Da hätte ich nämlich... ´?“ Nein, bestimmt ist der nachteilige Ausgang ebenfalls von seiner Reaktion. Ein freundschaftliches Gespräch käme nicht in Frage. Man nimmt die Beschimpfungen klaglos zur Kenntnis oder wehrt sich, worauf die Diskussion heftig zu werden drohte.

Nachdem sein König also quasi auf meinem Schoß gelandet war (nicht etwa, dass mir der Sieg in den selbigen gefallen wäre...), zog er bereits seine Jacke an, somit den Eindruck erweckend, fluchtartig das Lokal verlassen zu wollen. Jedoch besann er sich anscheinend gerade noch rechtzeitig, möglicherweise auch, wie die sich mehrenden Kiebitze, fasziniert von den Geschehnissen am (alternativen) Spitzenbrett. Dort nämlich hatte Andreas Modler gerade ein Endspiel erreicht mit Läufer und Springer (wie gegen mich) gegen Sergejs Läuferpaar (ebenfalls wie gegen mich), mit dem Unterschied, dass er ein Bauernplus aufwies.

Nun war die Verwertung desselben alles andere als einfach, im Gegenteil, die Partie sollte eigentlich unvermeidlich Remis enden. Die Läufer sollten  locker der beiden (verbundenen) Bauern Herr werden und auch ein Opfer zur rechten Zeit, einer der beiden Läufer gegen die letzten verbliebenen beiden Bauern jederzeit das Remis aus Sergejs Sicht sicher stellen. Andreas spielte die Partiephase dennoch recht geschickt, so dass eher er den positiven Ausblick hatte.

Nun die dramatische Schlussphase und ich frage mich immer wieder, ob diese Art des Dramas denn tatsächlich zwangsläufig immer wieder in den späten und entscheidenden Momenten aufkommen muss? Eine Art Naturgesetz?

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Kalinitschew – Modler, Runde 7, Schwarz am Zuge

 

Ziemlich genau muss dies die Position gewesen sein. Sergej gestattete jedoch dem weißen König eine Annäherung an den Bauern b6, woraufhin dieser fiel. Da er aber direkt danach einen der schwarzen Bauern erobern konnte, sollte es weiterhin Remis sein.

Andreas eroberte also den letzten weißen Bauern. Allerdings bekam Sergej dafür den vorletzten schwarzen. Nun bot Andreas Remis. Sergej lehnte ab. Ich konnte aus meiner Position die Uhr nicht einsehen, aber es musste natürlich schon extrem knapp sein. Nun musste er also noch immer einen der Läufer bekommen, ansonsten wäre es eine (klare) Niederlage bei Zeitüberschreitung. Er stellte sogar seinen Läufer ein, brachte dafür aber den Bauern durch. Sergej verhinderte dies nicht einmal – es müssen also nur noch wenige Sekunden auf der Uhr gewesen sein --, Andreas hatte also nun Dame plus Springer gegen zwei Läufer. Da er selbst merkte, dass die Zeit niemals reichen würde, schlug er mit der Dame einen der beiden Läufer. „Remis“ rief er dazu aus. Sergej aber verwies auf das Fallblättchen und meinte „Zeit“.

12

Kalinitschew – Modler, Runde 7, Schwarz am Zuge

 

Hier zog Schwarz also 1. ... Df1xf3+ und rief „Remis“ aus. Sergej meinte trocken „Zeit“ und stand auf.

Was war nun? Klar: es begann gleich eine hektische Diskussion. So ziemlich jeder Zuschauer hatte seine Meinung und Darstellung. Meine eigene innere Diskussion sah so aus: Remis wäre zwar das einzige gerechtfertigte Ergebnis, auch aufgrund des Partieverlaufs, aber laut Regeln (die ich an anderer Stelle bereits diskutiert habe, hier also nicht darauf eingehen möchte; vor allem nicht auf den Punkt „Sinnhaftigkeit“) sicher Sergej gewonnen hätte, und ich somit vermutlich wie gewohnt den 2. Platz einnehmen würde (nicht so bei Remis, wo ich mit einem halben Punkt Vorsprung 1. wäre). Also: Vize-Paulsen, mal wieder.

Der Vorsitzende und zugleich absolute Regelexperte Christian Kuhn war ebenfalls inzwischen anwesend und wollte rasch die Geschichte klären, auf gewohnt souveräne Art. Er baute rasch noch die Mattbilder auf und meinte „beide Parteien können noch matt setzen, also entscheidet die Zeigerstellung auf der (digitalen, somit zeigerfreien..) Uhr. Auch Reinhard Grüner schloss sich, als Turnierleiter, direkt dem Urteil an. „Da gibt es gar keine Diskussion.“ Andreas trug diese Entscheidung erstaunlich gefasst und meinte, es würde ihm nichts ausmachen, viel wichtiger wäre die Qualität seiner Partien, und mit dieser wäre er zufrieden.

Auf der Heimfahrt, bei heftigem Schneetreiben, war mit Adis ebenfalls längst alles wieder eingerenkt und wir hatten eine Menge Spaß, da sich nämlich Darryl Hentley, der in letzter Zeit nicht nur viel sondern auch zunehmend erfolgreich spielt, sich der kleinen Reisegruppe anschloss. Dennoch bleibe ich „Vize-Paulsen“...

Donnerstag, 11 Dezember 2014 00:00

Schach, Backgammon, Pokern

Schach

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Das Schachspiel hat einen durchaus anerkannten Klang im Namen. Sehr viele Menschen, denen man begegnet, und denen man sich erkennbar als Schachspieler ausgibt — die dazu überzeugendste Methode: ein Magnetschach aufbauen, egal, wo —, bleibt kurz stehen, nickt anerkennend, runzelt die Stirn oder was auch immer, aber zeigt damit an, dass er einverstanden wäre, darauf angesprochen zu werden und man tut ihm den Gefallen: „Ah, spielen Sie auch Schach?“. Natürlich, da er doch irgendwie spüren dürfte, dass er dem Niveau hier nicht ganz gewachsen ist, wird er eine leicht abwehrende Geste dazu machen, aber die dazu geäußerten Worte ähneln einander doch meist: „Ja, naja, nein, ich habe mal, früher, leider jetzt nicht mehr.“ oder auch „ich spiele immer mal mit meinem Vater/Sohn/Schwager“ oder „Mein Opa hat mir als Kind mal die Regeln erklärt, aber seitdem eigentlich nicht mehr.“ . Es besteht ein Interesse, es ist anerkannt, es hat einen hohen Stellenwert, die meisten kennen es, zumindest die Regeln, sind irgendwie voller Bewunderung, aber haben es doch nie über das Level des Hobbyschachspielers hinaus gebracht, im Gegenteil, sind sie meist sogar davor schon abgesprungen. Der Grund, aus meiner Sicht: die Komplexität, der man sehr bald begegnet und welche einem die eigene und gegnerische Zugauswahl im Prinzip zufällig erscheinen lässt sind ungeeignet, den Spaßfaktor zu erhöhen. Sprich: selbst der Gewinner weiß eigentlich nicht einmal so recht, warum er gewonnen hat (bei einer Partie unter Anfängern).

Wer sich denn doch weiter und tiefer in das Spiel hineindenkt — meine Beobachtung ist die: das Verständnis ist meist erst nach über einem Jahr so groß, dass überhaupt ein ernsthaftes eigenes Interesse, eine Faszination dafür, aufkommen kann —, könnte bald zu jener kleinen und kaum auf den Straßen oder in Cafés zufällig anzutreffenden Gemeinschacht der Vereinsschachspieler gehören. Jeder der vorher am Tisch stehen gebliebenen würde, falls er denn tatsächlich einmal einen Schachclub aufsuchen sollte, um sich dort mit einem auch nur schwächeren Vereinsspieler auf eine Partie einließe, sehr bald feststellen, dass es Welten sind, die ihn vom Gegenüber trennen. Da gäbe es auch kein verbales Kaschieren mehr ( Sein Level war: „Wir spielen ab und an, in einer Kneipe, und da gewinne ich gegen meine Freunde fast immer…“), hier würde die Realität ihm recht schonungslos die Augen öffnen: hier hat er nicht die geringste Chance. Dies mag zwar einen sich selbst als solchen bezeichnenden "rechten Schachspieler" in gewisser Weise zum Schmunzeln bringen, nur merkt er dabei möglicherweise nicht, dass genau diese Abschreckung dafür sorgt, dass unsere Gemeinschaft so klein bleibt (was er an anderer Stelle aber zutiefst bedauert). Die Kunst wäre hier — und natürlich Thema an ganz anderer Stelle : wie könnte man diese ersten Schritte vereinfachen, dem Neuling genau dieses Gefühl nehmen, dass er von Tuten und Blasen keine Ahnung hat und dass er ja möglichst bald wieder das Weite zu suchen hätte, da er zu einem Schachspieler einfach nicht taugt? 

Ich persönlich habe stets mein Magnetschach dabei und scheue mich auch nicht, dieses aufzubauen, an allen möglichen und unmöglichen Stellen. Das kann auch mal die U- oder S-Bahn sein oder ein Bus, sofern von einem Schachspieler begleitet. Überall sind diese Reaktionen möglich, man hört immer wieder auch die Frage: „Wer hat denn nun gewonnen bei euch?“, welche man immer gleich erörtern muss damit, dass man lediglich analysieren würde (was dem Wohlwollenden das wohlwollende Lächeln abringt, mit einem „Ach so“ verbunden, dem weniger wohlwollenden vielleicht das ungläubige Staunen begleitet von einer Art Kopf schütteln, einen würde aber alle, auch die ungewollt mithörenden, der unausgesprochene Gedanke „Das sind Irre, der Welt entrückt“, kurz könnte man sagen „Verrückte“. Dies mag zwar sogar ein Attribut sein, mit welchem der eine oder andere Schachspieler ganz gut umgehen kann, nur wird der begleitende Effekt der Abkehr von diesem Spiel, durch diese kurze Berührung mit dem Schach für alle mehr oder weniger beteiligten Unbeteiligten, dadurch keineswegs verringert, sondern, im Gegenteil, weiter gesteigert. „Schach? Nein, das mag sicher interessant sein, ein tolles Spiel. Aber das spielen ja nur Verrückte.“ 

Nun ja, wir alle dies hier Lesenden haben ja vermutlich diese ersten Schritte irgendwie bewältigt und die vielen Narben, die wir und sicher früh mal eingehandelt haben, sind kaum noch zu erkennen. Dennoch — auch dies an anderer Stelle bereits einmal Thema, nur weiß ich grad nicht, wo? — ist aus meiner Sicht die Vorhersehbarkeit für den Ausgang einer Schachpartie auch für gestandene Schachspieler oftmals zu groß. Sofern man nämlich „weiß“, wer gewinnt, ist, unabhängig von den reinen Spielinhalten oder der Hochwertigkeit des Spiels, gar den künstlerischen Inhalten, ein anderer Effekt, welcher im Sport und dessen Wettkampf häufig eine große Rolle spielt, empfindlich verletzt. Es ist der Aspekt der Spannung. Sicher könnten sich die Beteiligten sogar noch darüber erheben, indem sie sich einfach auf ihren nächsten Zug konzentrieren und versuchen, den besten zu finden, aber ein Zuschauer, der sogar gewillt ist, dem Ereignis zu folgen, dürfte sich bald abkehren und sagen: „Der Favorit setzt sich durch. Wozu soll ich schauen?“

Eine der Begleiterscheinungen: im Schach gibt es keine hohen Preisgelder zu erzielen. Warum? Weil der Amateur, welcher letztendlich den Profispieler finanzieren müsste, sich, aufgrund der Vorhersehbarkeit, nur auf einen kleinen Spendenbeitrag (in Form des Startgeldes) einließe. Sobald es aber mal ein Turnier gibt, bei welchem höhere Preisgelder (vermutlich durch einen Sponsor) ausgelobt werden, trifft man allerdings flugs eine versammelte Elite von Spielern an, die sogar weite Reisen in Kauf nehmen, um einen Teil des Kuchen abzubekommen. Daran erkennt man: im Schach gibt es kein Geld zu verdienen.

Backgammon

485Ich möchte Backgammon nicht zu eingehend erläutern, habe es aber selbst etliche Jahre, dazu ziemlich erfolgreich, betrieben. Der Unterschied wird, Podolskis Äußerung ähnlich („Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel“), aber sehr bald klar: durch den Einsatz von Würfeln ist ein beliebiges Zufallselement hinzugefügt, welches ganz offensichtlich dem Schwächeren dienlich ist und seine Chancen erhöht. Selbst wenn er seine Steine — das Spiel dem Schachspiel insofern ähnlich: man hat 15, allerdings gleichartige Steine, welche man dennoch strategisch klug setzen muss, um sie als erster in einem gegenläufigen Rennen um das Brett zu bringe, um sie auf der gegenüberliegenden Seite sie als Erster auszuwürfeln —  weniger klug und strategisch mangelhaft um das Brett setzt, so kann ihm ein Paschwurf (die Augenzahlen werden doppelt gesetzt, also bei Pasch 6, mit zwei Würfeln, kann man auf einen Schlag 24 Augen gutmachen) zur rechten Zeit doch noch das Glück des Sieges bescheren. 

Die Anerkennung für dieses Spiels ist, gegenüber jener für das Schachspiel, ungleich geringer. Bei einer dem obigen Beispiel ähnlichen Begegnung also hörte man seltener „Habe ich auch mal gespielt“ und noch seltener „ein tolles Spiel“, aber, egal, wem man darüber erzählt, würde das ungläubige Erstaunen viel eher davon ausgelöst sein, dass man es als „strategisch hochwertiges Spiel“ anpreist, denn dies, so Jedermanns Überzeugung, ist undenkbar DURCH den Einsatz von Würfeln. Sofern nämlich hier ein Partieausgang im schlichten Denken „nicht vorhersehbar, geschweige denn berechenbar“ wäre, wäre er „rein zufällig“ und insofern wäre Gewinner lediglich der, dem Fortuna gerade hold ist. Ein Unterschied zwischen 60% Siegwahrscheinlichkeit gegenüber 40% wäre nicht wahrnehmbar und würde zudem belächelt werden.

Die positive Auswirkung dieser — man verziehe mir den Ausdruck — Naivität ist die: beim Backgammon werden, sofern sich denn mal ein Haufen Gleichgesinnter, meist nach Ankündigung, am gleichen Ort einfindet (sagen wir: es gibt auch hier Turniere und Ausschreibungen), sind die Anreisenden nicht nur bereit und einverstanden, die um ein 10- bis 100-fach höheren Startgelder zu entrichten, nein, sie heißen dies sogar mehr als willkommen. Die Verlockung ist da, die Eitelkeit ohnehin hoch: „Da gibt es riesige Preisgelder zu gewinnen. Das Glück auf meiner Seite — Befähigung im ausreichenden Maße vorhanden — und ich schnapp mir den ersten Preis. Halbfinale täte es notfalls aber auch.“

So ist es schon ein hier und da zu beobachtender Effekt, dass lange Jahre ehrgeizige, anerkannte, hochwertige, aber auch andere Schachspieler, allein aus diesem Grund das Terrain wechselten. Hier kann man richtig Kohle machen.

Auch beim Backgammon gibt es aber längst einen Effekt, nach welchem auch hier die Wissenschaft weit genug vorgedrungen ist, sogar dem Träumer endgültig und unmissverständlich die Augen zu öffnen — und sie danach umverschließbar zu machen. Die heutigen Backgammon Programme sind so weit,  ähnlich wie die Schachprogramme, jeden Fehler schonungslos und unweigerlich, zugleich unwidersprochen (wer es wagt, bekommt noch mehr Lehrgeld aufgebrummt) aufdecken. Am Ende eines Matches, welche inzwischen auch, sogar per Hardware (tatsächlich wurden zwei meiner Matches bei der Weltmeisterschaft 2005, meiner letzten Teilnahme dort, damals schon live ins Internet übertragen, wie ich hier einfach mal, durchaus von Stolz begleitet, einfließen lasse), aufgezeichnet werden, gibt der Computer zudem eine nicht in Frage zu stellende Bewertung der Spielqualität ab, in Form der Error-rates (Ah, das muss der Bezug gewesen sein, damals schrieb ich über die Schachprogramme und die Bewertung der Spieler mithilfe von Error rates). Wie schlimm waren die Fehler, die die beiden Spieler gemacht haben? Gemessen wird hier im Prinzip in verschenkten Prozentpunkten auf den Sieg im Match. Wenn also der eine Spieler nun konstant bei einer 3.9 spielt, der andere aber bei 6.0: der Unterlegene WÜSSTE nun, ähnlich wie im Schach, dass er schwächer ist und dass er die fehlenden Chancen zwar in einer einzelnen Partie mit dem Glück ausgleichen kann, aber niemals auf Dauer. Das heißt: auch beim Backgammon überwiegt bereits der dem Schach ähnliche Makel: falls es zu vorhersehbar wird (beim Backgammon auf der Ebene hier: falls zu klar ist, wer besser ist), wer gewinnt, gibt es weder hohe Startgelder noch, einhergehend, hohe Preisgelder. Motto: „Ich sehe ein, dass du besser bist. Nein: ich musste es einsehen. Aber nun, da ich das weiß, zahle ich doch kein solches Startgeld mehr? Ich fahre nicht einmal hin.“ Folge: Backgammon ist rückläufig, trotz einer von mir durchaus anerkannten Hochwertigkeit des Spiels, und dies unter Einbeziehung der Notwendigkeit der Würfel und des davon provozierten zufällige(er)en Ausgangs.

Pokern

411Das Pokerspiel ist nun aus meiner Sicht das in dieser Hierarchie höchstwertige Spiel. Selbst wenn man nun auch hier irgendwann mal — am besten geeignet: Geld zählen, jeden Tag — einsehen wird, dass es bessere und schwächere Spieler gibt: die Vielfalt der Möglichkeiten, speziell im eigenen Verhalten am Spieltisch, ist so gigantisch hoch, speziell der Effekt der Psychologie, dass es noch einige Zeit dauern dürfte — falls überhaupt jemals möglich —, bis Programme tatsächlich das Spielniveau korrekt bewerten können.

Das Texas Hold´em, der wohl derzeit weitest verbreitenden Variante, der wohl derzeit weitest verbreitenden Variante, kurz erläutert: zwei  der beispielsweise sechs Spieler müssen das Spiel eröffnen. Der eine mit einer halben Grundeinheit (Small Blind), der neben ihm sitzende mit dem Big Blind. Diese Spieleröffnung ist erforderlich, damit garantiert in jedem Spiel ein Umsatz gemacht wird. Jeder erhält zwei nur für ihn sichtbare Karten auf die Hand. Danach gibt es die erste Bietrunde, bei welcher reihum, nach vorgegebener und sich Runde für Runde gerecht verändernder Reihenfolge, die Spieler aufgrund der Ansicht ihrer Karten (oder sonstiger Überlegungen, womit wir fast schon beim Punkt wären) entweder mitgehen, erhöhen oder passen dürfen. Eine Erhöhung des Einsatzes hat zwangsläufig eine weitere Bietrunde zur Folge. Dabei folgen die Erhöhungen bestimmten Gesetzen (und sind nicht in allen Fällen beliebig; maximal kann ein Spieler selbstverständlich nur das Geld verlieren, welches er vor sich hat und muss nicht etwa, wie in manch mäßigem Film zu sehen, zwischendurch rasch mal in die Tasche). 

Selbstverständlich gibt es auch beim Pokern (wie beim Backgammon), das reine Geldspiel und das Turnierspiel. Beim reinen Geldspiel gelten ohnehin etwas eigene Gesetze und die möglicherweise im Einsatz befindlichen Geldbeträge können nach Belieben ausufern (falls man also im reinen, aber seriösen Geldspiel den gesamten vor sich liegenden Einsatz in einem Spiel verloren hätte — was durchaus nicht ungewöhnlich ist —, so könnte man direkt danach doch wieder in die eigenen Tasche greifen — und wird dies, bei Potenzial, vermutlich sogar tun — und das Budget wieder aufstocken, nur um es vielleicht in der nächste Runde schon wieder komplett durchzubringen (dies passiert besonders gerne konsekutiv; denn: wer ein Spiel, dazu unglücklich, verliert, neigt schon mal dazu, in der nächsten Partie zu hasardieren).

Es gibt aber selbstverständlich, und das wohl in der Mehrzahl, auch beim Pokern das Turnierspiel (welches die übergeordnete Rolle beim angegebene Anbieter Full Tilt spielt). Hier bleibt alles übersichtlich: man zahlt ein Startgeld und bekommt im Gegenzug die für das Turnier nötigen Spielchips. Diese Chips nun auf einmal setzen („All-in“) und verlieren bedeutet im ungünstigen Fall: man ist ausgeschieden. Die Möglichkeiten danach: ein weiteres Turnier spielen. Aber nicht etwa: tief in die Tasche greifen und nachladen.

Das Turnierpoker hat also aus meiner Sicht einen sehr hohen Stellenwert: es ist und bleibt ein hoch komplexes Spiel, das Zufallselement, welches durch das Austeilen von Karten hinzu kommt, ist hoch willkommen. Zugleich ist es ein mathematisches Spiel, welches ja prinzipiell für Schachspieler geeignet scheint. Selbstverständlich haben sich auch schon sehr zahlreiche Schachspieler, bis zur Weltelite, darin probiert. Wie erfolgreich, vermag ich zwar nicht zu sagen, aber ihre Veranlagung ist grundsätzlich darauf ausgerichtet und dafür geeignet. Das professionelle Spielen erfordert selbstverständlich ein gewisses Begleitprofil, welches nicht automatisch mitgeliefert wird.

Falls man nun kurz einen Einblick erhalten möchte, wie komplex das Spiel ist, wie hoch die Vielfalt der Möglichkeiten ist und inwieweit es Programmen unmöglich sein dürfte, in logischen, nachvollziehbaren Auswertungen, den besseren vom schwächeren Spieler zu unterscheiden, hier ein paar Beispiele:

Ein Fehler kann sehr wohl eine geplante Aktion sein. Dies erst einmal als grundsätzliche und wichtige Überlegung. Schlussfolgerung wäre daraus: es ist zwar ein Fehler, aber es ist doch keiner?! Nun, die Fehlerhaftigkeit darin, einen Einsatz zu bezahlen ohne mathematische Rechtfertigung. Als ganz anschauliches Beispiel: man hätte das Minimum, die schlechtes denkbare Hand, und würde am Ende ein raise, eine Erhöhung, bezahlen, das ganze am besten früh in einer Partie. Man hätte also GARANTIERT verloren. Was könnte das Programm anders dazu sagen als: „Debil. Wer so etwas bezahlt kann nur debil sein.“ Was aber, wenn die dahinter stehende Überlegung lautet: „Ich mache JETZT diesen billigen Fehler, damit der Gegner später einen teureren Fehler macht?“ Tatsache ist, dass man meist ein Spielerprofil anlegt, dies tut jeder Spieler am Tisch von seinen Mitspielern (manche wissen natürlich weniger als andere). Falls das Profil dieses Spielers, aufgrund der frühen Unsinnigkeit eines Einsatzes (das Beispiel war ja überspitzt, um es plastisch zu machen), nun auf „ der kann nichts“ gesetzt wird, so hat dies zwei Konsequenzen: a) der wird nicht ernst genommen, also sein seine Einsätze grundsätzlich unsinnig, unüberlegt, und b) das Profil wird schwerlich verändert, weil der erste Eindruck am meisten zählt.

Ein weiteres, kleines Beispiel: man hat mehrfach vorher raises getätigt. Man hat mehrfach damit einen Pott geschnappt, weil die Gegner gepasst haben (übersetzt in die Pokerspielersprache: man hat ihm geglaubt). Nun wird es ganz sicher passieren, dass der Spieler irgendwann einmal kontrolliert wird (das auch Pokersprache). Vermutlich wird es daran liegen, dass ein Gegenspieler eine ausreichend gute Hand hat, mit welcher er sich nicht aus dem Pott verdrängen lässt durch blindwütige raises. Falls er nun kontrolliert wird, indem er die Karten auf den Tisch legt, und sich herausstellt, dass er nichts außer einem Haufen Müll auf der Hand hatte, so hat dies nicht etwa die Konsequent, dass er als Trottel abgestempelt wird, im Gegenteil, kann ihm das sogar Hochachtung einbringen. Dennoch wird es die Konsequenz haben, dass er zunächst an Glaubwürdigkeit verloren hat. Sollte er sich also im folgenden Spiel erneut für eine Erhöhung entschließt und dabei keine vernünftige Hand hat, so muss er wohl damit rechnen, den nächsten Pott auch zu verlieren. Das wäre also ein dummer Zug. Dagegen günstig: er bekäme im nächsten Spiel gute Karten. Dann denkbar: man glaubt ihm nicht und zahlt auch mit einer minderwertigen Hand, zur Kontrolle.

512Was ich damit erläutern möchte: wie sollte es einem Programm möglich sein, diese Sequenz von Zügen in einen logischen Zusammenhang zu bringen? Man kann sich übrigens auch Glaubwürdigkeit „erkaufen“. Das geht so:  man spielt 15 Spiele lang gar nicht. Dann hat man eine Hand oder noch immer keine. Nun setzt man plötzlich, sogar recht hoch: was sollten die Mitspieler nun annehmen? 15 Spiele lang nicht gespielt: der MUSS doch jetzt was haben? 

Verwandte Artikel: Wetten, Schach...?

Freitag, 05 Dezember 2014 00:00

Wetten, Schach...? (2)

Fortsetzung des Artikels "Wetten, Schach...?" vom 04.05.2014

In England ist diese Frage längst beantwortet: man kann. Es gibt eine lange Tradition und, fast schon sprichwörtlich, wetten die Engländer auf alles. Wie auch immer die Realität im (Beinahe-)Nachbarland sein mag: in Deutschland gibt es eher die umgekehrte Tradition, welche einem jeden achtbaren Deutschen bereits dies mit der Muttermilch einsaugen lässt: wer wetten will, will auch betrügen. Wie könnte man gegen eine solche Überzeugung nun antreten, diese für null und nichtig erklären?

Meine eigene Vergangenheit mit dem Wetten mag hinlänglich bekannt sein (oder dann halt auch nicht), soll aber hier insgesamt nicht näher erläutert werden. Nur so viel dazu: ich habe eine bald dreißigjährige Erfahrung, die Anfangszeit des Sportwettens in Deutschland ziemlich lückenlos miterlebt, habe jahrelang Quoten erstellt, für angesehen Wettbüros und mich recht professionell damit beschäftigt, und darf mit einigem Stolz anführen, dass ich bis heute eine erfolgreiche Zeit habe und noch immer damit meinen Lebensunterhalt bestreite, selbst wenn heute „nur noch“ in der Rolle des Zulieferers. Man dürfte mich also durchaus als einen Sachverständigen ansehen, der sich seit quasi Jahrzehnten für modifizierte, vielleicht importierte, Muttermilch einsetzt. Es gibt keinen Zusammenhang (zwischen wetten und betrügen). Wer Spaß am Wetten hat, kann, ohne sich zu ruinieren, für eine zusätzliche Unterhaltung sorgen. Wer sich intensiv mit den zu wettenden Ereignissen beschäftigt, sich wirklich gut damit auskennt, kann vielleicht den Wettmarkt übertölpeln, die Schwachstellen aufdecken, sich dauerhaft ein Zubrot sichern. Es ist ein ehrliches Geschäft und selbst wenn am modernen Markt der Begriff „Haifischbecken“ ansatzweise Bewandtnis hätte : auch in einem solchen hat ein jeder kleinere Fisch seine Daseinsberechtigung und seine Überlebensstrategien.  Vor allem könnte er sie sich aneignen, mit ausreichend Verstand gesegnet (Nemo?).

Sicher dürfte der Wettanbieter bei jedem Ereignis, welches er ins Wettprogramm aufnimmt und damit die Bereitschaft anzeigt, sich wetttechnisch in dieses Ereignis zu verwickeln, bei der Quotierung den Versuch unternehmen, eine für ihn Gewinn bringende Quote anzubieten. Nun ist allerdings vor der Austragung des Ereignisses der Ausgang ungewiss, bestenfalls ein paar Wahrscheinlichkeitsgesetzen unterworfen, und im Anschluss ist er feststehend, unverrückbar, und man könnte nur in Philosophie verfallen (wie es einem „guten“ deutschen Sportreporter gebührt; er kann es hinterher stets erklären, dass es nur so ausgehen konnte und er es uns nur deshalb nicht vorher oder währenddessen verraten hat, damit uns die Spannung erhalten bleibt), ob man es nicht eventuell doch hätte wissen können und einem das nicht eigentlich auch schon klar war, dass es so kommen würde? Vor allem betrifft diese Überlegung die Seite des Verlierers (einer Wette, das kann auch gut der Anbieter sein). Falls man gewinnt, sieht die Welt einfach nur rosig aus und man klopft sich selbst anerkennend auf die Schulter: „Wusst ich doch.“ Hiermit dem Sportreporter noch gleich, kann man nun zumindest, zwecks Nachweises, seinen Wettzettel herausholen und hinzufügen: „Hab ich auch gespielt. Hier, schau mal.“

Dies soll vor allem deshalb erörtert werden: während der Gewinn des Veranstalters im Spielcasino rein mathematisch gesehen garantiert ist, da anhand feststehender Wahrscheinlichkeiten die Auszahlungsquote berechnet wird (naiv erklärt: man bekommt „nur“ 36-faches Geld auf eine Chancen von 1/37), agiert der Wettanbieter bei Sportwetten ohne Netz und doppelten Boden: es gibt keine Wahrscheinlichkeitsgesetze, nach denen man einen Sieg von beispielsweise Hertha BSC gegen Werder Bremen (Fußball, Bundesliga) errechnen könnte. Dies bedeutet folgerichtig: man setzt sich als Anbieter einem gewissen Risiko aus. Hier ist jeder selbst in der Verantwortung, sich zu schützen, und der Wettmarkt hat da längst ein paar Regeln entwickelt, an denen man sich am besten orientiert (die aber hier nicht näher erläutert werden sollen; vielleicht in einer Fortsetzung?).

Aufgrund der Tatsache, dass man die Chancen nicht exakt berechnen kann, hätte der Spieler selbst (der „punter“, wie er in England genannt wird, um ihm vom Spieler auf dem Feld, am Ereignis direkt teilnehmend, zu unterscheiden) die Möglichkeit, sich einen Vorteil zu erarbeiten. Wie kommt dies nun alles zustande, wie erstellt man eine Quote, was ist der Zusammenhang zwischen Eintrittswahrscheinlichkeit und Quote?

Quotenberechnung allgemein

Die Quote reflektiert im Kehrwert die Eintrittswahrscheinlichkeit, wobei der Anbieter natürlich eine Gewinnmarge für sich einberechnet, welche aber zugleich die Unwägbarkeitskomponente enthält. Angenommen, eine Chance wäre 1/2 (die berühmten 50%, sozusagen ein offener Ausgang, wie beim Münzwurf), dann wäre die korrekte Auszahlquote (im englischen „true price“, auf deutsch vielleicht „faire Quote“ zu nennen) 2.0, im Kehrwert. Falls man nun diese Gewinnmarge einrechnet, so würde man, je nach Anbieter, vielleicht Quoten von 1.95, 1.90 oder auch nur 1.85 vorfinden. Beim Münzwurf würde man diesen Anbieter vielleicht als Halsabschneider bezeichnen, im Sport, da man die Wahrscheinlichkeiten nicht (exakt) kennt, enthält es diese Spanne zusätzlich zum Schutz, denn vielleicht vertut man sich bei der Einschätzung um 1, 2 oder gar 5%?! Falls das Ereignis nämlich 55% anstatt der geschätzten 50% hätte, so wäre die faire Quote bereits nur noch bei 1/0.55 = 1.82 und man hätte bei jeder der angebotenen Quoten bereits einen Nachteil. Nachteil hat jene Seite, die bei wiederholter Durchführung des Zufallsexperiments am Ende mit Minus dastehen würde. Wenn man also 1.90 bezahlt und in 100 Versuchen tatsächlich 55 Mal das gewettete Ereignis eintritt, dann hätte man zwar 100 * 100 Euro = 10.000 Euro in Wetten angenommen, aber am Ende 55* 190 = 10.450 Euro ausgezahlt. Der Verlust wäre aber kein Zufall (wie im Einzelfall), sondern durch einen Fehler in der Quotierung aufgetreten. Da das Ereignis jedoch nur ein einziges Mal unter den gegebenen Voraussetzungen durchgeführt wird, lässt sich im Prinzip niemals sagen, dass man hier aufgrund eines Fehlers verloren hat (welche Seite auch immer), oder aufgrund einer unglücklichen Verkettung.

Der Begriff „Berechnung“ ist also an dieser Stelle bereits fehl am Platze. Wobei gerade ich mich dem Problem zumindest ziemlich gut angenähert habe. Das eine Problem dabei ist, ein sauberes, gutes, passendes Modell zu finden, das andere ist, dieses Modell mit statistischen Methoden zu prüfen. Natürlich hilft einem jeden Wetteilnehmer (also auch dem Anbieter): jeden Abend Geld zählen. Falls es mehr geworden: gut gemacht. Falls es weniger geworden: denk mal gut nach.

Wettanbieter und Randsportarten

Nicht alle Sportereignisse müssen sich eignen, um sie in den Wettmarkt aufzunehmen, dem Unterhaltungsspieler einen Zusatzkick zu verschaffen (welcher der Unterhaltungsspieler würde sich als solchen bezeichnen und nicht auf eine gewisse eigene Expertise verweisen, vor allem an den Tagen, da sich die Volltreffer einstellen?). Dass die Palette aber durchaus breit gefächert ist, kann man beispielsweise hier erfahren:

http://www.sportwettenanbieter.com

Hier  wird man über ein Portal an verschiedene Anbieter herangeführt, wobei es durchaus sehr attraktive Boni gibt, welche sich auch wirklich recht verlässlich realisieren lassen.

http://www.fussballwetten.info/bet365-special/#2

Hier kann man direkt ein Quotenangebot einsehen, und wird feststellen, dass es außer den populären Sportarten wie Fußball, Tennis, Eishockey, Basketball auch durchaus Randsportarten (die Betreiber derselben mögen mir verzeihen) im Angebot gibt wie Rugby, Tischtennis oder Curling, welche hierzulande sicher keinen so wesentlich höheren Stellenwert gegenüber dem Schach haben.

Insofern stellte sich hier schon die Frage: warum nicht mal ein schachliches Großereignis ins Angebot aufnehmen? Ein Kandidatenturnier, wie jenes jüngst in Khanty-Mansijsk, oder den Titelkampf, dabei jede einzelne Partie und, ständig aktualisiert natürlich, den Gesamtsieg im Wettkampf? Mal schauen, was passiert?

 

Antwort auf die Frage: wer gewinnt das Match? Anand oder Carlsen?

Damit es nicht ganz so trocken bleibt, sollen anstelle der eigentlich hier geplanten „Quotenberechnung für eine Schachpartie“ – welche nun weiter unten zu finden wäre, für jene, die es gar nicht abwarten können – ein paar Erlebnisse mit eingebunden werden.

Mir persönlich fiel das hier zu erörternde Problem zuletzt (mal wieder) auf, als wir im Berliner Hauptbahnhof ein kleines, von der Lasker Gesellschaft vorbildlich organisiertes Turnier spielten und die Deutsche Meisterin Hanna-Marie Klek der Einladung gefolgt war. Sie, als Star der Veranstaltung, stand insoweit im Fokus, als sie vom Vorsitzenden der Lasker Gesellschaft, Paul Werner Wagner, zum Interview   gebeten wurde. Da das Match Anand gegen Carlsen damals vor der Tür stand, ging es natürlich nicht ohne ein Statement der Befragten zu diesem Match. Paul Werner fragte also: „Liebe Hanna-Marie, was denkst du nun: wer gewinnt das Match, wer wird Weltmeister?“

466px-Hanna-Marie Klek 2012

Nun antwortete sie nach bestem Wissen und Gewissen in wohl verpackten Worten, dass sie ihre Anhängerschaft für Carlsen nicht verleugnen könne und er nach ihrer Ansicht den Titel holen würde. Nun erinnerte mich dies an  ähnlich und oft gehörte Fragen, beispielsweise jener „Wer wird Deutscher Fußballmeister?“.  Und wenn man dies nun mit repräsentativen Umfragen statistisch herausbekommen wollte, wie viel Prozent an diesen/jenen/letzteren glaubten, so würde man sehr wohl ein Ergebnis erhalten – nur wäre ausgesprochen fraglich, ob diese Prozentzahlen auch nur die geringste Verwandtschaft mit einer Chancenverteilung hätten, wie man es gelegentlich zu lesen bekommt?!

Warum dies so ist? Nun, genau dies ließe sich am Beispiel Carlsen – Anand plastisch machen. Falls man nämlich hier eine Umfrage starten würde – welche von Paul Werner Wagner ja in gewisser Weise auf den Weg gebracht wurde --, und diese in dem Sinne „repräsentativ“ machen würde, dass man eine Reihe von Spitzenspielern   befragen würde, so  dürfte einen nicht verwundern, falls man dieses Ergebnis erhielte: 100% Carlsen, 0% Anand. Und dies wäre ja auf keinen Fall die „korrekte“ Chancenverteilung (obwohl Carlsen das Match gewann und er damit bei 100% angelangt ist). Denn: die gestellte Frage könnte, leicht umformuliert, ja gut und gerne auch heißen: „Kennst du den Favoriten in dem Match?“ Hierauf müsste ja bereits ein ungeübter oder garnicht-Schachspieler, nachdem er Kenntnis erhalten hatte von der Messbarkeit der Spielstärken mithilfe von Elo, und zusätzlich davon, dass Carlsen die höhere Zahl hatte, ebenfalls antworten. „Ich kenne den Favoriten. Es ist Magnus Carlsen.“ Falls er nun eine gute Trefferquote behalten wollte (der gleiche Kandidat wurde ja auch bereits nach dem Deutschen Meister 2014 befragt und er  hatte ebenfalls ganz brav mit „Bayern München“ geantwortet), so müsste sein Tipp also lauten „Magnus Carlsen“. Nur hat er damit keineswegs  Expertenstatus erlangt.

Die bessere Frage --  ohne Paul Werner zu nahe treten zu wollen, man hört ihm sehr gerne zu – müsste also lauten : „zu wie viel Prozent gewinnt Magnus Carlsen das WM-Match gegen Anand?“ Falls man hier nun eine Reihe vergleichbarer Experten befragen sollte, so dürfte man sehr wohl ein repräsentatives Ergebnis für die Chancenverteilung erhalten. Das Ergebnis der ersten Umfrage würde übersetzt lauten (falls denn die Übereinkunft erzielt würde, zu 100%, wovon aber bei seriöser Beantwortung auszugehen ist) „laut Umfrage ist Carlsen zu 100% als der Favorit anzusehen“, womit quasi gar keine Aussage getroffen ist, so würde es im zweiten Fall lauten „Carlsen ist 85% Favorit auf die Erringung des WM-Titels“ (dies allerdings zunächst nur eine Schätzung, wie der Mittelwert aller Befragten lauten könnte und zugleich irgendwo im Bereich der so fragwürdigen „Realität“ liegt, denn gerade jene ist bereits mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit äußerst in Frage gestellt, rein verbal: etwas scheint  nur wahr).

Berechnen ließe sich mithilfe der Elo Erwartung übrigens auch dieses. Allerdings wird es da schon etwas komplizierter. Denn: die Chancen, die der Favorit hätte, sich in 12 Partien durchzusetzen gegenüber der Chance in einer einzigen wären ungleich höher, wie man wohl leicht einsieht. Selbst wenn ihm das Unglück einer Niederlage früh im Match widerfahren sollte, hätte er noch immer die Möglichkeit, dies zu korrigieren. Offensichtlich wurden deshalb die längeren Matchdistanzen eingeführt, denn gerade im Schach und bei einer Weltmeisterschaft dazu möchte man doch sicher gehen, den besten Spieler zu ermitteln und dies nicht den Zufälligkeiten einer einzigen (oder auch zweier Partien) auszusetzen.

Für die Berechnung könnte man die Mulitnomialverteilung hernehmen, nur könnte dies a) langweilen und b)würde es selbst mich jetzt im Moment überfordern, diese einfach so aus dem Ärmel zu schütteln (vielleicht füge ich die korrekte Berechnung eines Tages an). Ich habe stattdessen rasch eine Simulation durchgeführt, welche mir die obige Schätzung jedoch nicht ganz bestätigen möchte. Die Chancen sind nämlich etwas höher, wohl nahe an 90%. Der Nachteil der Simulation ist zwar ein Mangel an Exaktheit, nur sind  ohnehin eine Reihe von Annahmen gemacht worden, welche nicht verifiziert werden können. Ich habe die aktuellen Zahlen genommen. Stand 23.5.2014; Carlsen 2882, Anand  2785, was somit einer Elodifferenz von 97 Punkten entspricht, womit Carlsen auf die einzelne Partie eine Erwartung von 63.6% hätte, welche ich nun mithilfe einer ähnlichen Schätzung wie oben in eine Verteilung von 31.11% Sieg Carlsen, 60.00% Remis und 8.89%  Sieg Anand  umgesetzt habe, was weiterhin schon allein aufgrund der Vernachlässigung der Farbverteilung unsauber ist, aber auch sonst, nicht allein wegen der Ungereimtheiten im Elo-System letztendlich ohnehin bei einer Schätzung bleibt.

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Nun kommt aber doch noch ein Bezug zum Wettmarkt und Wettgeschehen. Sobald man nämlich eine eigene Einschätzung abgegeben hat, egal, auf welchem Wege ermittelt, kann man diese, sofern das Ereignis am Markt gehandelt wird, die eigene ermittelte faire Quote mit der angebotenen vergleichen. Das Kuriose ist nun: man ist nicht nur mit einem  ahh und ohh mit Staunen und Verwunderung daran beteiligt, sondern im Prinzip zum Wetten verpflichtet. Voraussetzung bleibt natürlich, dass man an die eigene Einschätzung glaubt. Wenn man diese einfach nur so hinkritzelt und dann, bei Ansicht der Zahlen des Wettmarktes sich direkt bekreuzigt und seine eigenen Zahlen in den Müll schmeißt, dann entfiele diese Verpflichtung („nun, da ich der Wahrheit ins Auge geblickt habe, sehe ich ein, dass ich nichts, aber auch rein gar nichts kann“).  Nur hätte man sich dann den Aufwand auch sparen können und direkt die Frage an den Wettmarkt weiter geben können.

Das Szenario dann etwa so: Frage: „Wie sehen Sie die Chancenverteilung des Matches Anand – Carlsen?“ Antwort: „Selbst wenn ich eine Überlegung anstellen würde dazu, so wäre diese im gleichen Moment null und nichtig, da ich erführe, dass sich bereits andere Menschen dazu Gedanken gemacht   haben. Wenn sie dies nämlich getan haben, dann haben sie damit recht.“ Im nächsten Moment: „Hat schon jemand ein Votum abgegeben? Ja? Dann entspricht diese Einschätzung auch exakt der meinigen. Ich habe also keine Einschätzung oder Meinung, ich lese diese nach.“ Genau so gut wäre diese Antwort. „Fragen sie jemand anders.“ Womit man zugleich den Expertenstatus abgelegt hätte.

Da der Markt jedoch irgendwie eröffnen muss, sind im Prinzip nur diese Menschen zu bewundern, die den ersten Kurs (=Quote) herausgeben. Das sind die wahren Helden. Nur nimmt keiner von ihnen Notiz.

Spaß beiseite: Fakt ist, dass es ein gewisses Risiko beinhaltet, eine wahrhaftig und ernst gemeinte Prognose in Form einer Wahrscheinlichkeit abzugeben. Man “exponiert“ sich in gewisser Weite. Zugleich verpflichtet man sich im Grunde, diese Einschätzung in Form einer Wette zu untermauern. Um dies gleich einmal im Beispiel plastisch zu machen: die von mir „berechneten“ (eher möglichst realistisch „simulierten“) knapp 90% auf Sieg Carlsen im Match über 12 Partien gegen Anand entsprechen einer fairen Quote von, nehmen wir 89%, als 1/0.89 = 1.12. Wenn mir bwin nun eine 1.30 anbietet, so müsste ich doch einfach auf dieses Angebot eingehen?

Eigene Erlebnisse mit dem Wetten bei Schachereignissen

Einige praktische Begegnungen mit dem Wetten auf Schachpartien/-matches-/turniere möchte ich gerne einmal erzählen. Fast logisch, dass sich an einigen Stellen im Verlaufe der Jahre ein paar Berührungspunkte ergaben.

 klausenwikipedia

Klausen/Südtirol

Tatsächlich habe ich meine ersten Erfahrungen mit dem Wetten im Jahre 1982 gemacht, mit 23 Jahren. Freund Christian Maier hatte in England ein Wettkonto eröffnet und mir einen Zettel mit einem Wettangebot gezeigt. Ich befand mich damals im Mathematik Studium und es bildete sich allmählich der Schwerpunkt „Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik“ heraus. Wir studierten gemeinsam – aber erst einmal nur den Zettel und die Angebote, ich rechnete ein bisschen hin und her um nach und nach dahinter zu kommen, wir platzierten eine kleine Wette von 10 DM, verloren sie brav, da Liverpool am Sonntag nicht gegen Southampton gewinnen konnte für eine 1.40 (es waren Viererkombis Pflicht; die anderen drei Spiele hatten wir richtig), aber waren vielleicht dennoch ein klein wenig schlauer geworden?!

Mit diesem vermeintlich angewachsenen und einigen anderen Flausen im Kopf ging es Ende August nach Klausen in Südtirol, ein kleines Wochenendturnier mit ganz ordentlichen Geldpreisen. Der geliehene R4 war randvoll mit vier Schachspielern und über die Berge ging es nächtens mit dem einzigen Führerscheininhaber, Christian, – und das bereits seit einer ganzen Woche – nach Klausen. Früh morgens Ankunft, der vergebliche Versuch einer Mütze voll Schlaf im Auto, da das Hotelzimmer noch nicht frei war, dann endlich um 12 Uhr  konnten wir rein, ein kurzes Nickerchen in einem richtigen Bett, unter die Dusche, auf zum Turnier, Vorrunde.

4Wir waren schon mit vorne gesetzt, aber nicht unbedingt 1, 2 oder 3. Georg Siegel, später IM, war ebenfalls dabei und nicht bereit zur Preisteilung – aus gutem Grund -- , die wir anderen schon vereinbart hatten. Die Vorrunde ging glatt, der A-Finalteilnahme stand nichts im Wege. Jedoch war ein echtes Multitalent ebenfalls vor Ort: Brigitta Cimarolli, 1977 im Playboy Playmate des Monats, später, 1983, im Penthouse (dies habe ich nachgelesen; damals wussten wir nur, dass sie Modell war und im Playboy, aber man hätte es ihr wohl auch so angesehen?!). Kurz danach moderierte sie eine Schachsendung im österreichischen Fernsehen.

 

Für sie lohnte es sich jedenfalls, sich ein wenig ins Zeug zu legen. Christian hatte die geniale Idee: am Abend war ein Weinfest. Wir würden alle A-Finalteilnehmer aufschreiben – und Quoten auf sie anbieten. Wie wir sie ermittelten? Ein ganz klein bisschen rechnen vielleicht, ansonsten reine Intuition. Aber es ging ja auch um etwas anderes...

Es wurde ein voller Erfolg. Alle Teilnehmer scharten sich bald um unseren Tisch und praktisch jeder hatte seinen Tipp, mal auf diesen, mal auf jenen. Damit hatte die Sache ja eh schon ihren Zweck erfüllt. Denn: auch Brigitta Cimarolli wurde angelockt und hat sich spielend leicht ihren Favoriten auserwählt, mit wohl 10.000 Liren (etwa 20 DM) untermauert, für eine Quote von 7.0. Georgie war nicht Topfavorit, aber schon weit vorne dabei. Sie war aber die einzige echte Expertin, wie sich am Folgetag herausstellte. Denn: Georg hatte den Platz an der Sonne erobert!

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Christian und ich teilten Platz 2 und 3 --- klar, ich war nur 3 und profitierte – und wir hatten noch das besondere Vergnügen, der hübschen jungen Dame ihren Gewinn auszuhändigen. Da sie die einzige Gewinnerin war und wir dennoch, nicht nur mit dem Turniererfolg, finanziell erfolgreich waren, war es rundherum eine unvergessliche Veranstaltung. 

sanbernardino

San Bernardino 1982

Nur zwei Woche danach reisten wir zu einem kleinen, sehr familiären Schachturnier nach San Bernardino. An der Spitze der Setzliste Vlastimil Hort, dahinter IM Heinz Wirthensohn, irgendwann Christian und ich. Für starke Gegnerschaft war also gesorgt. Eingeprägt hat sich mir, außer der Niederlage auf Zeit (vermutlich meiner einzigen jemals...) gegen Hort, in Remisstellung, im 40. Zug, als ich schlichtweg vergaß, zu ziehen (es war rein gar nichts los, eben nicht einmal Zeitbedrängnis) aber vor allem dies: wir, nein, ehrlich, Christian, hatte die Idee, mit unserem neu erlangten „Wissen“, Wetten auf die Partien anzubieten. Wir machten es diesmal ähnlich wie bei SSP (dem Wettanbieter, bei welchem Christian sein Konto hatte), indem wir Quoten auf 1—X—2 anboten, und zugleich aber den Kombizwang einführten. Man musste mindestens drei Spiele auswählen.

Das Wettspektakel wurde zum vollen Erfolg. Ob nun mit einem Schweizer Franken oder zehn, alle waren dabei, nach ein paar Geburtswehen sogar GM Vlastimil Hort. Wie wir die Quoten erstellten? Ich habe keine Ahnung mehr, die meisten hatten nicht einmal eine Elozahl, das Remis musste ohnehin geraten werden, bei einem Open Turnier war es vermutlich nicht so viel anders als ein Unentschieden in der Fußball Bundesliga?! Egal, das scherte uns kaum. Getippt wurde mehr als fleißig – ohne, dass sich je einer beklagte, wenn seine Wette nicht eintraf. Die familiäre Atmosphäre steigerte sich, da es immer einen Mittelpunkt gab, an welchem sich alle trafen und diskutierten, ihre Tipps und Einschätzungen verglichen.

Am letzten Tag mussten wir um den finanziellen Erfolg allerdings fürchten. Hier und da gab es sicher mal einen kleineren Treffer, an jenem Schlusstag drohte aber eine Auszahlung von weit über 200 Franken. Die letzte Partie nahm für uns den glücklichen Ausgang, die Auszahlung kam durch das gerettete Remis nicht zustande. Somit hatten wir sogar nebenbei etwas Geld verdient. Geneidet hat es wohl niemand, nein, eher Spaß hat es allen gemacht.

Quintessenz und Beweis dieser beiden kleinen  Anekdoten: es geht doch, Schach und Wetten unter einen Hut zu bringen? Das könnte demnach auch in größerem Rahmen funktionieren?

Viel später (1997, rematch) spielte Weltmeister Gary Kasparov gegen das Rechenmonster Deep Blue. Ein Jahr zuvor war er siegreich geblieben durch einen 4:2-Erfolg nach sechs Partien. Es war aber bereits in dem Match offensichtlich (Kasparov bot in der fünften Partie Remis an; zu dem Zeitpunkt stand es 2:2; später gewann Kasparov und die letzte Partie MUSSTE der Computer nun gewinnen, und ob mit der Programmierung eingegriffen oder nicht: Kasparov hatte, vielleicht durch den Sieg gestärkt, leichtes Spiel), dass die Vorherrschaft Geschichte war: die Computer standen bereit, dem Menschen den Rang abzulaufen, zumindest was das Spiel Schach anging. Eines Tages musste es doch ohnehin geschehen?!

Jedenfalls hatte ich persönlich bis Ende der 80er Jahre regelmäßig Matches gegen das aktuell stärkste Computerprogramm ausgefochten. Es war nicht häufig anzutreffen, aber hier gab es eine Gelegenheit: ein Amateurspieler aus Bremen (wer erinnert sich an Dr. Horst Benstein aus Bremen?) hatte eine Leidenschaft entwickelt: er forderte stärker und stärker werdende Spieler heraus zu einem Match mit seinem aktuellen Model, welches teilweise sogar schneller, besser, leistungsstärker war als die am Markt erwerbbaren. Er hatte Beziehungen. Da er von Beruf Arzt war, hatte er offensichtlich das Kapital, um seinem Hobby nachzugehen.  Die herausgeforderten Spieler ließen sich leicht mit entsprechenden Angeboten ans Brett locken. Ein Einsatz von 50 DM oder gar 100 DM pro Partie, häufig mit Kontra, waren keine Seltenheit, wenn man gegen ihn antrat. Das lockte immer einen Haufen Kiebitze auf den Plan, wenn er in Berlin das Café Belmont besuchte, und er stand mit seiner Fischbüchse, wie er sie liebevoll-verachtend nannte im Mittelpunkt, wie er es wohl wünschte.

Mehr und mehr Hobbyspieler mussten die Überlegenheit dieser Fischbüchse anerkennen. So geriet er eben an die stärker werdenden Spieler, die sich so leicht die Butter nicht vom Brot nehmen ließen. Dass man so die eigene Kasse aufbessern konnte, nahm er gerne in Kauf. Anfangs waren die Partie häufig eine Einbahnstraße, aber die Programme wurden Jahr für Jahr stärker. Da erlebte man die ersten unliebsamen Überraschungen. Als ich 1990 den Doktor auf Einladung einmal persönlich in Bremen besuchte und wir fast drei Tage und Nächte durchspielten (wenn ich mal kurz um 5 Uhr morgens auf meinem Hotelzimmer verschwunden war, klingelte schon wieder kurz nach Sonnenaufgang das Telefon) war es so weit: diesmal war meine Geldbörse gehörig geschrumpft. Natürlich war es ein wenig der anwachsenden Müdigkeit geschuldet, halte ich mir selbst einfach mal zugute, aber die Konsequenz war klar: das tue ich mir nicht noch einmal an. Es waren die Tage, in welchen ich die Seiten wechselte: die Programme werden irgendwann den Menschen überholen.

1994 schenkte ich mir selbst das Tischgerät Genius von Mephisto zum Geburtstag. Ich zeichnete sehr lange die Ergebnisse auf, meist in 15-Minuten Partien. Aber nach einer sehr hohen Partieanzahl lag ich noch immer knapp hinten. Es war nicht das Gefühl, hoffnungslos zu sein, im Gegenteil, allmählich hätte ich ihn wohl doch überholt. Das Problem bestand darin, dass ich wusste, wo er seine Eröffnungsschwächen hatte. Nur: sollte ich diese einfach so brutal ausnutzen, sozusagen Gewinnvarianten wieder und wieder aufs Brett bringen, nur um das Ergebnis zu schönen? Oder immer wieder etwas Neues ausprobieren, damit es unterhaltsam bleibt, man etwas dazu lernt? Deshalb irgendwann der Abbruch dieses Matches.

In den Jahren 1999 (zu meinem 40.), 2000, 2001 und 2002, jeweils zu Geburtstagen, veranstalteten Christian und ich (wir sind nur zwei Tage auseinander, insofern bot sich ein gemeinsam gefeierter Geburtstag an) Einladungsschachturniere. Dort durfte dieses Genius Programm mitspielen, auf meinen Wunsch hin. Die Teilnehmer waren zwar nicht alle begeistert, aber immerhin war es doch mein Geburtstag. Dort wurden seine Fähigkeiten auf eine ernste Probe gestellt. Er erzielte jedes Mal ein sehr gutes Ergebnis, kam aber wohl nicht über Rang 4 hinaus (nicht etwa, dass ich mir das gewünscht hätte...). Die Performance, welche ich dort immer aktuell, also nach jeder Runde, errechnete (war ja mein Turnier...), war deutlich über 2300, meist näher an 2400 (die Turniere waren  gut besetzt).

Die Ablösung stand bevor, das war unverkennbar. Ich wollte nur kurz meine eigene Position dazu erläutern: erst verteidigte ich die menschliche Seite, dann schlug ich mich auf die Seite des Computers. Untermauert dies übrigens auch damals schon mit Wetten. Und zwar solcher Art: Dr. Benstein musste sich auf die Suche nach stärkerer Gegnerschaft machen. Mittlerweile war er bei der Leistungsklasse IMs und GMs angelangt. Diese strahlten eine gewisse Überheblichkeit aus. Da anlässlich des Berliner Sommers (einem stark besetzten Open) regelmäßig haufenweise Spieler dieser Kategorie anzutreffen waren und der Doktor eh Berlin immer eine Reise wert fand, bot sich dieses Turnier für ihn an, mit der Fischbüchse aufzulaufen.

Wenn nun des Nachts die Stimmung besser und besser wurde, so wurden die IMs und GMs gar noch ein wenig überheblicher – und doch zugleich nicht stärker. Die Atmosphäre rundherum (Jubel, Trubel, Heiterkeit?!) tat ihr Übriges. Jedenfalls wurde nun tüchtig gewettet. Der Doktor blieb „bescheiden“, mit seinen 100 DM Einsatz, die Fans des Vorkämpfers wollten ihr Idol aber ebenfalls unterstützen dürfen? So gab es Wetten der Umstehenden, zu welchen ich mich selbst in vorderster Front zählen durfte: „Wie viel kann ich auf den IM/GM... setzen?“ Ich nahm an (die Namen werden hier zum Schutze der Betroffenen lieber verschwiegen...).

So konnte ich zum zweiten Mal, wohl auch hier auf der „richtigen“ Seite (?!), mein Budget aufbessern. Denn: die dämliche Fischdose, wie sie nun auch despektierlicher genannt wurde, spielte ihre Stärken aus. Die größte davon war: Krach betraf sie nicht und auch der Alkoholpegel blieb, im Gegensatz zu jenem des Gegners sowie der Stellungsbewertung, stets bei 0.0.

1997 hielt ich auch persönlich die Zeit für gekommen. Die Rechengeschwindigkeit war deutlich höher, durch die drei Jahre aber noch mehr durch die Großrechenanlage (gegenüber dem Genius, als Tischrechner). Dadurch waren die Spielstärkevorteile, die der Weltmeister selbstverständlich gegen alle, die sich zuvor (mit meiner Beteiligung, in meiner Gegenwart) mit den Programmen maßen, nach meiner Ansicht aufgebraucht. Im 1996er Match hatte Kasparov mich zudem nicht vollends überzeugen können. Aufgrund seines Sieges aber waren die Bewertungen recht deutlich zu seinen Gunsten.

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Die am Wettmarkt zu erzielende Quote war also, wenn wir den Schreiber des Artikels halbwegs gut deuten und zudem meinen Erinnerungsvermögen vertrauen wollen, in der Größenordnung von 2.50. Das musste einfach eine gute Wette sein? Jedenfalls wurde dies mit vernünftigen Einsätzen gehandelt, was keineswegs selbstverständlich ist bei Randsportarten. Das bedeutete: die 500 $ waren locker zu platzieren. So viel war ich bereit, zu riskieren. Das Ergebnis wohl bekannt?! Jedenfalls gewann Deep Blue das Match mit 3.5:2.5. Darf ich mich nun auch als Experten bezeichnen oder doch nur als Glücksmolch? Die einmalige Durchführung eines derartigen Zufallsexperiments gibt einfach keine Auskunft. Das Gefühl danach dennoch ausnehmend gut.

Quotenberechnung für eine Schachpartie

Gerade bei dem der Mathematik angeblich so verwandten Spiel Schach (Stichwort: Logik) gibt es dankenswerterweise bereits einen Ansatz, welchen uns der Mathematiker Arpad Elo geliefert hat. Zu einem verbesserten System diesbezüglich, speziell in der Absicht von mir entwickelt, es zu einem reinen Prognosesystem zu machen, womit man es zugleich am Wettmarkt einsetzen könnte, gab es bereits einen längeren Bericht von mir (hier link einfügen?!). Bezugnahme erfolgt hier bei Bedarf.

Das Elosystem näher zu untersuchen ist zunächst einmal nicht erforderlich.  Tatsache ist, dass es grundsätzlich ein Prognosesystem sein sollte, jedoch aus praktischen Erwägungen mehr und mehr zu einem „Spielzeug“ verkommen ist.  Vorrang hat jedenfalls die Bewegung in den Rankings gegenüber der wahren Einschätzung einer Chancenverteilung für eine anstehende Partie. Auch hat die Praxis gezeigt (so weit immerhin Einigkeit in der Weltelite), dass es zwar ein Modell ist, welches gute Ansätze hat und als solches jedem bisher bekannten und auch jedem anderswo angewendeten System (zur Ranglistenerstellung) überlegen ist, dass es dennoch ein Modell ist, welches nicht in Gänze die Komplexität in der Schachwelt abbildet. Als Stichpunkte mögen hier genügen: auf Schwarz-Weiß Farbverteilung wird gar keine Rücksicht genommen, und dies offensichtlich fälschlich, jedoch könnte man hier noch den Mantel des Schweigens darüber legen: betrifft doch jeden gleich häufig, der Fehler, mal profitierend, mal benachteiligend, also „why worry“? Anderes Beispiel sind die hohen Spielstärkedifferenzen, bei welchen das System eine zu hohe Erwartung ausspuckt, welcher erfahrungsgemäß der bessere Spieler einfach nicht gerecht werden kann, nicht aus eigener Schwäche, sondern aufgrund einer Systemschwäche. Beweis: sehr starke Spieler meiden die Teilnahme an Open Turnieren mit der (anerkannten) Begründung: „Ich mach mir doch nicht meine Zahl kaputt?“ Wer es doch tut, bekommt die Quittung in Form von Minusperformances – und einhergehend Eloverlusten.

Speziell dazu ist aber ein anderer Artikel von mir zu finden mit der Überschrift „Bewertungssysteme“,  in  welchem sogar ein alternatives System von mir vorgestellt ist, welches dem Elo-System im Prinzip überlegen ist. Nur dürfte der Verwaltungsaufwand (möglicherweise auch  eine gewisse Skepsis einhergehend) zu groß sein, um das so lange und (scheinbar) so verlässlich funktionierende System abzulösen, der Vorteil des vorgestellten vermutlich, falls überhaupt anerkannt, als zu unbedeutend angesehen werden. Dies soll hier allerdings nicht (erneut) Gegenstand werden.

Hier soll es ja mehr um die Quotenberechnung für eine Partie gehen. Und für diese kann man zunächst einmal schauen, was man mit dem Elo-System herausbekommt – und was möglicherweise fehlt. Mit Elo kann man ursprünglich drei verschiedene Werte berechnen, die Relevanz haben. Das eine ist die so genannte Performance, mit welcher man eine Serie von Ergebnissen in eine erbrachte Leistung umrechnet. Zum Beispiel benötigt man für eine IM-Norm eine Performance von 2450 Elopunkten, für eine GM-Norm eine von 2600. Wenn  es einem wiederholt gelingt, auf diesem Niveau zu spielen (gegen internationale Gegnerschaft erstreckt sich eine Spanne  von 24 Partien, in welchen man die Leistung erbringen muss), so wird einem der entsprechende Titel verliehen. Die Performance misst aber auch sonst einfach die aktuelle Leistung, meist bezieht man sie auf die Leistung in einem Turnier. Für einzelne Partien ergeben hier keine sinnvollen Ergebnisse. Die Formel hierfür an der Stelle überflüssig anzuführen, vielleicht bei passenderer Gelegenheit.

Ein weiterer Wert ist die neue Elo-Zahl aufgrund eines Turnierergebnisses (heute gelingt es, mit einer gewissen “Formelvergewaltigung“, sogar einzelne Partien auszuwerten), also einer erbrachten „Performance“ oder auch, halbwegs anständig übersetzt, einer Leistung. Man stelle sich hierzu vor (für die meisten sicher Aldehyde, äh, ich meinte alte Hüte), dass man eine alte Zahl von 2235 hat, ein gutes Turnier mit 9 Partien spielt und dort eine Leistung von 2420 erbringt. Wie sollte nun die neue Zahl aussehen? Irgendetwas ZWISCHEN 2235 und 2420, das ist schon logisch, aber wie stark wird das letzte Ergebnis über diese Anzahl von Partien gewertet? Auch hierzu liefert Elo eine Antwort, ohne, dass dies je  groß mathematisch überprüft wurde (man könnte auch sagen statistisch). Die Formel dafür wird hier ebenfalls nicht benötigt, die Willkür aber immerhin Erwähnung finden, nach welcher es halt irgendein Ergebnis ergibt. Mit entscheidend ist der so genannte Elo-Koeffizient, welcher, ebenfalls in gewisser Willkür, zwischen 25 und 5 angesetzt ist, wobei die 25 für die schnellste Reaktionszeit, 5 für die langsamste steht. Neueinsteiger werden mit der 25 angenommen, weil man davon ausgeht, dass eine schnellere Entwicklung stattfindet und die aktuelle Elo-Zahl noch nicht zuverlässig ist. Die 5 bekommt man ab Elo 2600 – und verliert sie danach nie mehr. Die Behauptung: wer einmal so stark gespielt hat, über einen längeren Zeitpunkt, hat recht zuverlässig diese Spielstärke, da sind Einflussnahmen (=Veränderungen) kaum noch erforderlich. Dies sind jedoch intuitive Annahmen (die durchaus Sinn ergeben), welche jedoch statistisch nicht verifiziert sind. Im Beispiel wäre bei dem üblichen Koeffizienten von 15 (Spieler unter 2400 mit mehr als 25 Partien) die neue Zahl bei 2266. Dies entspricht einem Gewinn von 37 Elopunkten.

Ein dritter Wert, und für uns hier relevant, ist jener der Erwartung für eine anstehende Partie. Betrachten wir es zunächst einmal unkritisch und farbunabhängig. Hier zunächst die Formel: Erwartung = 1/(1+10^(Elo1-Elo2)/400). Dies sieht nun zunächst etwas unhandlich aus,   soll auch nicht weiter hergeleitet oder gar überprüft werden, jedoch ist es  so (glücklicherweise! Wunder der Mathematik!), dass man, sofern man Elo1 und Elo2   vertauscht, den Gegenwert zu 1 erhält. So wäre also   1/(1+10^(2100-2300)/400) + 1/1+(10^(2300-2100)/400) = 1. Also Spieler 1 erwartet  so viele Punkte gegen Spieler 2, wie dieser im direkten Duell abgeben würde, falls man es so übersetzen mag. Wer noch immer ungläubig ist: bei Elowerten von 2100 und 2300 hätte der Favorit (durch Einsetzen in die Formel) 74.98%, während der Außenseiter, bei Vertauschung der eingesetzten Werte, 24.02% hätte.

Nun ist weder die Herleitung der Formel noch ihr Verständnis hier erforderlich, sondern nur die Ergebnisse derselben beziehungsweise deren Interpretation. Nehmen wir einmal an, dass die Zahlen der Spieler „realistisch“ sind (was ja aufgrund der leicht willkürlichen Berechnung  der neuen Elo-Zahlen anhand der Ergebnisse, weiter oben erläutert, nicht gewährleistet ist) und die Farbverteilung  ebenfalls  nicht erheblich ist, dann hätten wir also die Prognose, dass ein um 200 Elopunkte besserer Schachspieler gegen den Außenseiter    etwa 75% der Punkte holen müsste. Denn: die zweite Bedingung, welche die Formel erfüllen muss, ist die Ratingunabhängigkeit, was aber durch die Berechnung der Differenz innerhalb der Formel gewährleistet ist (200 Punkte Differenz führen immer zum gleichen Ergebnis: 75% Favorit, 25% Außenseiter; so ist übrigens die 400 in der Formel auch erklärt).

Nun bleibt aber, zwecks Quotenberechnung, noch immer die Frage offen,  wie  der Favorit diese 75%  erzielen sollte? Im asiatischen Handicap wird auf Fußball bezogen häufig der Begriff „draw no bet“ verwendet. Dieser bedeutet: bei Remis gibt es das Geld zurück („keine Wette“). Nur würde man selbst für diese Art des Wettangebots nicht einmal eine Auskunft durch die Eloerwartung erhalten. Wir erfahren nämlich schlichtweg gar nichts  über die Remiswahrscheinlichkeit.

Man bedenke: eine Art Karpov (noch früher: Capablanca), welcher tatsächlich in die großen Turniere (und dies mit beträchtlichem Erfolg) mit der Taktik an den Start ging: mit Weiß Sieg, mit Schwarz Remis, würde ja auf 75% der Punkte kommen (für unser Beispiel hier müsste man aufgrund der farbunabhängigen Betrachtung mal kurz annehmen, dass er jede zweite Partie gewänne, ohne Farbzuteilung halt). Hier wäre jedoch die anzubietende Quote auf „draw no bet“ für ihn  1.0. Denn: da er nie verliert und nur gewinnen kann, wäre jeder Wert über 1.0 eine Art „sichere Wette“ für den sie abschließenden. Der Wetter kann NUR gewinnen und NIEMALS verlieren.

Falls sich jedoch beispielsweise eine Art Tal ans Brett setzte, mit der gleichen Spielstärke (= Elozahl), welcher für das Beispiel und die Phantasie nun mal, aufgrund seines riskanten Spielstils aus 100 Partien zwar 75 gewinnen würde (Karpov nur 50), dafür jedoch die restlichen verlieren würde, insofern die gleiche Prozentzahl erzielte, aber dennoch eine völlig andere Quote auf das draw no bet erzielen würde. Diese  errechnete sich nun als 100/75 = 1.333, weil er von 100 Partien 75 gewinnt.

Dieses Beispiel wirft natürlich direkt eine Reihe weiterer Fragen auf, denen wir im Einzelnen zwar kurz nachgehen können, die aber nicht zu tief erörtert werden können (erneut: Buch füllend). Zum Beispiel: dies wäre die faire Quote, bei welchem beide Wettparteien nach einer Serie von 100 Ereignissen in etwa pari herauskommen würden (wer sagt schon, dass er, der Erwartung entsprechend, tatsächlich von den 100 Partien dieser Serie 75 gewinnt?). 75 Mal gewinnt der Tal-Unterstützer, 25 Mal verliert er. In den 75 gewonnenen Partien streicht er, bei 100 Euro Einsatz, jeweils 33.33 Euro Gewinn ein, in den 25 anderen Fällen verliert er komplett 100 Euro. Das ergibt 75*33.33 – 25*100 = 0.  Der Wettanbieter würde nun, zu seinen Gunsten, aber auch als Veranstalter, der  dafür natürlich einen finanziellen Aufwand betreiben muss, um   ein Geschäft zu führen, von der fairen Quote einen gewissen Abschlag nehmen – die so genannte Gewinnmarge --, würde also beispielsweise eine 1.30 anbieten, oder auch nur eine 1.25.

Diese 1.25 sind jedoch keineswegs unter dem Stichpunkt „Gier“ einzuordnen oder was immer man den Wettanbietern unterstellt. Das erste Problem ist bereits benannt: zwecks Volksbelustigung muss er ein Risiko eingehen, welches bereits mit der Erstinvestition beginnt (Geschäftsgründung). Dazu muss er den Laden am  Laufen halten, Miete, Personalkosten, Strom, meist einen Haufen Bildschirme bereit stellen, damit das Volk auch recht ordentlich belustigt wird etc. Nur kommt die Hauptproblematik hinzu: für das Rechenbeispiel mag ja die Mathematik zuverlässig funktionieren, kann er bald im Geld baden. Wer aber soll ihm versichern, dass  es sich in der Praxis  tatsächlich so verhält, die angenommene Chancenverteilung die richtige ist? Wegen all dieser Unwägbarkeiten ist die berechnete Gewinnmarge meist weit größer als die erzielte.

Nun ja, eine weitere Fragestellung wäre diese: warum sollte sich eigentlich jemand für dieses Wettangebot interessieren? Derjenige, der es tut, ist häufig genug ein Experte, der es sogar besser einschätzen kann. Aber abgesehen davon: wiese sollte man nun „draw no bet“ bei einer Schachpartie anbieten, was könnte der Reiz sein, wie wären Alternativen?

Dies vielleicht interessanter, und gehen wir diesem kurz nach: die ganz große „Schwachstelle“ beim Schach ist das Remis. Auch hier aber aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erörtert: im Spitzenschach  gibt es sehr viele davon. Die Kämpfer „neutralisieren“ sich, was im Fußball aber lediglich dazu führt, dass man über eine gewisse Zeitspanne vielleicht keine Torchance zu sehen bekommt. Jedoch geschieht dann mithilfe des Zufalls doch plötzlich etwas – beispielsweise ein Tor, ein abgefälschter Schuss sogar, ein Handspiel im Strafraum? Und, da das Spiel nun mal weiter geht, geht plötzlich die Post ab, das Spiel verändert sich, auf einmal Spannung, Torchancen, Hektik, was zuvor noch ganz ruhig aussah.

Beim Schach sind die Zufallselemente vorsätzlich so gut es ging eliminiert. Das Zufallstor gibt es nicht und soll es auch gar nicht geben. Neutralisiert,  alles runtergeholzt, Remis vereinbart. Man kann dasselbe auch durch Zugwiederholungen, Dauerschach erleben, wo man den Kämpfern im Prinzip keinen Vorwurf machen kann. Das Remis ist bei Spitzenspielern eindeutig das Favoritenereignis. Nur: wer wollte darauf schon wetten, was wäre daran interessant, spannend, unterhaltsam? Noch mehr die umgekehrte Perspektive: wer möchte darauf eine Wette halten, also sie annehmen?  Angenommen, der Buchmacher zahlt eine 1.40 auf ein Remis. Er bekommt Umsatz auf dieses Remis. Die Spieler setzen sich kurz ans Brett – in der Traumwelt ist nun diese Partie live auf einem der Bildschirme zu sehen --, machen lapidar ein paar Züge, und vereinbaren, direkt nach dem Damentausch im 12. Zug in symmetrischer Stellung, bei einer offenen Zentrumslinie, wo alsbald die Türme ebenfalls verschwinden würden, das Remis. Mit welchem Gefühl würde der Wettanbieter nun diese Wetten auszahlen? Pech gehabt, nächstes Mal ist das Glück wieder auf meiner Seite?

Tja, also um das Buch nicht gleich hier verfassen zu müssen: das Wettangebot    draw no bet wäre wohl das einzig angängige. Versetze man sich jedoch kurz in den  Wetter,  der auf dieses Angebot eingeht: er wettet bei einem Topturnier bei allen vier Partien (ja, 8 Teilnehmer, doppelrundig) eine Seite. Er müht sich, mit Spannung die Partien zu verfolgen, am Computer, mit Houdini im Verein. Der höchste Ausschlag FÜR einen seiner Spieler ist bei +0.42. Ja, man müht sich um Spannungsaufbau. Die angezeigten Varianten passen einem aber nicht. Wo ist da der Vorteil? Schließlich kommt es tatsächlich zum Bauerngewinn, Turmendspiel, freier a-Bauer, eigener Turm davor, am Königsflügel drei gegen drei! Alles bekannt, +0.4 bleibt, aber das Remis ist dennoch gewiss.

In der schlechten Partie hat man für einen Moment eine -1.35 auf dem Brett! Auweh, das geht schief! Nein, der Gegner nutzt diesen einen Moment nicht, findet den (absurden) Houdini Zug nicht, der Vorteil verschwindet wieder – Remis. Nun hat man mit aller Kraft versucht, Spannung aufzubauen --  und endet exakt pari. War das nun prickelnd? Nicht vergessen bitte: das ganze Spektakel erstreckte sich über fünf Stunden (und nicht knappe zwei, wie bei einem Fußballspiel). Abgesehen davon war die Aussicht alles andere als rosig. Man hatte die vier Spiele miteinander kombiniert, jeweils den Favoriten herausgepickt, somit eine 1.15 * 1.40 * 1.30 * 1.25 * 20 Euro = 52.32 Euro, also im Idealfall noch immer lediglich einen Gewinn von 32.32 Euro erzielt, bei 20 Euro Einsatz.

Thema sollte ja eigentlich sein, wie man eine Quote berechnet. Noch einmal darauf zurück gekommen: man hat keine Auskunft über die Remiswahrscheinlichkeit. Elo schweigt sich darüber aus, es gibt keinen Ansatzpunkt. Zumal ja hier nun diese drei Probleme auftauchen: welche Bedenkzeit wird gespielt? Blitz-, Schnell, Turnierschach? Das macht einen gewaltigen Unterschied, ganz offensichtlich und weit mehr als nur intuitiv angenommen. Aber auch: auf welchem Elo-Niveau wird gespielt? Bei 1300 gegen 1400 sollte man gegenüber der Partie 2700 gegen 2800 von einer gewaltigen Steigerung ausgehen (hier mal kurz geschätzt, für Turnierschach: 1300 gegen 1400 bei maximal 15%, 2700 gegen 2800 vielleicht  bei 70%, je nach Farbverteilung, die man als Anbieter separat zu erwägen hätte).

Nun quotieren wir einfach mal diese beiden  Partien mit diesen Vorgaben: die Erwartung ist in beiden Partien gleich: 1/(1+10^(1400-1300)/400) = 0.36. Der laut Zahl bessere ist also 64:36 Favorit oder er soll 64% der Punkte erzielen. Bei der Partie 1300 gegen 1400 Elo ziehen wir die 15% Remisen ab. Er macht in 100 Partien 7.5 Punkte (15 *1/2) mit Remisen, den Rest, also 56.5% mit Siegen. Das  ergäbe diese Verteilung: 56.5% Sieg, 15% Remis, 28.5%   Niederlagen, aus Sicht des Favoriten. Für die Quotenbildung müssten wir die Kehrwerte nehmen, also 1/56.5% und so weiter. Damit hätten wir diese fairen Quoten, also ohne Gewinnmarge (auf 100%) berechnet:

1.77                6.67                3.51

Nehmen wir nun einen Buchmachergewinn eingerechnet hinzu (die so genannte „Bezahlquote“), dann ergibt sich

1.65                5.00                2.90

um nur ein Beispiel zu geben. Dies wäre in etwa vergleichbar mit einer Quotierung im Eishockey, ein Spiel, in dem die Remiswahrscheinlichkeit gegenüber dem Fußball deutlich geringer ist.

In der anderen Partie erzielt der Favorit 70% seiner Punkte mit einem Remis. Also ziehen wir von den 0.64  0.35 (0.7 * 0.5) ab. Es bleiben 0.29 Punkte, die er mit einem Sieg erzielt. Die Verteilung wäre demzufolge 29% Siege, 70% Remisen, 1% Niederlagen (der Favorit hat wohl Weiß?!). Als faire Quote ausgedrückt, also im Kehrwert:

3.45                1.43                100

beziehungsweise nun als Bezahlquote

2.80                1.35                40

(die theoretische Gewinnmarge sollte bei kleineren Wahrscheinlichkeiten aus Gründen der Risikoerwägung und Fehlerwahrscheinlichkeit deutlich höher sein).

Die Frage wäre, wie ein Wetter auf ein derartiges Wettangebot reagiert? Soll ich den Favoriten nehmen? Hmm, 2.80 hört sich gut an – aber wahrscheinlich wird es eh Remis. Soll ich auf Remis wetten? Langweilig und bringt auch nichts ein. Also? Lieber gar nichts machen.

Spannender schon in gewisser Weise die draw no bet Wette. Nur ergäbe sich ja in diesem Beispiel das extreme Verhältnis von 29 Siegen gegenüber einer Niederlage. Man würde auf den Favoriten also gar nichts bekommen (im günstigen Falle 1.01, aber dafür spielt man doch nicht? 100 Euro setzen um einen einzigen zu gewinnen, und das auch noch höchst selten, aufgrund   der vielen Remisen?), auf der anderen Seite zwar attraktiv (fair wäre eine Quote von 30, bekommen würde man vielleicht eine 20), nur kommt es halt nicht. Warum soll man denn ein Ereignis wetten, an welches man nicht glaubt?

Nun ist das Beispiel ja vielleicht etwas extrem gewählt. Dennoch: die Frage, wie man  attraktive Wettangebote gestalten könnte, ist so nicht leicht zu beantworten (es war bisher nichts  rechtes dabei).

Nun könnte man über Langzeitwetten nachdenken: wer gewinnt ein Turnier, wer wird nächster Herausforderer, wer wird Weltmeister? Fraglich allerdings, ob sich dafür leidenschaftliche Wetter finden ließen, denn:  selbst im Fußball sind Langzeitwetten weit weniger populär. Wobei es hier den Unterschied gibt: eine Deutsche Fußball Meisterschaft dauert von August bis Mai. Für eine so lange Zeit sein Geld zu binden ist unattraktiv. Ein Schachturnier wäre da schon interessanter, vergleichbar etwa mit der Fußballweltmeisterschaft, welche innerhalb eines Monats entschieden ist und auch von daher (die Bedeutung des Turniers spielt ebenfalls eine Rolle) wesentlich mehr Spieler anlockt. Wer wird denn nun Weltmeister?

Sonntag, 04 Mai 2014 00:00

Wetten, Schach...?

Wie könnte man da nun einen Zusammenhang herstellen? Es gibt mit Sicherheit einige Ansatzpunkte und aus der eigenen Erfahrung heraus gesagt: ab und an gab es schon mal größere (Schach-)Ereignisse, bei denen zumindest die Fragestellung auftauchte: „Kann man darauf auch wetten?“

Es gäbe schon eine Menge Aspekte dabei genauer zu beleuchtend, in der Größenordnung bereits „Buch füllend“, insofern muss ich mich hier versuchen, auf ein paar ausgewählte zu fokussieren, in der Hoffnung, damit ein wenig Appetit zu machen, welches sich im Feedback manifestieren könnte.

Eine grundsätzliche Frage beim Sport : könnte man ihn interessanter gestalten, für den Zuschauer/Beobachter attraktiver machen, indem man Wetten darauf anbietet, gestattet, legalisiert, möglich macht? Könnte man gar mehr Zuschauer akquirieren dadurch? Wer auch immer sich je mit dem Wetten versucht hat, wird bestätigen können : sobald man auf ein Ereignis eine Wette platziert hat fällt nicht mehr dasHINschauen sondern eher das WEGschauen schwer. Sobald man also mit mehr oder weniger Überzeugung eine Wette getätigt hätte, wird man zumindest mit einer gewissen Anspannung auf die Ergebnisse warten, selbst wenn man das Ereignis nicht einmal live verfolgen kann.

In England ist diese Frage längst beantwortet: man kann. Es gibt eine lange Tradition und, fast schon sprichwörtlich, wetten die Engländer auf alles. Wie auch immer die Realität im (Beinahe-)Nachbarland sein mag: in Deutschland gibt es eher die umgekehrte Tradition, welche einem jeden achtbaren Deutschen bereits dies mit der Muttermilch einsaugen lässt: wer wetten will, will auch betrügen. Wie könnte man gegen eine solche Überzeugung nun antreten, diese für null und nichtig erklären?

banner-seminarturnier300-anz2014Meine eigene Vergangenheit mit dem Wetten mag hinlänglich bekannt sein (oder dann halt auch nicht), soll aber hier insgesamt nicht näher erläutert werden. Nur so viel dazu: ich habe eine bald dreißigjährige Erfahrung, die Anfangszeit des Sportwettens in Deutschland ziemlich lückenlos miterlebt, habe jahrelang Quoten erstellt, für angesehen Wettbüros und mich recht professionell damit beschäftigt, und darf mit einigem Stolz anführen, dass ich bis heute eine recht erfolgreiche Zeit habe und noch immer damit meinen Lebensunterhalt bestreite, selbst wenn heute „nur noch“ in der Rolle des Zulieferers. Man dürfte mich also durchaus als einen Sachverständigen ansehen, der sich seit quasi Jahrzehnten für modifizierte, vielleicht importierte, Muttermilch einsetzt. Es gibt keinen Zusammenhang (zwischen wetten und betrügen). Wer Spaß am Wetten hat, kann, ohne sich zu ruinieren, für eine zusätzliche Unterhaltung sorgen. Wer sich intensiv mit den zu wettenden Ereignissen beschäftigt, sich wirklich gut damit auskennt, kann vielleicht den Wettmarkt übertölpeln, die Schwachstellen aufdecken, sich dauerhaft ein Zubrot sichern. Es ist ein ehrliches Geschäft und selbst wenn am modernen Markt der Begriff „Haifischbecken“ ansatzweise Bewandtnis hätte : auch in einem solchen hat ein jeder kleinere Fisch seine Daseinsberechtigung und seine Überlebensstrategien.  Vor allem könnte er sie sich aneignen, mit ausreichend Verstand gesegnet (Nemo?).

Sicher dürfte der Wettanbieter bei jedem Ereignis, welches ins Wettprogramm aufnimmt und damit die Bereitschaft anzeigt, sich wetttechnisch in dieses Ereignis zu verwickeln, bei der Quotierung den Versuch unternehmen, eine für ihn Gewinn bringende Quote anzubieten. Nun ist allerdings vor der Austragung des Ereignisses der Ausgang ungewiss, bestenfalls ein paar Wahrscheinlichkeitsgesetzen unterworfen, und im Anschluss ist er feststehend, unverrückbar, und man könnte nur in Philosophie verfallen (wie es einem „guten“ deutschen Sportreporter gebührt; er kann es hinterher stets erklären, dass es nur so ausgehen konnte und er es uns nur deshalb nicht vorher oder währenddessen verraten hat, damit uns die Spannung erhalten bleibt), ob man es nicht eventuell doch hätte wissen können und einem das nicht eigentlich auch schon klar war, dass es so kommen würde? Vor allem betrifft diese Überlegung die Seite des Verlierers (einer Wette, das kann auch gut der Anbieter sein). Falls man gewinnt, sieht die Welt einfach nur rosig aus und man klopft sich selbst anerkennend auf die Schulter: „Wusst ich doch.“ Hiermit dem Sportreporter noch gleich, kann man nun zumindest, zwecks Nachweises, seinen Wettzettel herausholen und hinzufügen: „Hab ich auch gespielt. Hier, schau mal.“

Dies soll vor allem deshalb erörtert werden: während der Gewinn des Veranstalters im Spielcasino rein mathematisch gesehen garantiert ist, da anhand feststehender Wahrscheinlichkeiten die Auszahlungsquote berechnet wird (naiv erklärt: man bekommt „nur“ 36-faches Geld auf eine Chancen von 1/37), agiert der Wettanbieter bei Sportwetten ohne Netz und doppelten Boden: es gibt keine Wahrscheinlichkeitsgesetze, nach denen man einen Sieg von beispielsweise Hertha BSC gegen Werder Bremen (Fußball, Bundesliga) errechnen könnte. Dies bedeutet folgerichtig: man setzt sich als Anbieter einem gewissen Risiko aus. Hier ist jeder selbst in der Verantwortung, sich zu schützen, und der Wettmarkt hat da längst ein paar Regeln entwickelt, an denen man sich am besten orientiert (die aber hier nicht näher erläutert werden sollen; vielleicht in einer Fortsetzung?).

Aufgrund der Tatsache, dass man die Chancen nicht exakt berechnen kann, hätte der Spieler selbst (der „punter“, wie er in England genannt wird, um ihm vom Spieler auf dem Feld, am Ereignis direkt teilnehmend, zu unterscheiden) die Möglichkeit, sich einen Vorteil zu erarbeiten. Wie kommt dies nun alles zustande, wie erstellt man eine Quote, was ist der Zusammenhang zwischen Eintrittswahrscheinlichkeit und Quote?

Quotenberechnung allgemein

Die Quote reflektiert im Kehrwert die Eintrittswahrscheinlichkeit, wobei der Anbieter natürlich eine Gewinnmarge für sich einberechnet, welche aber zugleich die Unwägbarkeitskomponente enthält. Angenommen, eine Chance wäre 1/2 (die berühmten 50%, sozusagen ein offener Ausgang, wie beim Münzwurf), dann wäre die korrekte Auszahlquote (im englischen „true price“, auf deutsch vielleicht „faire Quote“ zu nennen) 2.0, im Kehrwert. Falls man nun diese Gewinnmarge einrechnet, so würde man, je nach Anbieter, vielleicht Quoten von 1.95, 1.90 oder auch nur 1.85 vorfinden. Beim Münzwurf würde man diesen Anbieter vielleicht als Halsabschneider bezeichnen, im Sport, da man die Wahrscheinlichkeiten nicht (exakt) kennt, enthält es diese Spanne zusätzlich zum Schutz, denn vielleicht vertut man sich bei der Einschätzung um 1, 2 oder gar 5%?! Falls das Ereignis nämlich 55% anstatt der geschätzten 50% hätte, so wäre die faire Quote bereits nur noch bei 1/0.55 = 1.82 und man hätte bei jeder der angebotenen Quoten bereits einen Nachteil. Nachteil hat jene Seite, die bei wiederholter Durchführung des Zufallsexperiments am Ende mit Minus dastehen würde. Wenn man also 1.90 bezahlt und in 100 Versuchen tatsächlich 55 Mal das gewettete Ereignis eintritt, dann hätte man zwar 100 * 100 Euro = 10.000 Euro in Wetten angenommen, aber am Ende 55* 190 = 10.450 Euro ausgezahlt. Der Verlust wäre aber kein Zufall (wie im Einzelfall), sondern durch einen Fehler in der Quotierung aufgetreten. Da das Ereignis jedoch nur ein einziges Mal unter den gegebenen Voraussetzungen durchgeführt wird, lässt sich im Prinzip niemals sagen, dass man hier aufgrund eines Fehlers verloren hat (welche Seite auch immer), oder aufgrund einer unglücklichen Verkettung.

Der Begriff „Berechnung“ ist also an dieser Stelle bereits fehl am Platze. Wobei gerade ich mich dem Problem zumindest ziemlich gut angenähert habe. Das eine Problem dabei ist, ein sauberes, gutes, passendes Modell zu finden, das andere ist, dieses Modell mit statistischen Methoden zu prüfen. Natürlich hilft einem jeden Wetteilnehmer (also auch dem Anbieter): jeden Abend Geld zählen. Falls es mehr geworden: gut gemacht. Falls es weniger geworden: denk mal gut nach.

Wettanbieter und Randsportarten

skf14250Nicht alle Sportereignisse müssen sich eignen, um die in den Wettmarkt aufzunehmen, dem Unterhaltungsspieler einen Zusatzkick zu verschaffen (wer der Unterhaltungsspieler würde sich als solchen bezeichnen und nicht auf eine gewisse eigene Expertise verweisen, vor allem an den Tagen, da sich die Volltreffer einstellen?). Dass die Palette aber durchaus breit gefächert ist, kann man beispielsweise hier erfahren:

www.betgutscheine.net

Hier wird man über ein Portal an verschiedene Anbieter herangeführt, wobei es durchaus sehr attraktive Boni gibt, welche sich auch wirklich recht verlässlich realisieren lassen.

www.sportwetten.org

Hier kann man direkt ein Quotenangebot einsehen, und wird feststellen, dass es außer den populären Sportarten wie Fußball, Tennis, Eishockey, Basketball auch durchaus Randsportarten (die Betreiber derselben mögen mir verzeihen) im Angebot gibt wie Rugby, Tischtennis oder Curling, welche hierzulande sicher keinen so wesentlich höheren Stellenwert gegenüber dem Schach haben.

Insofern stellte sich hier schon die Frage: warum nicht mal ein schachliches Großereignis ins Angebot aufnehmen? Ein Kandidatenturnier, wie jenes jüngst in Khanty-Mansijsk, oder den Titelkampf, dabei jede einzelne Partie und, ständig aktualisiert natürlich, den Gesamtsieg im Wettkampf? Mal schauen, was passiert?

Quotenberechnung für eine Schachpartie

Gerade bei dem der Mathematik angeblich so verwandten Spiel Schach (Stichwort: Logik) gibt es dankenswerterweise bereits einen Ansatz, welchen uns der Mathematiker Arpad Elo geliefert hat. Zu einem verbesserten System diesbezüglich, speziell in der Absicht von mir entwickelt, es zu einem reinen Prognosesystem zu machen, womit man es zugleich am Wettmarkt einsetzen könnte, gab es bereits einen längeren Bericht von mir (hier link einfügen?!). Bezugnahme erfolgt hier bei Bedarf.

Antwort auf die Frage: wer gewinnt das Match? Anand oder Carlsen?

  1. KasparovDeep Blue
Mittwoch, 12 Juni 2013 13:40

Chess 960

In diesem Text sollen die Spiele „klassisches Schach“ und „Schach 960“ einander gegenübergestellt werden. Es soll schon höchst objektiv versucht werden, was die objektiven Vorzüge dieser oder jener Variante sind beziehungsweise was die wohl deutlich in der Überzahl befindlichen Verfechter des klassischen Schachs – oder ist es etwa nur ein Mangel an Turnierangeboten des Schach 960? – so überzeugt festhalten lässt an dieser „einzig wahren“ Schachvariante.

Man macht natürlich kein Hehl daraus, dass man es persönlich für eine sehr lohnenswerte Alternative hält, weiter gehend vielleicht sogar eine mögliche Ablösung des klassischen Schachs absehend, wobei man an dieser Stelle durchaus weit mehr als nur den einen oder anderen Leser entsetzt aufschreien hört --- und folglich diesen Text gleich mal beiseite schieben lässt. „Ich unterstütze doch keine Bastard Varianten des Schachs. Wenn schon, spiele ich mal Tandem. Das macht MIR Spaß.“

Nicht selten diese oder ähnliche Worte vernehmend, soll es hier , als durchaus Praktizierender des klassischen Schachs --  und nicht nur dies, sondern es eigentlich mit annehmbarem Erfolg und durchaus einiger Leidenschaft tut – zunächst mal eine nüchterne Analyse geben, was diese Varianten auszeichnet oder besonders macht.

1)   Das klassische Schach

Was könnte man nun über das klassische Schach sagen, was der Leser nicht schon längst wüsste? Zunächst einmal ist allein schon der Begriff „klassisches Schach“ für einen wahren Schachspieler bereits ein klein wenig eine Beleidigung oder Herabwürdigung. „Wieso der Zusatz „klassisch“? Das Spiel heißt Schach, wird seit vielen Hundert Jahren so gespielt  und ist das einzig vernünftige auf Erden, alles andere ist Humbug.“ Klassisch deutet also bereits an, dass es irgendetwas anderes gibt, etwas, nennen wir es „modernes“, und was sollen wir bloß mit all diesem modernen Zeugs?

Woran haben wir uns also alle als Schachspieler gewöhnt, und, trotz aller Gewöhnung, niemals weder in Frage gestellt geschweige denn über Alternativen nachgedacht? Wenn man heute ein Turnier spielt, so ein richtiges Turnier, womöglich dazu eine Reise tut, dann ziemt es sich, für einen richtigen Schachspieler, seinen Computer und seine geballte Software dabei zu haben inklusive der eigens angelegten Datenbanken und mit seiner höchst persönlichen Arbeitsweise, welche man sogar heute in Kursen ausarbeiten kann, um möglichst ökonomisch und effizient herauszubekommen, wo sich die Schwachstelle eines bevorstehenden Gegners befinden könnten oder überhaupt, mit welcher Eröffnungsunterspezialvariante man vielleicht einen gar hochkarätigen Gegner aufs Glatteis locken kann, auf welchem dieser hoffentlich bald einkracht.

schachseminareanzeigeSo ist wohl jeder vermutlich stolz, wenn es ihm gelingt, in den 18 Stunden nach Bekanntwerden des kommenden Gegners, daheim die in Bälde anstehende Partie möglichst haargenau und originalgetreu in der Vorbereitung auf dem Brett gehabt zu haben, und dies, wenn denn machbar, mindestens einen Zug weiter als der Gegenüber und, noch viel wichtiger, mit einem von Houdini ausgewiesenen Vorteil, dessen technische Verwertung man  zwar nicht exakt bestimmen kann, aber doch im Wesentlichen die anstehenden Motive kennt, die einem den Punkt bescheren werden oder, falls  man denn Schwarz hätte, den Gegner alsbald überzeugen, dass die Fortsetzung der Bemühungen, angesichts der Ausgeglichenheit der Lage, aussichtslos ist und er doch bitte schön mit Remis übereinkommen möge.

All dies scheinen Dinge der modernen Praxis zu sein, mit welchen man höchst persönlich übrigens schon lange vor  der Erfindung sowohl von Datenbanken als auch sonstiger Schachsoftware als auch des Schach960 so absolut rein gar nichts am Hut haben wollte. Dennoch muss man sich ja den Zeichen der Zeit fügen, ihnen folgen, sich mit ihnen arrangieren,  auf irgendeine Art, um nicht permanent von den Gegenspielern vorgeführt zu werden oder einfach nur einen kontinuierlichen Abbau der eigenen Wertzahl beobachten zu müssen – oder halt das geliebte Spiel beizeiten aufgeben. Das heißt: man ist gezwungen, sich ein wenig mit „Eröffnungstheorie“ zu beschäftigen, ob man nun will oder nicht – oder, als einzige Alternative, sich mit meist minderwertigen Stellungen abfinden.

Die Abneigung gegen Vorbereitung betrifft anscheinend dennoch die weitaus in der Minderheit befindliche Anzahl der sich als „echte Schachspieler“ bezeichnenden, also derer, die von höheren Ehren träumen. Diese wenigen beschäftigen sich dann in ihrer speziellen Art der Vorbereitung, wenn überhaupt mit etwas, mit der Fragestellung: „Wie kann ich nur der Vorbereitung des Gegners aus dem Wege gehen?“ Dies ist natürlich die anerkannte Attitude der Faulen, denn diese „Arbeit“ kann man sogar am Brett erledigen: „Er rechnet bestimmt mit Caro-Kann. Also spiele ich heute Sizilianisch.“ Ein spontaner Gedanke – und die Stunden der Vorbereitung des Gegners sind für die Katz. Einziger Nachteil: man befindet sich vielleicht selbst auf ungewohntem Terrain.

Falls man sich aber auf die eigene Hauptvariante und damit die Vorbereitung einlässt, so kann man überzeugt sein, hat der sich vorbereitende Gegner einen ganz festen und weiter oben beschriebenen Fahrplan ausgearbeitet, mit welchem er einen aufs Kreuz legen möchte. Und bitte, wer außer Carlsen oder Ivanchuk, wüsste nicht von Schwächen im eigenen Eröffnungsrepertoire und fühlte sich, den beiden gleich, in der Lage, diese  OTB („over the board“) zu lösen,?

Was also einen wahren Schachspieler auszuzeichnen scheint ist, sich auf heimischem Terrain sicher und geborgen zu fühlen und dieses Terrain so schnell wie möglich zu erreichen und es niemals wieder zu verlassen. Man sucht nicht etwa neue Stellungsbilder sondern man sucht sehr speziell nach Mustern, die, sobald erkannt, einem das Denken abnehmen oder zumindest erleichtern. Am liebsten würde man vielleicht,  falls es denn möglich wäre, ein und dieselbe Partie drei, vier Mal spielen und gar nicht mehr denken müssen – gerne auch öfter, sofern das Ergebnis passt. Entzieht man diesem Spielertyp den festen Boden, so fühlt er sich unsicher, ängstlich, vielleicht sogar verloren – im doppelten Wortsinne.

Natürlich, so wird jeder richtige Schachspieler einwenden, gibt es a) noch immer genügend Stellungen, in denen die Entscheidungsfindung harte Arbeit erfordert, gibt es b) diese eine Partie, die man immer wieder spielt, mit immer dem gleichen, erfreulichen Ausgang nicht, gibt es noch immer so viele Fallstricke und Neuigkeiten, die einem eine jede weitere Partie als wahres Abenteuer erscheinen lassen, hat man c) mit dem Gedächtnis zu kämpfen, welches einen hier oder da im Stich lässt und den „richtigen“, eigentlich längst zuvor zu Hause – mit Engines und Datenbanken, versteht sich – ausgearbeiteten Zug in dem Moment vergessen lässt und es ihn partout nicht in die Erinnerung zurückzuholen gelingt, und hat man d) doch gerade in letzter Zeit vermehrt gesehen, wie die Weltelite auch schon im Frühstadium der Partie Neuerungen aufs Brett zaubert und e) ist doch unser so heiß und innig geliebtes Spiel doch noch immer so unendlich kompliziert und hat uns f) nicht gerade in den letzten 10 Jahren vermehrt der Computer vorführen können, wie unendlich weit wir selbst von einer endgültigen Wahrheit entfernt liegen und wie nahe man ihr, mit wohl bald 1 Milliarde berechneter Stellungen pro Sekunde, in einer fernen Zukunft als Mensch vielleicht kommen kann? Da ist doch noch lange kein Ende in Sicht?

Und doch sollen hier durchaus die Schattenseiten etwas mehr betont werden: warum nur, meint man, sich derartigen Einschränkungen aussetzen zu müssen, als Betreiber dieses Spiels? Sicher gilt für jeden Einzelnen: „Ja, die Stellung kenne ich, hatte ich schon vor 10 Jahren mal, da weiß ich wie man es spielt und kenne die Motive. Und das hat X (Weltklasse) gegen Y (erweiterte Weltklasse) 1996 gespielt und damals schon nachgewiesen, dass Weiß in dem Endspiel einen klaren Vorteil hat.“ Und man fühlt sich so richtig toll, vor allem, wenn man dies im Dialog – vielleicht direkt nach einer Partie, gegen einen Ranghöheren, nachdem man ihm das Remis abgeknöpft hat – verbreiten kann und vielleicht den Kiebitzen ein ungläubiges Staunen abringen und diese sich zuflüstern lassen : „Wow, was der Mann so alles weiß. Das muss ja ein toller Schachspieler sein.“ Es macht einen stolz und man hat das gewünschte Ergebnis herausgeholt. Man fühlt ich wohl, es macht Spaß, wie sollte man das leugnen? Dennoch bleibt die Frage: Was hat man in Wirklichkeit geleistet? Wissen angeeignet, angehäuft sogar, Wissen abgerufen. Mit (möglichst) wenig Aufwand am Brett – ja doch, aber viel zu Hause, ok – zum Erfolg.

Wie würde diese so heil und gewohnt erscheinende Schachwelt nur ausschauen, wenn einem dieses entzogen wäre, wenn das konkrete Wissen nichts mehr wert wäre, aber nicht etwa einseitig, sondern auf einen Schlag beidseitig? Jeder Einzelne hätte die Sorge, plötzlich ohne Netz und doppelten Boden agieren zu müssen, sich den gefährlichen Fahrwassern, mit Minen durchsetzt, im Sturm dazu, hilflos aussetzen zu müssen, jeder für sich würde vielleicht befürchten, müssen, schon frühzeitig einen gänzlich falschen Plan zu verfolgen, alsbald in hilfloser Stellung kapitulieren zu müssen, nur könnte er sich möglicherweise auch damit beruhigen, dass es dem Gegner nicht anders erginge, dennoch gäbe es sicher (anfangs) eine gefühlte Unsicherheit. All dies ist nämlich beim...

2)   Schach 960

...der Fall. In diesem Spiel muss man nun wirklich schöpferisch tätig werden, hier muss man ab dem ersten Zug versuchen, eine Lösung zu finden, hier genügt es nicht mehr, ein irgendwo gespeichertes Wissen abzurufen, hier ist mehr erforderlich als reine Kenntnisse einer Variante gefolgt von unwiderstehlicher Technik, hier ist man auf sich allein gestellt: finde in dieser Stellung den besten Zug, den Zug, der mit einem Plan verbunden ist, den nur du allein hier und heute und in dieser Stellung am Brett ausgeheckt ist, der vielleicht einzigartig in der Schachgeschichte ist, der die Figuren und Bauern so in Einklang bringt, dass sie den Gegner einschnüren auf eine Art, wie es noch nie da gewesen ist, die einen Mattangriff einleiten in einer Form,  wie es die Welt noch nicht gesehen hat.

Hier gibt es quasi gar keine Eröffnungstheorie, zumindest nicht konkrete, die einem die Vorschrift machen möchte, dass dies der richtige Zug sei und der von einem selbst gewählte zwar schon, und dies vor langer Zeit mal, ausprobiert wurde, dass sich aber herausgestellt hat, dass Schwarz hier einfach keine Ergebnisse holt und dass die Stellung demzufolge schlecht ist. 

Selbst wenn man nämlich im Schach 960 in einer ganz bestimmten Grundstellung herausgefunden hätte, dass ein bestimmter Aufbau sich absolut nicht empfiehlt, so hätte es fast gar keine Bedeutung, da man diese Stellung nämlich in den nächsten drei Jahren nicht aufs Brett bekäme und falls sie denn doch aufträte, man die Schattenseiten dieses Aufbaus längst vergessen hätte – falls man denn selbst oder der Gegner  überhaupt auf den Gedanken käme, sich auf diesen einzulassen.

Die an dieser Stelle in gewisser Weise betriebene Werbung für das Spiel soll hier keineswegs verhohlen werden. Da man selbst jede Gelegenheit wahrnimmt, um ein Turnier zu spielen, hat man natürlich hier oder da auch schon ein paar Erfahrungen gesammelt, und möchte gerne ein wenig aus der Praxis plaudern.

So stellt man beispielsweise fest, dass es an vielen Brettern oftmals -- nach einer ordentlich Anzahl von Zügen – nach einer ganz normalen Schachstellung aussieht. Man könnte also nicht mehr sagen, ob diese Stellung nun aus einer Schach 960 Grundstellung (von denen die klassische eine von 960 ist) entstanden ist, oder ob sie aus der uns so vertrauten Grundstellung entstanden ist.

Weiteres Philosophieren fördert zunächst die Fragestellung zutage, ob dies zur Ursache hat, dass die Figuren in diesen Positionen, in denen sie sich dann befinden wirklich am besten stehen oder ob der Führer der Steine lediglich sie dorthin geführt hat, um endlich, endlich auf vertrautem Terrain zu landen? Die Antwort? Bleibt hier zunächst offen.

Ganz sicher gibt es jedoch Charaktere, die, sobald mit der einzigen „problematischen“ Regel, nämlich der Rochaderegel, einmal vertraut geworden, so bald als möglich selbige anstreben. Sobald nämlich der König und der Turm wenigstens die vertrauten Plätze eingenommen haben (denn dort LANDEN sie immer, egal, wo sie sich vorher befanden; bei der c-Rochade, wie es heißt, der Turm auf d1, der König auf c1, bei der g-Rochade der Turm auf f1 und der König auf g1), fühlt man a) den eigenen König halbwegs sicher und b) sich selbst, da nämlich wenigstens zwei Figuren schon mal so stehen, wie man es gewohnt ist.

Diese Veranlagung führt natürlich dazu, dass sich schon früher auf dem Brett vertraute(re) Stellungsbilder ergeben (können).

Klar gibt es die andere Ausprägung des Spielertyps ebenfalls. Dieser, der sich so ungern Vorschriften machen lässt und noch mehr das El Dorado genießt, welches sich ihm hier bietet: endlich mal kann man seiner Kreativität völlig freien Lauf lassen, ohne nachher festzustellen, dass diesen Versuch schon längst irgendjemand vor einem gestartet hat – und kläglich gescheitert ist, wie einem nämlich entweder der Gegner am Brett beweist oder spätestens bei der „Heimnacharbeit“ die Datenbank verrät.

Für diesen Spielertyp mag die „Überführung“ in eine vertraute Stellung gar kein erstrebenswertes Ziel sein, im Gegenteil, können die Strukturen, Königsstellung, Figurenverteilung und Aufstellung, Bauernskelett, Angriffsmotive bis tief ins Mittelspiel, gar ins Endspiel hinein, einzigartig bleiben.

Insofern gäbe es absolut keine klare Antwort auf die Frage, ab wann denn eine Schach 960 Stellung von einer klassischen, aus dieser einen, so endlos ausgearbeiteten, beinahe schon tristen, entstandenen nicht mehr zu unterscheiden sei. Dies hinge nämlich nicht allein von den Spielertypen ab – wie oben bereits ausgeführt – sondern zusätzlich von der tatsächlich beim Würfeln entstandenen Ausgangsstellung.

Falls man hier noch ein Beispiel hören möchte: eine in der Ecke platzierte Dame beispielsweise, wie einige praktische Beobachtungen ergaben, bleibt oftmals sehr lange in der Ecke stehen. Irgendwie mag man die kleinen Züge mit ihr nicht (anders als in der klassischen Grundstellung, wo Dd1-c2, Dd1-d2, Dd1-e2 als absolut „normal“ angesehen werden), und lange Züge mit ihr sind wohl oftmals ausgeschlossen beziehungsweise erscheinen sie nicht ratsam, möglicherweise, da, aufgrund ihrer Eindimensionalität (wohin sollte sie aus der Ecke schon ziehen?) vorhersehbar und insofern meist unterbunden.

Möglich also, dass eine Grundstellung mit einer Dame auf einem Eckfeld eine viel längere „Überführungsdauer“ hätte. Möglich aber zugleich, dass dies nur deshalb der Fall ist, da die Spieler noch nicht mit derartigen Positionen verständig umzugehen wissen.

Kurzum: es bietet sich eine gigantische, unerahnte Vielfalt des Schachs, an Motiven, an Manövern, an Angriffsmöglichkeiten, an Eröffnungszügen, an Verteidigungen, an frühzeitigen Überfällen – denn niemand könnte leugnen, dass nicht das Schäfermatt oder das Seekadettenmatt einmal in der eigenen Karriere eine besondere Faszination ausübte – oder überhaupt an ungewöhnlichen Zügen, die auf den ersten Blick so wenig vertraut scheinen, aber bei genauerem Hinsehen eine tiefe Idee zutage treten lassen.  Und immer, immer, immer wird es mit den gleichen, uns doch ans Herz gewachsenen, eigenen 16 Steinen geschehen, die immer das gleiche Aussehen und immer die gleiche Gangart behalten.  Urplötzlich nur wären sie zu ganz anderen Dingen fähig, wie beispielsweise die Springer, die doch stets, wie wir gelernt haben, nach f3 und c3 gehören, weil sie von dort aus den maximalen Einfluss  aufs Zentrum haben, wie man, fast schon gähnend, einem Anfänger bekannt gibt, dabei könnten sie doch so viel mehr, einmal frei gelassen, entbunden von ihrer faden Ausgangstellung schön brav zwischen Turm und Läufer eingekesselt, wobei ja der Springer diejenige Figur ist, die sich am wenigsten einkesseln lässt...

Es bleibt Schach, ohne jeden Zweifel. Nur ist es ein Schach losgelöst von den so starren Vorschriften, die man, bereits laut Dr. Siegbert  Tarrasch vor bald 150 Jahren, doch zunächst zu erlernen und beherzigen hätte,  ehe man eine einzige Figur anfasst.

3)   Gegenüberstellung

Nun, die Gegenüberstellung hat ja bei der Präsentation der beiden Spiele bereits im Wesentlichen stattgefunden.

Hier noch einmal zusammengefasst: das eine, das klassische Spiel, ist mehr und mehr zum Wissensspiel geworden.  Fragt man Spitzenspieler heute, wie sie ihre Elozahl anheben können, wie sie Fortschritte erzielen können, woran sie arbeiten müssten, um besser zu werden, erfolgreicher, so hört man sicher mehr und mehr diese Antwort: „Ich muss an meinem Eröffnungsrepertoire arbeiten.“ Die Motive sind bekannt, die Bauernstrukturen beherrscht man, taktisch ist man „on top“, strategisch einwandfrei, auch die Technik stimmt so weit, das hat man sich alles längst angeeignet. Nun ist nur noch die Frage: wie bekomme ich eine vorteilhafte Stellung? Es geht fast nur auf diesem Wege: Eröffnungen studieren, die neuesten Partien und Trends kennen, „state of the art“ in seinen Spezialvarianten sein – und am besten noch die eine oder andere Überraschung parat halten, die man in Heimarbeit entdeckt hat und die man sich für die eine ganz wichtige Partie aufhebt.

Das andere, das Schach 960, ist ein Geschicklichkeitsspiel, ein reines Geschicklichkeitsspiel, bei welchem man mit konkretem Eröffnungsstudium und demnach reiner Wissensaneignung so gut wie gar nichts erreichen kann. Man braucht alles, was einen guten Schachspieler – vorher wie nachher – auszeichnet. Außer dem gigantischen Wissensapparat.

Was hat derjenige denn (selbst) geleistet, der in einer klassischen Schachpartie ‚in der Vorbereitung die Schwachstelle des Gegners gefunden hat, der sich akribisch eingearbeitet hat in die Stellung, der alle Vorbildpartien studiert hat, zunächst des Gegners zu dieser Stellung, dann die der besten Spieler, die sie auf dem Brett hatten? Er hat den Meister vielleicht besiegt, nur hat er in dem Moment lediglich Wissen angehäuft – und es am Brett abgerufen. Je mehr er (oder: jeder) davon verfügt, desto besser wird er spielen. Mehr Wissen = höheres Rating, so lautet die schlichte Formel, gerade heutzutage, da die Datenbanken in Sekunden die besten Fortsetzungen mitsamt Ergebnissen heraussuchen.

Dem gegenüber steht ein Spiel, wo man sich nicht auf dieses Wissen berufen kann. Wissen gibt es eigentlich nicht, es gibt nur grundlegendes Verständnis oder auch, konkreter gesagt, eigene, kreative, Planfassung, Antizipation, Motiverkennung, Strukturerkennung, strategisches Verständnis und nicht zuletzt exakte Variantenberechnung in dieser ganz speziell vorher nicht bekannten, vielleicht nie dagewesenen Stellung.

Wissensspiel gegenüber Geschicklichkeitsspiel: Welches hätte da den höheren Stellenwert?

4)   Der Nachwuchs

Ganz wichtig erscheint einem prinzipiell die Entwicklung des Schachs. Wie kann man diesen doch so wunderbaren Sport erhalten, wie kann man dem Spiel vielleicht eine höhere Verbreitung verschaffen, wie kann man neue Kräfte nachziehen, wie kann man allgemein die Aufmerksamkeit in der Bevölkerung erhöhen? Es können nicht die Betreiber des Spiels tun, nicht die, die schon seit Jahrzehnten dabei sind, die auf ihrem Level spielen, mal besser, mal schlechter, und sich über die 50 DWZ Punkte freuen oder den 60 verlorenen nachtrauern. Nein, all dies sind eingefleischte Mitglieder, sie betreiben das Spiel so oder so, mal hört einer auf, sicher, aber dafür kommt auch einer zurück, der die verloren geglaubte Liebe wieder entdeckte.

Nein, entscheidend ist zum Erhalt des Spiels die Gewinnung von Nachwuchs. Da darf man sehr wohl anmerken, dass unsere Zeit dies nicht ganz einfach macht. Zu einfach und schnell sind andere Spiele verfügbar und erlernbar, kann man Erfolgserlebnisse erzeugen, tun dies die Konsolen- und Spielehersteller, und der Computer erst bietet ohnehin schon eine so bunt erscheinende Vielfalt, dass man, Hand aufs Herz, nicht einmal für sich selbst garantierten könnte, je bei diesem Spiel Schach gelandet zu sein, wenn in der eigenen Jugend derart viele Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten.

Das Problem bei der Heranführung von Jugendlichen, überhaupt von Neueinsteigern, ist es also, sie bei der Stange zu halten. Der Weg zu den Erfolgserlebnissen ist weit und steinig. Jeder – denn, wenn man herumfragt, so stellt man fest, dass so gut wie jeder die Regeln kennt – war irgendwann mal begeistert vom Anblick dieses Brettes und dieser Figuren und wollte – möglichst schnell – hinter die Geheimnisse kommen. Nur geht es eben nicht schnell. Man lässt sich vielleicht die Mattsetzung mit Turm plus König gegen den König erklären, versteht sie vielleicht sogar, beherrscht sie, nur fragt man sich zugleich, wie jemals eine derartige Stellung entstanden sein sollte, bei dieser Vielzahl an Figuren und Möglichkeiten?

Man könnte nun auch sehr ausgiebig über diese allgemeine Nachwuchsproblematik referieren, nur sollte dies ja hier gar nicht Thema werden. Wenn, ginge es um die Unterscheidung bei der Nachwuchsgewinnung für diese oder jene Spielart. Und hier eine durchaus wichtige Beobachtung: Kinder sind diesem Spiel gegenüber meist sehr fröhlich-freundlich-begeistert, jedenfalls aufgeschlossen. Das sollte man durchaus beachten als gewichtiges Argument. Was könnte nun diese spontane und intuitive Anziehungskraft auslösen?

Hierbei stößt man auf folgende Überlegung: den Kindern ist diese starre und immergleiche Ausgangsstellung irgendwie wirklich langweilig.  Es drängt sich doch auf, dass man irgendetwas anderes, schönes mit diesen Figuren anfangen kann als sie nur auf diese Felder zu stellen und sich dann vom Trainer erklären zu lassen, dass erst die Springer und dann die Läufer und dass sie doch ja keine zwei Mal mit einer Figur ziehen und dass sie diesen Zug machen MÜSSEN und jenen auf gar keinen Fall DÜRFEN. Da fühlt man sich so eingeschränkt, so reglementiert, so angeödet, sofern man einen Fehler nämlich wiederholt nur, weil man sich auf der Suche nach einem Ausbruch aus diesem so eng geschnürten Korsett befindet.

Falls also die Figuren irgendwie anders stehen würden, würde man als Kind als Erstes mal seinem Trainer eine Nase drehen: „Ätsch, du mit deinen immer so klugen Lehren, jetzt entscheide ICH, wohin mein Springer geht und wie viele Bauern ich vorrücke auf welcher Seite des Brettes, und immer habe ich eine Absicht und eine Idee dahinter, von der du mir auf einmal absolut gar nicht mehr erklären kannst, was daran falsch sein soll.“

Den Kindern macht es also Spaß, dafür kann man fast garantieren, weil es diesen Ausbruch aus den festen Gefügen ermöglicht. Somit könnte man doch recht fest davon ausgehen, dass man eine größere Chance hätte, neue hinzuzugewinnen oder die einmal beigetretenen länger oder gar für immer dabei zu behalten?

5)   Das stärkste Gegenargument: zugleich das stärkste Pro

Ein ganz wichtiges, angetroffenes Gegenargument war dieses: „Die Ranglisten bleiben doch eh immer gleich. Der Elo-Favorit gewinnt das Turnier, egal, ob im klassischen Schach oder im Schach 960. Wozu sollten wir es denn also spielen? Meine eigenen Chancen werden nicht besser, nur weil wir die Grundstellung auswürfeln und einen Zufallsparameter vorsätzlich einführen.“

Diesem Argument kann man nur so begegnen: falls sich die Ranglisten tatsächlich 1:1 übertragen ließen, so wäre es zunächst ja offensichtlich gar kein Problem, diese Schachvariante zu spielen. Man hätte nichts zu fürchten, keinen Absturz und keine Blamage, genau so wenig, wie man sich einen plötzlichen Leistungssprung erwarten kann, nur, weil man endlich mal das Glück auf seine Seite gezogen hat. Es ist eben Schach und wer das Spiel besser beherrscht, hat die besseren Chancen. So ist es und so war es schon immer. So war es sogar auf eine Art beabsichtigt. Man wollte sozusagen das ultimative Geschicklichkeitsspiel erfinden, auf dem sich Menschen mit den exakt gleichen Voraussetzungen messen können.

Nur: inwiefern wäre davon das Vergnügen eingeschränkt, dass es, egal, ob diese oder jene Version gespielt würde, immer die gleichen Spieler vorne landen würden, die anderen gleichen am Tabellenende? Hätte man davon etwa für weniger Unterhaltung gesorgt, für weniger Genugtuung bei der Ausübung? Hier nun ein klares Veto: das Vergnügen könnte sogar höher gewesen sein, selbst wenn man bei de Siegerehrung wieder nur dem Großmeister Spalier stehen muss und ihm artig den Applaus spenden. Er war halt besser. Ich muss weiter üben. Oder fehlt mir gar das erforderliche Talent?

Das Gewicht dieses Gegenarguments ist also sehr bescheiden, im Gegenteil, man könnte es als „aufgewogen“ bezeichnen.

6)   Warum schreckt man intuitiv zurück?

Das intuitive Zurückschrecken vorm Schach 960 ist weiter oben schon angesprochen: man hat Angst, sich blamieren zu können. Egal, wie gut oder schlecht man eine bestimmte Stellung im klassischen Schach bisher behandelt haben mag: immerhin kannte man sie und hat sie angestrebt. Dieses Gefühl verleiht einem Sicherheit. Die Grundstellung ist aufgebaut, nun legt man los. Der Bauer vor, e2-e4. Und egal, ob Sizilianisch, Französisch oder Italienisch aufs Brett kommt: immer hat man eine Zugabfolge,  die man so runterspulen kann. Auf einige Varianten freut man sich regelrecht, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass man da sogar gegen gute Gegner hin und wieder gepunktet hat, vor anderen sorgt man sich, aber doch hat man immer eine Idee. Man meint, sich (irgendwie) auszukennen.

Bei einer Schach 960 beliebigen Grundstellung wäre einem dieses Sicherheitsgefühl entzogen. Wohin nur mit dem in der Ecke stehenden Springer und soll ich nun meine Flügelbauern aufziehen, weil sich die Läufer dahinter befinden oder soll ich doch lieber die Zentrumsbauern vorrücken, wo sich bereits ein Turm dahinter befindet? Nichts und niemand, auf was man sich stützen kann, keine Vorkenntnisse, die man abrufen könnte. Das verschafft einem eine Unsicherheit, gegen die man nur schwerlich etwas tun kann. Abgesehen davon: kaum ist es einem gelungen, eine eigene Idee zu entwickeln, schon stellt man fest – aufgrund einer bisher unbekannten Art der Überforderung --, dass der Gegner entweder mit dessen eigenen Zügen das Vorhaben torpediert oder gar, fast noch häufiger, einen mit dessen Plänen zu Reaktionen zwingt, die der Ausführung des eigenen Plans im Wege stehen oder sie unmöglich machen. Nun wird es aber richtig kompliziert!

Ein sehr häufiges Gegenargument ist übrigens dieses hier: „Ich kenne ja die Regeln gar nicht.“ Sicher würde man es gerne als „faule Ausrede“ abtun. Nur hilft einem das überhaupt nicht. Denn: gesagt ist gesagt und gedacht ist gedacht und so empfunden ist so empfunden. Der Mensch spielt es einfach nicht und ihm ist jede faule Ausrede grad recht. Nun muss er nicht weiter nachdenken und etwa neue Argumente zusammen kratzen. „Kenn ich nicht, spiele ich nicht.“ Ein bisschen ist es wie das Sprichwort: „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht.“

Es bietet sich natürlich an, gegen diese Scheu etwas zu tun, eine Stellung auszuwürfeln und ihn zum Nachdenken und Ziehen auffordern. Vielleicht würde er es sogar für dieses eine Mal tun. Nur ist es denkbar, dass er gleich die erste Partie – und wen wunderte es – sang- und klanglos verlöre. Nun hätte er ein neues Gegenargument gefunden. Möglich sogar, dass das Unterbewusstsein ihm diesen kleinen Streich gespielt hat: „Nein, das spiele ich nicht, weil ich es nicht kenne und nicht kann. Uupps, die erste Partie gleich verloren.  Siehste, wusste ich doch: es macht keinen Spaß.“ Er hat also, aus Abneigung, ohne sie näher begründen zu können, gleich mal verloren, um sich die Gegenargumente selbst zu liefern.

Eine Unterstellung ist es, dass Befürworter dieses Spieles nur zu faul zum Lernen seien beziehungsweise dass sie die Hoffnung hegten, dass man mit ein bisschen untergejubeltem Würfelglück vielleicht auch mal einen 2600er aufs Kreuz legen kann. Überhaupt scheint es so zu sein, dass man es etwas mehr für ein Würfelspiel hält und dies dem wahrhaftigen Schachspieler verpönt ist. Wozu Glückselemente künstlich hinzufügen? Wir haben sie mühevoll entfernt, damit auch ja immer... ja, warum eigentlich? Damit auch ja immer der Elofavorit den 1. Platz wegschnappt? Vielleicht würde ja objektiv gesehen – zwecks der doch sicher angestrebten größeren Verbreitung –, ein wenig mehr Zufall dem Spiel guttun, nur muss man fast ohne Bedauern sagen, dass es mit der Einführung des Schach 960 nicht gelingen dürfte.

Denn, so lautete auch hier ein aufgeschnapptes Gegenargument, dass sich ja doch, falls man die Startrangliste und die Endtabelle miteinander vergliche, die Elohöheren mit der gleichen Verlässlichkeit auf dem Siegerpodest wieder fänden wie in der herkömmlichen Version unseres Spieles.  Nun, dies kann man schlichtweg nicht als Gegenargument akzeptieren. Die Abneigung ist da und wer sich für ausreichend rational hält (und das tut man doch als Schachspieler?), zaubert blitzartig irgendein Argument aus dem Hut. Und, einmal einen derartigen Gedanken ausgeheckt, fühlt man sich ihm verpflichtet.

Dennoch trifft man natürlich bei den hier und da persönlich angestellten Umfragen ebenso spontan auf Befürworter oder, in der etwa gleichen Frequenz, auf solche, die das Spiel bereits gespielt hätten und es ihnen durchaus Freude bereitet hätte. Nun hat man persönlich das „Hauptgegenargument“ gefunden: der gemeine Mensch setzt sich einfach weniger mit Innovationen auseinander. Was er stattdessen tut: ein wenig – mit Verlaub – das, was alle Anderen auch tun. Sie reagieren auf die vorhandenen Angebote. Dort ist ein Turnier, hier ist ein Turnier, hier spiele ich online, da live im Schachclub. Und was wird dort angeboten? Klassisches Schach.

Dies führt direktemang zu dem tatsächlich aus der eigenen Beobachtung kombiniert mit bemühtem sinnvollen Nachdenken zu dem wirklich als hauptsächlich erachteten Gegenargument: es geht darum, wie man überhaupt anfängt.  Hierzu im Folgenden:

7)   Die kleinen Umsetzungsprobleme: ein paar Möglichkeiten zum Finden einer Ausgangsstellung

Falls man denn nun auf ein gewisses Wohlwollen trifft, so weiß man also noch lange nicht, wie man anfangen soll. Fällt diese Stellung nun vom Himmel? Woher nehmen, wenn nicht klauen?

Hier kann man zunächst ein paar Vorschläge unterbreiten, die allesamt ohne besondere Vorkenntnisse oder Mühen durchführbar sind, die dennoch von jedermann sicher erst einmal akzeptiert und hingenommen würden, sofern man einfach nur mal rasch eine freie Partie Schach 960 zu spielen gedächte.

Vorschlag 1 (und mit den Kindern hin und wieder praktiziert, stets mit einer gewissen Gaudi verbunden): Einer hält sich die Augen zu, ein anderer tippt mit den Fingern nacheinander auf die verfügbaren Ausgangsfelder, mit der entsprechenden Figur in der Hand. Ratsam (eigentlich erforderlich, sonst führte es nur zu ungewollten Komplikationen) ist es dabei, zunächst die Läuferfelder zu finden.

Man beginnt also damit, einen Läufer in die Hand zu nehmen und über die schwarzen Felder zu tippen, möglichst, ohne sie dabei zu berühren, denn das Geräusch könnte verraten, wo sich der Finger gerade befindet. Man deutet also nur auf die Felder in einem gewissen Rhythmus. Der mit den verschlossenen Augen sagt irgendwann „Stopp“. Damit wäre das Ausgangsfeld gefunden.

Im Anschluss wird der zweite Läufer genommen und über die weißen Felder getippt, bis zum „Stopp“. Nun sind die Läufer platziert. Für die Mathematiker könnte man dabei zugleich die Anzahl der möglichen Stellungen mitberechnen (auf dass man mit der Methode auch ja alle 960 „erwischt“): hier sind es 4 Mal 4 Möglichkeiten aus (4 Felder für den ersten Läufer, danach 4 mögliche Felder für den zweiten Läufer). Das ergibt 16, somit gibt es 16 voneinander abweichende Läuferpositionen.

Nun sind noch 6 Felder frei. Über diese tippt der eine nun, mit einem Springer in der Hand, um diesen zu platzierenDer andere bestimmt mit dem „Stopp“ das Ausgangsfeld. Danach folgt der andere Springer. Hier sieht es nun so aus, als ob es 6 *5 = 30 Möglichkeiten gibt. Dies täuscht aber, da es bei den Springern gleichgültig ist, mit welchem man anfängt. Daher dividiert sich diese Zahl durch 2. 30 : 2 = 15. Es gibt also 15 verschiedene Springerpositionen. Nun hätte man bisher 16 * 15 = 240 verschiedene Grundstellungen für die Läufer UND Springer.

Zuletzt wird die Dame platziert, für welche nun noch 4 Felder zur Verfügung stehen. Das ergibt nun die ominösen 4 * 240 = 960.

Denn: für die verbleibenden Turm, Turm, König bleibt immer nur die eine, von Regel her definierte, Möglichkeit: der König wird auf das mittlere der drei freien Felder platziert, die Türme flankieren ihn, damit das Rochaderecht erhalten (und verständlich) bleibt. Dies zumindest Bobby Fischers Idee, die sich so weit „durchgesetzt“ hat.

Dies eine Methode (natürlich auch zu zweit durchführbar, wobei ohne Zeugen eben derjenige mit den nicht verschlossenen Augen die Chance hätte, sich eine Ausgangsstellung „zurechtzulegen“, ohne dabei überführt werden zu können), die ohne jegliches Zusatzmittel durchführbar ist. Deshalb an erster Stelle genannt. Egal, wo man sich befindet: eine Partie Schach 960 ließe sich immer durchführen.

Vorschlag 2:

Der Vorteil bei diesem, dass beide (alle) es sehenden Auges tun können, der winzige Nachteil, dass man zusätzlich ein Utensil benötigt. Hier wäre es ein Zettel und ein Stift und ein wenig Geschick oder eine Schere (falls man nicht schon 8 Zettel vorbereitet hätte, die sogar wiederverwendbar sind). Man schreibt also alle Reihen – a bis h – auf und teilt diese 8 Einzelzettel ab (mit Geschick oder Schere). Nun muss man für die Läufer eine Trennung von Schwarz und Weiß vornehmen (a, c, e, g auf einen Haufen und b, d, f, h auf den anderen). Nun zieht man, je einen Zettel hier und einen dort. Somit hat man die Läuferpositionen.

Die restlichen 6 Zettel kommen auf einen Haufen und man zieht nacheinander Springer, Springer, Dame. Der Mathematik hätte man damit genauso Genüge getan (und alle 960 Möglichkeiten mit gleicher Wahrscheinlichkeit zugänglich gemacht) und man könnte direkt loslegen. Wie gesagt, für eine hoffentlich nicht gar so ferne Zukunft, wäre es denkbar, sich diese 8 kleinen vorgedruckten Zettel mit a bis h im Portemonnaie aufzubewahren und sich somit sämtliche Umstände komplett zu ersparen.

Für Variante 3 benötigte man einen Würfel. Man würfelt nun mit Halbierungen die Läuferpositionen aus (ebenfalls schon häufiger praktiziert). Falls man eine 1 bis 3 würfelt, ist es a oder c, falls eine 4 bis 6 ist es e oder g. Es war eine 3, also steht der Läufer auf a oder c, der nächste Versuch bestimmt die endgültige Position. 1 bis 3 ist a, 4 bis 6 ist c. Wiederholung dieses Teils für den andersfarbigen Läufer. Mit 4 Würfen hat man also garantiert diese beiden Figuren „zufällig“ aufgestellt.

Nun sind 6 Felder offen, dafür eignet sich ein Würfel. Von links nach rechts ist es die 1 bis 6, auf welcher der erste Springer platziert wird. Danach sind 5 Felder frei und hier kann man mit dem Würfel für nichts garantieren: ein Feld und damit eine gewürfelte Augenzahl liegen brach. Wenn man diese also würfelt (vermutlich eine 6 und dafür gibt es ja spezielle „Künstler“), so MUSS der Wurf wiederholt werden. Dies könnte also in der Theorie quasi endlos dauern, das der Nachteil dieser Variante. Jedoch dürfte es nach ein, zwei, manchmal drei oder vier Versuchen erledigt sein.

Vorschlag 4:

Es gibt bereits spezielle Uhren, die es einem ermöglichen, einen Zufallsgenerator anzuwerfen und eine Ausgangsstellung anzuzeigen. Falls diese eine weitere Verbreitung fänden (nun, in einem Schachclub genügte zunächst eine einzige), so wäre dieses Problem recht bald komplett erledigt.

Vorschlag 5:

Es gibt bereits Apps für das Handy, die eine Zufallsstellung „auswürfeln“. Runterladen und loslegen  (zum Beispiel bei http://www.androidpit.de/de/android/market/apps/app/com.os.chess960/Schach-960-Generator).

8)   Ein wichtiger Aspekt: womit beschäftigt man sich in der Analyse, Vorbereitung, Heimarbeit denn dann?

Hier muss man ja, als offensichtlich Werbung betreibender, selbst zugeben, dass es nicht ganz einfach wird. Sicher kann man seine gespielten Partien mit einiger Übung und Erfahrung oder, sofern es dann dazu käme, in richtigen Turnieren per Mitschrift, ansonsten aus dem Gedächtnis, zu Hause aufstellen, durchspielen, sich auf Fehlersuche begeben oder sich an der eigens gefundenen tollen Kombination ergötzen. Man kann regelrecht Analysen anfertigen, womöglich sogar eine Feinheit in der Eröffnung entdecken, die einem einen anständigen Vorteil schon frühzeitig beschert hätte, um sie dann ... äh, ja , richtig, wozu eigentlich?

Man hätte vielleicht diese Feinheit entdeckt, sicher, man wäre auch stolz auf sich und sein gewachsenes Spielverständnis, keine Frage, man würde sogar den tollen Trick seinem Schachfreund oder der gesamten ersten Mannschaft vorführen können, sicher, nur könnte man genau so sicher vorhersagen, dass man unter dem rein praktischen Aspekt nichts damit anfangen könnte. Denn: diese Stellung wird man in den nächsten dreieinhalb Jahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr aufs Brett bekommen – und wenn es denn danach doch geschähe, hätte man diese Feinheit garantiert längst vergessen – falls man die Stellung überhaupt wiedererkannt hätte.

Die weiter gehende Frage lautete dann natürlich, ob man sich überhaupt auf die Suche begeben würde? Nun, derartige Fragen müsste die Zukunft klären, sofern dieses Spiel denn die rosige, eigens vorhergesagte, nein, eigentlich beflügelte  Zukunft hätte, aber doch hätte man offen gestanden selbst Zweifel daran. Würde man tatsächlich versuchen, eine einzige der 960 möglichen Stellungen zu Hause in einer Art „Vorbereitung“ gut zu verstehen, zu können, zu kennen, um dann, nach deren Studium auf die nächste überzugehen, immer in der Hoffnung, irgendwann mal davon gezielt und speziell zu profitieren?

Hierzu zumindest ein intuitives Umfrageergebnis: alle bisher befragten und bei Schach960 angetroffenen – also in gewisser Weise Verfechter des Spiels – haben, so versicherten sie, noch niemals die Stellung 518 zugelost bekommen. Die 518, so muss man wissen, ist die eine (auch von Bobby Fischer nicht verwehrte) von uns nur allzu gut bekannte, die Grundstellung des klassischen Schachs nämlich. Nun wären ja, falls sie denn einmal herauskäme, eigentlich alle wieder gleichauf, bis zu dem Tage, wo der so herbeigesehnte Nachwuchs, ausschließlich über Schach 960 rekrutierte und ebenfalls ausschließlich diese Spielvariante ausübende, groß wäre und einem plötzlich bei einem Schach960 Turnier genau in dieser Ausgangsstellung Gegenübersitzende zwar das Schmunzeln bemerken würde, beim Aufbauen der Figuren,  aber ihm keineswegs dessen Ursache bewusst wäre – und er nach 20 Zügen, trotz des ihm ausgewiesenen Elo-Vorteils, Schachmatt wäre, ohne, dass der Mattsetzende mehr als eine Minute verbraucht hätte, und er dann, vermutlich mit dem noch immer nicht unterdrückten bald in Lachen übergehenden Schmunzeln, aufgeklärt würde: „Diese Stellung haben WIR früher ausschließlich gespielt.“ , und er dafür nur ungläubiges Staunen ernten würde. Ja, ja, die Zukunftsvisionen...

Man traf bereits die Frage an, ob es denn eventuell eines Tages spezielle Schach960 Kombinationsbücher auf dem Markt zu finde gäbe? Tatsächlich ist denkbar, dass neue Motive auftauchen, bereits (oder: vor allem) im Frühstadium der Partien, bei welchen die ungewöhnlichen, nie dagewesenen Figurenkonstellationen dafür sorgen, dass eines auftaucht, welches ganz offensichtlich (Beispiel: ein Läufer auf a1, ein Bauer auf b2: geht nicht im klassischen Schach) zuvor nie vorgekommen sein kann. Auch und fast selbstverständlich könnte es Stellungen geben, die gewissermaßen einer „Eröffnungsfalle“ gleichkommen (nur eben mit der Einschränkung, dass man es zwar goutieren kann, verstehen kann, mit der Zunge schnalzen vielleicht, bedauerlicherweise aber vermutlich nie selbst anwenden, weil es einfach nicht vorkommt, diese Stellung). Förderte diese Schlussfolgerung zutage: ja, es könnte spezielle Bücher geben.

Die Zukunftsvision wäre ja eigentlich sogar die, dass es eines Tages mal heißt, dass es unfassbar viele Bücher über nur eine sehr spezielle (die 518) gab und ansonsten NUR noch Bücher über das Schach 960, welches durch seine Vielfalt einfach zwangsläufig das klassische Schach hat ablösen müssen. „Speziell“ wären also nur die Bücher, die wir bisher in der Hand hielten.

Eine endgültige und zugleich befriedigende Antwort findet man persönlich auf die eingangs gestellte Frage also auch nicht. Vermutlich sollten sich Lehrbücher zunächst ebenso mit den elementaren Fragen beschäftigen. Dies sind die Prinzipien der Eröffnung (welche unbeeinflusst bleiben, nur eben kein so arg enges Korsett schnüren), Bauernstrukturen, Felderschwächen, offene Linien, Läuferpaar, Abwicklungen, Mattsetzungen und was es noch so alles gibt, sowie natürlich die elementaren Endspiele, die ebenso unverändert wichtig bleiben. Es findet sich also schon so Einiges, was gegenüber der klassischen Ausbildung unverändert bleibt. Konkretes Eröffnungsstudium jedoch (was nach eigener Schätzung und Beobachtung jedoch bei gereiften Spielern, vielleicht ab Elo 2000 etwa, durchaus bis zu 90% der derzeitigen Arbeit an der eigenen Weiterentwicklung ausmacht) entfällt fast vollständig. Durchaus ein negativer Aspekt, der jedoch weit aus mehr als aufgewogen wird von den zahlreichen Vorteilen. Außerdem müsste die Entwicklung erst einmal zeigen, wie sich die Beschäftigung mit dem neuen Spiel ausrichtet, sofern es denn zu einer weiteren Etablierung (oder möglichen Wachablösung) käme.

9)   Wie spielt man ein richtiges Turnier?

Nun, die bisher mitgespielten Turniere wurden stets nach dem gleichen Muster ausgetragen: irgendwann wird eine Stellung per Zufallsgenerator bestimmt, die Spieler begeben sich an die Bretter (dies geschieht wohl zuerst), dann verliest der Turnierleiter die Figurenpositionen, meist unter einigem Gelächter („Ach, die schon wieder“ oder „Hatten wir die nicht letztes Mal schon?“ oder „“), die werden, unter anhaltendem Gelächter, aufgebaut, und man legt los. Nur wie eigentlich?

Hier ergab eine Umfrage, dass es wohl die klügste Idee sei, auf den Spitzenspieler des Turnieres zu warten, wie er beginnt – und es ihm gleich zu tun. An dieser Stelle taucht bereits das erste kleine Problem auf. Man hat also die Chance, sich einen kleinen Vorteil zu verschaffen durch den Effekt des Abschauens?! Dies wäre ein doch erheblicher Unterschied zum klassischen Schach, wo man zwar ebenfalls dem besten Spieler über die Schulter schauen könnte, nur weiß man längst, wo die eigenen Erkenntnislücken in dessen Eröffnungswahl und Spezialvariante sind, so dass es garantiert nicht zu einem „Vorteil“ gereichen würde. Denkbar vor allem, dass er sich und der Gegner zugleich exakt auf diese Variante vorbereitet haben, also sie in der Heimarbeit vor der Partie zu Hause auf dem Brett hatten (dieser oder jener oder halt beide). Wo sollte man nun demgegenüber einen „Vorteil“ herausschlagen?

Nein, das Abschauen funktionierte nur im Schach 960. Man kann schauen, wie er, der Spitzenmann seine Figuren zu entwickeln gedenkt, wohin er rochieren könnte und so weiter. Nun stellt sich hier die Frage, ob man, seitens der Veranstalter, a) diesen Effekt überhaupt haben möchte und b) ob man ihn nicht vermeiden könnte?

Zu a) scheint mir recht klar, dass es ein ungewollter Effekt ist, den man lieber nicht hätte. Es gab ihn früher nicht (obwohl es scherzhaft manchmal so gesagt wurde, in Mannschaftskämpfen, an zwei benachbarten Brettern, bei denen die eine Mannschaft mit einem 1:1 zufrieden wäre: der eine könnte immer den Zug des Gegenübers kopieren, der andere wartet auf den Antwortzug – und spielt dann denselben; es funktioniert tatsächlich; auch das Ablaufen lassen der Uhr müsste im Idealfall keinen Nutzen bringen für die Partei, die der Symmetrie entweichen möchte), nun ist er aufgetaucht: was tun?

Hier wäre der einfache Vorschlag: an jedem Brett wird die Grundstellung einzeln und individuell ausgewürfelt. Warum nicht? Das wäre der Fischer-Gedanke, nur konsequent zu Ende gedacht. Alle starten in jeder Partie von verschiedenen Positionen aus. Sicher wäre dies zugleich sehr witzig. Überall, schon zu Partiebeginn, verschiedene Stellungen, so weit das Auge reicht?

Fürderhin gäbe es natürlich die Idee von Mannschaftskämpfen. Falls es einmal (und hoffentlich recht bald) eingeführt würde, so wäre auch hier der konsequente Gedanke, dass alle Bretter aus verschiedenen Stellungen starten. Damit könnte man vermeiden, dass man, dieser von dort oder jener von da, abschaut oder sich orientiert an dem, was einer der Gegenspieler oder einer der Mannschaftskameraden tut, wo und wie und wodurch sich vielleicht eine Partie oder Position günstig entwickelt, wo ein Problem auftaucht, welches man lieber vermeiden würde oder, gegebenenfalls, dem eigenen Gegner stellen könnte. Weiterhin aber, und vielleicht noch wichtiger, könnte man eine noch größere Vielfalt an Stellungen bestaunen im Verlaufe eines Kampfes, würde man nicht, wie früher, wieder einmal konstatieren können, dass der eine Mannschaftskamerad, natürlich, wie ihm zueigen , wie stets unvorbereitet in die Partie ging und ein weiteres Mal gegen die Sämisch-Variante im Königsinder kein Konzept findet, oder wie der andere in der immergleichen Ausgangsstellung seines geliebten Drachen ein weiteres Mal mit den bekannten Motiven durchdringt.

Rundherum also könnte es für viel hinzugewonnene Unterhaltung sorgen und für durchaus weit spannendere Kampfverläufe. Wie vielleicht nicht ganz hierhergehörig, aber doch nicht völlig unpassend, wurde ja an anderer Stelle bereits (vielfach) dafür plädiert, Mannschaftskämpfe nicht immer nach der gleichen starren Brettreihenfolge auszutragen, meist mit der Nummer 1 (vom Ranking) hier gegen die Nummer 1 dort, und die Nummer 8 gegen die Nummer 8, sondern, am liebsten alle Spieler in einen Hut und zufällige Paarungen ziehen (natürlich die Mannschaften in getrennte Hüte), so dass vielleicht mal die 8 gegen die 1 oder die 3 gegen die 5 kommt. Sofern zeitglich mit Schach 960 eingeführt: man hätte mit Sicherheit eine ganze Menge an Spaß und Unterhaltung, Spannung zudem, hinzugewonnen.

10)                    Ein paar Motive

Damit nicht alles so arg trocken bleibt, sollen hier ruhig mal ein paar Motive vorgestellt werden, die vielleicht die etwas veränderte Herangehensweise, aus den vielen neu geborenen möglichen Figurenaufstellungen, aufzeigen – und damit das Spiel für die vielen Argwöhnischen zugänglicher machen.

10

In dieser Ausgangsstellung gibt es ein paar ganz lustige Dinge festzustellen.  Beispielsweise ist es gar nicht so einfach, eine Figurenkoordination hinzubekommen. Die Figuren stehen sich in gewisser Weise im Weg. Eine kürzlich vom Autoren (mit Schwarz) gespielte Partie begann (nicht völlig unlogisch) mit 1. e2-e4 (Doppelschritt des Damenbauern!) 1. ... e7-e5 2. Sh1-g3.

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Elzoido238 – MemoryLost (Online Partie, 2013).

Schwarz am Zuge.

 

Hier bereits eine der kritischen Fragen, die man aber durchaus häufiger antreffen kann (wie man mit wenig Übung schon feststellen kann): wie geht man mit Eckspringern um? Das Kuriosum: der Springer von g3 aus bestreicht die Felder (vor allem auf die aktiven, in der gegnerischen Bretthälfte liegenden lohnt es, Ausschau zu halten; das gilt auch im klassischen Schach) f5 und h5. Insbesondere das Feld f5 hat – wie jeder sicher mal leidvoll, mal freudvoll erfahren durfte oder musste – eine besondere Bedeutung im Königsangriff, sofern der König, wie so oft, sich auf g8 befindet. Lieber mag man also keinen dort dulden. Hier würde der Springer von f5 aus sogar direkt einen Bauern attackieren, und zwar jenen auf g7.

Nun könnte man ja, nach dem altbekannten Motto „Wie du mir, so ich dir“ebenfalls seinen Springer nach g6 stellen, mit der Aussicht, ihn auf f4 (oder gegebenenfalls h4) zu platzieren. Was wäre der Effekt, den man aber ebenso schon kennt unter dem Motto „Wenn zwei das Gleiche tun, so ist es noch lange nicht das Gleiche.“. Und, wie jeder sicher schon einmal erlebt hat, ist es nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt möglich, die Züge des Gegners zu kopieren. Meist setzt Weiß sich unweigerlich durch und der altbekannte (insbesondere für solche Fragen) Problemkomponist Sam Loyd hatte einst dieses Problem gelöst: in wie viel Zügen ist Schwarz im günstigsten Falle Schachmatt, sofern er sich verpflichtet, alle Züge zu kopieren? Heraus kamen derer vier von Weiß, gegenüber dreien von Schwarz (klassische Ausgangsstellung: 1. d2-d4 d7-d5 2. Dd1-d3 Dd8-d6 3. Dd3-h3 Dd6-h6 4. Dh3*c8# und hier entfällt per Regel die Chance, es dem Weißen gleich zu tun).

Also: empfiehlt sich hier das Nachahmen? Eher weniger, so die Antwort. Auf 2. ... Sh8-g6 folgte 3. Sg3-f5. Da nun der Bauer g7 attackiert wäre, und man aus Erfahrung weiß, dass es nicht ratsam ist, sich auf einen Schlagabtausch, beginnend mit 3. ... Sg6-f4 (genau dabei gewinnt nämlich meist der Anziehende) einzulassen, müsste man stattdessen mit 3. ... Sd8-e6 den Bauern g7 decken. Danach käme 4. g2-g3, und der schwarze Springer würde sein Traumfeld nicht erreichen, während man Mühe hätte, den weißen loszuwerden. Selbstverständlich hätte man hier noch lange nichts (weder so, noch so) Entscheidendes erreicht, das möchte man gar nicht zum Ausdruck bringen, aber der Weiße hätte von Anfang an vielleicht eine leichte Initiative.

Alternativ, zuvor diesem Problem bereits ein paar Gedanken gewidmet, fiel die Wahl des Schwarzspielers auf den Zug 2. ... g7-g6.

Damit wäre sozusagen der zweiten Teil des kleinen Kuriosums aufgedeckt: zwar ist nun dem weißen Springer das aktive Feld f5 verwehrt, nur hat man zugleich dem eigenen Eckspringer das „ideale Entwicklungsfeld“ g6 verbaut. Wohin soll der denn nun?

Dies führt direkt zu einem weiteren Teil der ins philosophische übergehenden Erwägungen zu dieser speziellen Stellung:  wohin überhaupt mit den ganzen Figuren, wie kann man sie koordinieren? Mit dem Zug g7-g6 hat man den eigenen Springer eingesperrt (wobei Weiß nun auch nicht gerade zum Jubeln ist nach dem Zug g7-g6, denn: was leistet nun der Springer auf g3?). Der schwarze Springer h8 könnte zwar nach f7 „entwickelt“ werden, jedoch würde er da den weißfeldrigen Läufer g8 blockieren. Den würde man am liebsten vorher rausbringen, nur wohin könnte der? Sicher, so könnte man auf den ersten Blick meine, kann er doch nach e6? Bedauerlicherweise ist aber das Feld e6 ausgerechnet der einzig gesicherte Bestimmungsort für den Springer auf d8. Dieser steht, schon nach Philidor, ideal hinter einem (Zentral-)Bauern platziert. Somit ist die Karriere der beiden schwarzen Leichtfiguren am (eigenen) linken Flügel (den darf man im Schach 960 unter keinen Umständen -- oder halt bestenfalls irreführend -- „Königsflügel“ nennen) alles andere als rosig.

Wobei man nun getrost auf den anderen Flügel schauen darf: was tut man mit dem Läufer auf b8? Es drängt sich sicher direkt der Zug c7-c6 (für Weiß c2-c3) auf, dem man kaum wiederstehen konnte.  Nur: falls man diesen Läufer denn nach c7 (c2) entwickelt hätte, vielleicht gar im Bestreben, die c-Rochade auszuführen (wie sie „professionell“ heißt), also den Turm nach d8 zu bringen, in der nach wie vor gültigen guten Absicht, die Türme zu verbinden), so wäre direkt der Bauer a7 schutzlos, und zugleich (mindestens indirekt) unter Beschuss des Läufers auf g1 (indirekt, falls sich ein Springer auf e3 befände, wobei dieser gar nicht mal so ungünstig nach c4 weiterreisen könnte).

Zugleich darf man hierbei erwähnen, dass c7 zwar ein ganz hübsches Entwicklungsfeld für den Läufer ist, dass er aber dort noch lange nicht offensiv zum Glänzen gebracht werden kann.

Abschließend kann man über diese Ausgangstellung sagen, dass es offensichtlich ab und an mal Positionen gibt, in denen die Entfaltung der Kräfte dauern kann, die direkte Konfrontation derselben, die richtigen Kampfhandlungen, also zunächst einmal in weiterer Ferne liegen können und gut vorbereitet werden müssen, was durchaus für beide Parteien gelten kann.

Hier nun ein (weiteres) Partiefragment:

MemoryLost vs. tsnt  (online Partie 2013)

Glücklicherweise findet man ab und an mal einen Server, auf welchem Schach 960 gespielt werden kann. Es sei jedem angeraten, es einfach mal zu probieren.

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1. e2-e4 b7-b6 2. c2-c4 e7-e6 3. d2-d4 g7-g6 4. b2-b3 Lf8-g7 5. g2-g3 c7-c6 6. Lf1-g2 (endlich eine Figur gezogen!) 6. ... Sc8-e7 Sicher drängt sich in einer derartigen Stellung ...

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... die kurze Rochade auf. 7. 0-0. Nur wagt man hier, zu behaupten, dass es mehr als ein Schablonezug ist. Dennoch: Teil 1 der Überführung in eine klassische Schachstellung, von einer 960er nicht zu unterscheidenden, ist damit erfolgt. Der Turm steht nun auf f1, wie „gewohnt“, der König bleibt auf g1. Nun stehen die Springer, die Dame und vielleicht der Läufer a1 nicht völlig normal, aber doch zugleich nicht schlecht.

Was an dieser Partie auffällt – und dem Autoren schon zuvor, damit vielleicht ein (weiteres) kleines Geheimnis preisgebend – ist, dass die Zentrumsbesetzung für viele Spieler außer Kraft gesetzt zu sein scheint, nur weil Schach 960 gespielt wird. Hier kurz erwähnt: dem ist (logischerweise) nicht so. Das Zentrum hat, das alberne Wortspiel sei gestattet, zentrale Bedeutung.

7. ... d7-d5

Schwarz möchte ebenfalls Zentrumseinfluss gewinnen. Ein, so darf man ruhig sagen, typischer und angebrachter Zentrumsgegenstoß. Vom Motiv und vom Prinzip her bekannt, nur lange nicht mit bekannten Folgen, denn: diese Stellung gab es sicher noch nie.

8. c4xd5 c6xd5 9. e4-e5 f7-f6 10. f2-f4

Noch immer werden fast ausschließlich Bauern gezogen, ohne, dass man es als Fehler bezeichnen könnte oder sie gar unlogisch erscheinen würden, wobei hier sicher ein ganz objektives Urteil noch aussteht (falls je eines gefällt würde). Im Gegensatz zu dem anderen Grundstellungsbeispiel jedoch scheinen hier die Figuren bereits zu harmonieren, ohne dass man sie gezogen hätte. Alle finden wunderbare Plätze, egal, ob sie diese gleich oder später einzunehmen gedenken. Klarerweise tun sie das bei Weiß ein klein bisschen leichter. Wozu so ein Raumvorteil doch alles gut sein kann?

10. ... 0-0 Auch Schwarz hält die Zeit für gekommen, die kurze Rochade auszuführen. Ein weiterer Baustein zur Überführung in eine vertraute Stellung.

11. Se1-f3 Se7-f5 12. Db1-d3

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Immer mehr Figuren landen auf Feldern, wo man sie auch durchaus in einer Partie klassischen Schachs wiederfinden würde. In dieser Stellung würde man sich beinahe nur noch wundern – so man denn nicht wüsste, um welche Schachform es sich handelte -- , wie ein Springer nach c1 gekommen ist, was er dort soll, und natürlich über die beiden Läufer auf den Eckfeldern, die man nur, aus der klassischen Ausgangsstellung, in Anwandlungen von Sinnlosigkeit, dorthin hätte bewegt haben können. Ansonsten ist nach 12 Zügen schon fast alles vertraut. Und: außer einer leichten verursachten Irritation der drei genannten Figuren hätte dies im Übrigen keinerlei Einfluss auf zukünftige Entscheidungsfindungen, welche man nun, völlig analog zu einer klassischen Partie, zu treffen hätte.

12. ... h7-h5 13. Sc1-e2 (auch dieses kleine Springerpositionsproblem damit behoben; es bleiben nur die falsch oder ungewohnt stehenden Läufer in den Ecken). 13. ... La8-c6 14. La1-b2 Somit auch dieses Problem behoben. Hier stellt sich wohl kaum die Frage, ob man nun eine vertraute Stellung angestrebt hat, seine Zugwahl daran orientiert hat? Die Antwort lautete nämlich unmissverständlich: Nein! Die Züge waren einfach nur logisch, die Figuren erfüllen so alle ihre Aufgaben und neutralisieren sich in gewisser Weise.

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Nach der erfolgten Überleitung in eine klassische Schachstellung wäre dieser Job hier an sich erledigt. Der geübte Retroanalytiker würde vielleicht an dieser Stelle – bei allem Respekt vor Nimzowitschs Erkenntnissen der Überdeckung -- fragen, warum um alles in der Welt der Weiße seinen Turm nicht direkt nach c1 gezogen hat, sondern erst einmal nach d1? Dafür gäbe es keinen – außer dem Nimzowitsch zu verdankenden, dabei diesen überinterpretierend – sinnvollen Grund, wobei ein Mangel an Spielstärke natürlich immer anerkannt werden dürfte.

Zusammengefasst dennoch (über diese Partiephase und damit verallgemeinernde Tendenzen erkennend) sei gesagt, dass dieses Beispiel doch allerbestens aufzeigt, dass jegliche Scheu unbegründet ist. Weiterhin könnte man konstatieren, dass man eine derartige Stellung sicher bereits vielfach gesehen hat, die Motive kennt, sie vielleicht selbst schon auf dem Brett hatte (in ihrer Bauart), dass man aber, im Gegensatz zum klassischen Schach von keiner der beiden Seiten erwarten dürfte, dass sie sich etwa in Heimarbeit darauf vorbereitet hätten. Dies wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Das bedeutet in der Summe, dass man durchaus das geliebte Spiel praktiziert, aber eben den Wissensaspekt eliminiert hat. Darüber möge jeder für sich befinden, ob ihm eher dieses oder eher jenes wünschenswert erscheint.

Der Vollständigkeit halber, und sicher eine gewisse geweckte Neugier befriedigend, hier der Schluss der Partie (bis zu dem bösen Fehler):

14. ... a7-a6 15. Se2-c3 Se8-c7 16. Tf1-e1 b6-b5 17. b3-b4 a7-a5 18. a2-a3 a5-a4 19. Td1-c1 (endlich auch der Turm wohl platziert) 19. ... Lc6-e8 20. Sc3-d1 Sc7-a8 (selbst wenn etwas befremdlich anmutend: die Zukunft dieses Springers ausgesprochen rosig, winkt doch das Feld c4, wo ihn keine 10 Ochsen wegbekommen können) 21. Tc1-c2 Sa8-b6 22. Sd1-f2 (auch dieser Springer mit den schönsten Perspektiven: zementiert zwar das Feld c4, von zwei Bauer gestützt und von keinem einzigen angreifbar, aber doch damit eine Lücke auf c5 hinterlassend, ein El Dorado für einen Springer, so man denn einen hat und eine Route für ihn findet...)

22. ... Sb6-c4 23. Lb2-c1 Sf5-h6 24. Dd3-e2 (macht den Weg frei für den Springer) 24. ... Db8-b6 (für jeden, der noch Fragen bezüglich der vorherigen Damenstellung hat: auf b6 ist nun wirklich Standard...) 25. Sf2-d3 f6xe5 26. Sd3xe5 (ein wenig aus der Not geboren) 26. ... Sh6-f5 27. De2-f2

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Durch beiderseitiges nicht ungeschicktes Lavieren ist eine Stellung entstanden, die weiterhin im Gleichgewicht sein sollte (wobei wohl Weiß doch ein kleines Übergewicht behielte? Immerhin gibt es das Angriffsziel e6 und vielleicht langfristig den Plan, g3-g4 durchzusetzen.).  Ohne jegliche Notwenigkeit bewegt nun Schwarz den Springer, den Weiß selbst mit Hilfe der 10 Ochsen nicht hinfort bekommen hätte. Damit verlässt er den Pfad der Tugend – wohl noch kein entscheidender Fehler, doch...

 

27. ... Sc4-d6 28. Sf3-g5

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... doch der zweite folgt sogleich.

 

28. ...Lg7xe5?  und nach 29. d4xe5 war die Partie erledigt. Der Damentausch ist unvermeidlich, und danach geht der weiße Springer von g5 aus in den „Pacman-Mode“. Er frisst e6 und danach einen der Türme, was den Partieausgang sicherstellt. Kurz darauf erfolgte die Kapitulation und damit das 1:0.

 

Ein paar weitere Erkenntnisse, nur kurz angefügt, damit man erkennen kann, dass es schon Spaß machen kann, sich mit dem Spiel auch so zu beschäftigen – denn, so betont man stets, eine Art Wiedererkennungseffekt ist gegenüber ständig nur Neues zu suchen und vielleicht zu finden, mehr als herzlich willkommen. Als Beispiele seien genannt:

Es scheint eine Art eingebauter Reflex bei einem jeden Schachspieler zu sein – klar, die so genannte „Erfahrung“ --, dass man den ersten Zug ohne großes Nachdenken ausführt. Man weiß eh, was man spielt, mit Weiß, wie immer Sg1-f3 oder e2-e4, was sollte da ein Nachdenken bewirken? Mit Schwarz kann es nur passieren, dass der Gegner einem mit 1. g2-g4, 1. b2-b4 oder 1. Sg1-h3 den Wind aus den Segeln nimmt“, denn gegen jeden anderen Zug ist der erste Zug eigentlich nur Formsache, die Bedenkzeit besser für wichtigere Situationen aufgespart.

Dieser Reflex ist aber nach eigener Einschätzung nach Möglichkeit zu unterdrücken. Die Ausgangsstellung hat gegenüber jeder anderen Stellung kaum einen geringeren Stellenwert, was die Komplexität in Richtung Entscheidungsfindung, Planfassung etc. angeht. Denkbar sogar, dass es noch ein wenig lohnender ist, über sie nachzudenken, diese ganz spezielle Ausgangsstellung. Denn: es werden hier bereits Weichen gestellt. Wie könnte man die Figuren koordinieren, wie besetzt man das Zentrum, welchen Züge, die man selbst ins Auge fasst, würde man wie begegnen, sofern sie denn der Gegner ausführte, wo könnte sich eine Schwachstelle in der gegnerischen Stellung befinden (wie es „klassisch“ beispielsweise der Punkt f7 ist)? Selbst wenn es ganz offensichtlich noch nicht zu konkreten Kampfhandlungen kommt und konkrete Variantenberechnung weitest gehend überflüssig ist, so gibt es doch eine ganze Menge interessanter Dinge zu entdecken und ist es nach eigener Auffassung längst nicht so zufällig, wie es scheinen mag, wie sich eine 960-Partie entwickelt. Den Grundstein für eine Entwicklung in eine eigene, selbst gesteuerte und zugleich hoffentlich erfreuliche Richtung kann man mit ordentlichem Nachdenken über den ersten Zug (gerne auch: die ersten Züge) legen.

Um abschließend noch einen beobachteten Effekt vorzustellen: die Rochade wird teils ein wenig überschätzt, wobei andererseits oftmals zu beobachten ist, dass beide Seiten sie hinauszögern, länger, als sie es in einer „herkömmlichen“ Partie tun würde (wo der Rochadezug meist natürlich einstudiert ist und zur bekannten Zugabfolge einfach dazugehört). Wie auch immer und warum es so oder so geschieht (und wie es sich in dieser Hinsicht, vielleicht einbezüglich dieser Worte, nun entwickeln wird), kann man doch einen allgemeineren Gedanken zum Thema Rochade im Schach 960 anbieten:

Sofern der König im Zentrum steht (demnach auf der e- oder d-Linie), so hat die Rochade wohl exakt die gleiche Bedeutung wie im klassischen Schach. Er steht im Zentrum, es bleibt dabei, dass die Zentrumsbesetzung einen hohen Stellenwert hat, demnach werden sicher häufig die Zentrumsbauern aufgezogen, möglicherweise dort, da es gegenseitig geschieht, werden sich Bauernabtäusche ergeben, damit Linien- und Diagonalenöffnungen, was dem König oft genug zum Verhängnis wird – sofern man ihn nicht rechtzeitig aus diesem Zentrum entfernt, an einen viel sichereren Ort wie c1 oder g1.

Falls der König jedoch auf einem Läuferfeld steht, so spürt man ja bereits ohne diese Erwähnung, vor allem aber durch den Effekt, dass er bei der (allgemein dennoch als „unsicherer“ angesehen) langen Rochade (in Zukunft nur noch: c-Rochade, da „lang“ oder „kurz“ im Schach 960 seine Gültigkeit vollständig einbüßt) ohnehin auf einem Läuferfeld landet, welches weiterhin recht zentrumsnah liegt (wonach oftmals noch der sichernde Zug Kc1-b1 bzw. Kc8-b8 freiwillig angeschlossen wird), dass er dort bereits deutlich weniger gefährdet ist. Hier bleibt das nach wie vor gültige Ideal der Turmverbindung auf der Grundlinie das die Rochade motivierende Kriterium, jedoch ist dieses genauso einfach durch einen schlichten Königszug der Bauart Kc1-c2 oder Kc1-b2 zu erzielen (da ja der eine Turm Regel bedingt stets diesseits, der andere jenseits des Königs steht). 

Diese Züge macht man irgendwie (nach bisheriger Beobachtung) nicht so gerne. Königszüge – außer der Rochade – sind im Frühstadium einer Partie irgendwie verpönt, dies der wohl dafür ausgemachte Grund (und wäre somit ein Beweis, wie stark in der Jugend antrainierte Effekte ihre Wirksamkeit behalten, selbst wenn durch andere Umstände objektiv außer Kraft gesetzt). Ein weiterer Grund für diese Abneigung scheint aber darin zu bestehen: man möchte den Gegner am liebsten mit einer plötzlichen Rochade, die ja durch die Bewegung ZWEIER Figuren, gelegentlich sogar über größere Distanzen, für mehr Aufhebens auf dem Brett sorgen können.

Hierzu ein kleines Beispiel:

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Bei der Berliner Schnellschachmeisterschaft im Schach 960 im Jahre 2012 kam es im Duell zwischen René Stern und Dirk Paulsen in einem Moment zu einer derartigen Stellung. Der Schwarze, Paulsen also, der träumende Autor, hatte sich in einer mit dieser vergleichbaren (hier fehlt längst durch verblassende Erinnerung jegliche Exaktheit) Stellung vom Eindringen seines Turmes auf h2 den baldigen Sieg erträumt. René Stern aber spielte, absolut regelkonform aber doch zur größten Überraschung des Gegners den Zug g-Rochade.

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Der Turm, der soeben noch im Verein mit dem ihn Führenden von einer Partie entscheidenden Rolle träumte, konnte brav, mit eingezogenem Schwanz, wieder abziehen – was brächte schon eine Turmverdopplung? -- und die Partie wurde kurz darauf als Remis vereinbart.

11)                    Ein Abschlussaspekt: rechtzeitig anfangen, denn die Zukunft des Schachs ist keineswegs gewiss oder gesichert.

Tja, also in letzter Zeit hat einen persönlich nicht nur und nicht erst seit Bekanntwerden des Schach 960 der Gedanke beschäftigt, wie es um die Zukunft des Schachs allgemein bestellt ist. Sicher gibt es immer wieder positive Ansätze, welche diese Zukunft zumindest unter Erhalt der Mitgliederzahlen zu versprechen scheint, andererseits vermeldet beispielsweise der Deutsche Schachbund schon seit einigen Jahren schwindende Mitgliederzahlen. Demnach steht also kein Boom in Aussicht, wie man schlussfolgern könnte, denn Bemühungen gab es stets – und doch wuchsen die Zahlen nicht, jedenfalls nicht beständig.

Man hat ja persönlich an anderer Stelle bereits ein paar Gründe genannt, die nach eigener Ansicht einem erheblichen Anwuchs im Wege stehen. Als wichtigster sei genannt: eine zu hohe Vorhersehbarkeit des Ausgangs einer Schachpartie, eines Schachturnieres. Immer wieder, so stellt man fest, setzt sich der Ranghöhere, in der einzelnen Partie, der Ranghöchste im gesamten Turnier durch. Ein Außenseiter, der so ab 400 Punkte unter dem Topfavoriten liegt, darf im günstigsten Fall auf die Ehre eines direkten Aufeinandertreffens hoffen. Auf eine Überrumpelung des Gegners oder gar auf die Einnahme des Platzes auf dem höchsten Podestplatz hofft er zu weit mehr als 99.99% vergeblich (womit diese Hoffnung zur Illusion verkommt).

Dies bedeutet nicht nur, dass man vergebens hofft (oder gar, realitätsfern, Illusionen hegt), sondern dass man sich möglicherweise – gleich das komplette Startgeld klemmt. Wieso soll ich denn, so sagt man sich, dessen Taschen vollstopfen ausschließlich auf diese direkte Begegnung hoffen (was mir dann eh schon, zwar Ehre, aber dafür zu teuer wäre), wenn sie denn zustande kommt aber mich abfertigen lassen und bei der Bitte um eine Analyse lediglich die kalte Schulter zu sehen bekäme anstatt ein paar Einblicke in großmeisterliches Denken, meinem eigenen gegenübergestellt?

Es bedeutet also, dass sich sicher weiterhin viele Schachspieler zu Turnieren einfinden mögen – was einer ganz anderen Illusion, nämlich jener der gesicherten Zukunft des Schachs Vorschub leistet --, dass aber vielleicht eine noch viel höhere Anzahl ihnen fernbleibt. „Ich weiß doch eh, wer gewinnt.“ Dies bedeutet nicht, dass Schach 960, wie oben erörtert, einen Zufallsaspekt hinzufügt, der dieser Vorhersagbarkeit entscheidende Abstriche leistet, lediglich, dass man, so oder so, nicht für die Zukunft des Spiels garantieren kann.

Weiterhin und weiter oben angeführt kann keine Sportart existieren, in der kein Nachwuchs herangezogen wird. Hierfür nun gibt es die oben genannten, guten Gründe, dass es mit dem Alternativspiel Schach 960 viel leichter gelingen könnte.

Donnerstag, 27 Dezember 2012 01:51

Fairplay im Schach (3)

Gedanken über Fairness im Schach (3)

René Stern – Lars Thiede

Beispiel 5: Wie regelt man das unter Meisterspielern?

Dies ein ganz einfacher und kurzer Fall von Fairplay, selbstverständlich nicht nur als hübsches und anschauliches Beispiel gedacht, sondern mit einer Art „Kernaussage“ behaftet, welche jedem Schachspieler als Vorbild oder zumindest Orientierungshilfe dienen könnte, wie man Streitfälle vermeiden kann, dazu einen unantastbaren Ruf erwerben kann, sich das Image „gern gesehener Gast auf allen Schnellturnieren“ zulegen kann, welcher jedermann, so sei versichert, gut zu Gesicht steht -- und damit nicht einmal den eigenen Chancen im Wege zu stehen, denn, so jedenfalls eine hier vertretene Ansicht, Besonnenheit zahlt sich eigentlich immer aus.

Allgemein ist es so, dass der Autor, Dirk Paulsen, also ich ganz persönlich, im Rahmen einer Trainerausbildung zu einem Lehrgang für Schiedsrichter verpflichtet war. Dort war ich mir schon bald mit einem der Referenten (Martin Sebastian) sehr bald einig, dass die Spielstärke sich als Regel reziprok zu der Anzahl der Streitfälle entwickelt. Es ist wohl so, dass sich ein höherrangiger Spieler wohl mehr auf seine Spielstärke verlässt, sicher auch schon ausreichend Lorbeeren verdient hat, vielleicht einig ist mit sich selbst, wie gut er ist, weiterhin hier oder da in seiner Karriere schon am günstigen Ende eines finalen Showdowns war, so dass er eine Niederlage besser verkraften kann, zugleich es wohl unter seiner Würde empfindet, mit purem Uhrengehacke eine Partie zu seinen Gunsten wenden zu wollen, vielleicht möchte er dem Schachspiel und sich selbst die Würde wahren und nicht mit rein mechanisch ausgeführten, aber sinnlosen Zügen diese aufs Spiel setzen. Jedenfalls Konsens – und dies deckt sich nicht erst seit dem Schirilehrgang mit den eigenen Beobachtungen --, dass es seltener vorkommt, je höher der Eloschnitt der Kontrahenten am Brett ist.

SRgoogle300250In dem hier angeführten Beispielen handelt es sich um eine Partie aus dem großen Grand Prix Schnellturnier der Schachfreunde Berlin im Rathaus Schöneberg im Juni 2011. Die Lage war die, ohne, dass es hier aus dem Gedächtnis zu einer Diagrammstellung reicht, dass der Schwarzspieler, ein überdurchschnittlich guter IM mit weit über 2400 Elo, gegen den laut Rating sogar noch deutlich besseren René Stern, ebenfalls „nur“ IM, aber mit gut über 2500 Elo, einen klaren Vorteil hatte. Dieser bezog sich auf die Position auf dem Brett UND die Konstellation auf der Uhr. Thiede hatte wohl gut über 3 Minuten übrig, während bei René bereits die letzte Minute eingeläutet war.

René saß stoisch ruhig am Brett, rechnete und sah, was er sah, vor allem erwartete er die Züge seines Gegners – dies in jeder Hinsicht. Er hatte nämlich immer eine schnelle und gute Antwort parat. Als Zuschauer – von denen es bei einer Partie zu fortgeschrittener Phase an einem hohen Brett stets reichlich gibt – rechnete man mit, man suchte, ebenso wie Lars, nach dem knockout, der aber, angesichts der tiefgründigen und überraschenden Verteidigungszüge des Weißspielers möglicherweise verbogener war als man auf den ersten Blick glaubte, aber es musste, so oder so, ein großer Vorteil erhalten bleiben, da nämlich, als Faustpfand für das Endspiel, außer dem bedrohlichen Königsangriff bereits ein Extrabäuerchen im Säckel des Schwarzen war.

Lars aber schien, ebenso wie die Zuschauer, von der Versiertheit der Antwortzüge überrascht und fand nichts Besseres, als in ein Endspiel abzuwickeln, in welchem zwar der Plusbauer verblieben war, aber die ungleichen Läufer dem Weißen das Remis sichern mussten.

Die Situation auf der Uhr: René hatte vielleicht (dies in ziemlich genauer Erinnerung) 26 Sekunden übrig, wohingegen Lars über knappe 2 Minuten verfügte. Dies nun die wahrhaft interessante Sachlage: wie würde sich Lars verhalten? Was könnte man vom Weißen erwarten, der doch nun, für jedermann offensichtlich, durch alle schweren Fahrwasser schadensfrei hindurchgekommen war und dem sicheren (Remis-)Hafen unwiderstehlich zustrebte? Sicher kam für viele hier der Moment der größten (aber allseits verhohlenen) Verwunderung: kein Bisschen Uhrengehacke, keine Reklamation, ganz ruhig und solide ausgeführte Züge, beiderseits, mit welchen René einfach nur deutlich machte: er würde nicht und niemals reklamieren, dass die Stellung doch nun totremis sei und dass es unsportlich wäre, weitere Versuche zu unternehmen, die einzige die Absicht verfolgen könnten, die Partie über die Bedenkzeit zu entscheiden, nicht aber über ausreichend schachliche Mittel zu verfügen, nein, er würde seine eigenen Figuren auf die richtigen Plätze stellen und für jeden möglichen Gewinnversuch gewappnet sein.

Kein Wort also fiel, keine einzige hektische Bewegung auf dem Brett, nur ein paar Schachzüge, in welchen René seine Figuren so positionierte, dass ein Durchbruch in unerreichbar weite Ferne rückte. Als Lars – und mit ihm jeder Umstehende Zuschauer – erkannte, dass die einzig mögliche Blamage nun werden könnte, dass er die Uhr malträtierte, zugleich das Spiel als solches herabwürdigen müsste, schaute er nur kurz auf, die Blicke trafen sich, und das Remis war besiegelt mit einem kräftigen, sportlichen Händedruck.

René hätte mit seiner absolut vorbildlichen Einstellung nicht einmal von sich aus den Blick gehoben, um damit vielleicht Einfluss zu nehmen, nicht verbal aber eben gestisch/mimisch („erkennst du nicht, dass du hier keine Fortschritte mehr erzielen kannst, Mehrbauer hin oder her?“, was ein Blick bereits hätte bedeuten können), sondern hatte allein seine Schachzüge im Verein mit dem ausgeprägten Schachverständnis sprechen lassen, und dies in absolut überzeugender Manier.

Man darf dazu sagen, dass bereits die kleinste „Anmerkung“ in diese Richtung für den Gegner eine Art Provokation hätte bedeuten können, es hätte die Sachlage verschärfen können und nicht selten erlebt erzählen Spieler, dass sie eine Fortsetzung der Partie, auch in Anerkenntnis der eigenen geringfügigen (aber zugleich entschuldigten) Unsportlichkeit, vorgenommen hätten nur aufgrund eines ungebührenden Verhaltens des Gegenübers im Vorstadium dieses Finales. So beruft man sich darauf, dass der Gegner mit seinem bereits dritten Remisangebot so sehr genervt hätte („klar wusste ich, das die Stellung Remis ist, aber da muss er MICH doch anbieten lassen, denn der Vorteil lag trotz allem auf meiner Seite“, um nur eine Möglichkeit anzuführen), dass man sich bemüßigt fühlte – zugleich legitimiert --, noch ein paar Versuche zu unternehmen – bis das Blättchen fiele. „Hat er sich doch selbst zuzuschreiben? Klar hätte ich irgendwann angeboten, wenn er nicht dauernd...“ und so weiter und so fort.’

Dazu passt sehr gut das nächste kleine Beispiel (welches einem beinahe zufällig ergänzend einfällt):

Beispiel 6: Yosip Shapiro – Atila Figura

Klarer Elofavorit, mit gut über 2300, gegenüber etwa 2000 beim Gegner, war hier natürlich der Schwarzspieler. Hinzu kommt, dass er in der Partie mit einem wohl doch ziemlich klar gewonnenen Turmendspiel, zuvor klar auf die Siegerstraße eingebogen war. Hier die Stellung:

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Shapiro – Figura, Monatsschnellturnier SC Kreuzberg, 21.12.2012, Schwarz am Zuge.

Diese Stellung muss einfach gewonnen sein. Atila aber (so Figuras Vorname) hatte den klar höheren Zeitverbrauch, war hier bereits bei deutlich unter einer Minute, während Shapiro noch weit über 2 Minuten übrig hatte. Dennoch war der Plan „eigentlich“ so klar und man traute Atila den Sieg zu. Der König geht nach d8, c8, dann die c-Linie hoch, kommt irgendwann an die Bauern heran, und Weiß kann eh nur mit dem König „rubbeln“, indem er ihn von g2 nach h2 und zurück schiebt. Später kann er natürlich ein paar Schachs von hinten einblenden, aber es kann, eingedenk der Bauernschwächen am Königsflügel, niemals zum Remis reichen. Wobei logischerweise die Uhr eine wichtige Rolle spielen könnte.

Ein alternativer Plan wäre auch jener, wenn der König auf h2 steht, mit dem Zug Tb1-f1 den b- gegen den f-Bauern zu tauschen, und auch dann, mit den beiden Bauernschwächen, h4 und e5, einen Sieg einzufahren. Nur fand Atila einen noch einfacheren Plan: sein König, den er gerade von g7 aus evakuiert hatte, wanderte wieder zurück zum Königsflügel. Er hielt den Weißen für komplett wehrlos, und meinte nach der Partie, er hielt das für noch einfacher.

So kam es zu dieser Stellung:

 p8Ob Yosip den Plan bereits gesehen hatte, als er den Turm nach b8 stellte? Jedenfalls fand er hier den Zug 1. Kh2-h3! Bei Atila waren die Sekunden mittlerweile auf 26 gefallen, und der Zug überraschte ihn sichtbar. Eine Art Reflex, aus der Überraschung heraus und dem dringenden Bedürfnis, ziehen zu müssen, ließ ihn den Zug 1. ... Tb1-h1+ ausführen. Shapiro machte den Gegenzug 2. Kh3-g3, worauf Atila wiederum mit 2. ... Th1-g1+ antwortete. Das Remis ist nun unvermeidlich, da Tb8-h8# droht. Insofern bot Shapiro Remis an. Es ist eine Zugwiederholung, oder aber...

Atila lehnte nämlich ab. Die Vermutung ist hier, dass er kurzzeitig den Überblick verloren hatte. Zur Vermeidung des Remis half hier nun ausschließlich der Zug --- nach weißem 3. Kg3-h3 -- 3. ... Kh5-h6, nur war er für den kurzen Moment nicht des Verlustes seines Bauern gewahr. Weiß spielte natürlich 4. Tb8xb2, wonach das Remis auf andere Art, von der Stellung her, wohl völlig klar ist. Atila hätte doch nicht abgelehnt, um, mit weniger als 20 Sekunden auf der Uhr, mit drei gegen drei Bauern, fast völlig symmetrisch, noch gewinnen zu können?

Man sah an seiner Reaktion auch, dass er das nicht gesehen hatte, dass er auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Er schüttelte nämlich, kaum merklich, den Kopf. Da er aber einen Zug zuvor Remis abgelehnt hatte und ihm überhaupt seine eigenen Fehler etwas peinlich waren, konnte er ja kaum EINEN Zug später seinerseits anbieten. Sie zogen also noch eine Weile hin und her, und nun bot Atila, bei 12 verbliebenen Sekunden gegenüber Shapiros weiterhin Richtung 2 Minuten gehenden, Remis an.

Shapiro nahm sofort an. Was aber alle Zuschauer (vermutlich) dachten, und wieder mal eine Facette aufdeckend (dieser Teil ein wenig anknüpfend an das Thema „Einbeziehung der Vorgeschichte“), sprach der in einem anderen Beispiel angeführte Thomas Heerde aus: „Warum nimmst du denn jetzt Remis an? Er hat doch kurz vorher abgelehnt. Das wäre doch nur konsequent.“ Woraufhin Shapiro nur den Kopf schüttelte. Nein, so deutete das an, auf diese Idee würde er nicht kommen. Wobei hier durchaus ein anderes Argument greifen würde: immerhin war es der Elo höhere, der in zeitlich gesehen aussichtsloser Lage, auf den Remisschluss – per Angebot – drängte. Wenn es sich umgekehrt verhielte – siehe vielleicht Beispiel oben --, ist die Frage, wie der mit dem Zeitvorteil ausgestattete Favorit reagieren würde.

 

Beispiel 7: Bern Eckardt – Stephan Bethe

Nur um noch ein kleines Beispiel anzuführen für die nicht angezweifelte Richtigkeit der Regeln – gepaart mit der Erkenntnis, dass es ohne nicht geht --, aber doch für die nachzuweisende, leicht angezweifelte Durchführbarkeit.

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Eckardt – Bethe, Monatsschnellturnier SC Kreuzberg, 21.12.12., Weiß am Zuge.

Kurze Zeit vorher hatte Weiß, mit 1757 gegenüber Schwarz´2090, mit eigentlich recht klarem Zeitvorteil, in ausgeglichener Stellung eine Figur verloren. Die Lage war hoffnungslos, in schachlicher Hinsicht, nur war die Bedenkzeit, kurz vor dieser Stellung, bei 9 Sekunden für Schwarz und 10 Sekunden für Weiß. Schwarz holte das aber auf und hatte etwas später wohl 6 gegen 4. In etwa so der Stand, als hier Weiß seinen König nach g1 stellte: 1. Kf1-g1. Nun, ein Kommentar entfällt hier im Prinzip. Schwarz wusste nicht, was zu tun war, da er ausschließlich auf Ziehen aus war. Es widerstrebte ihm aber – wie es bei einem guten Schachspieler üblich ist – in einer unmöglichen Stellung einen Zug auszuführen. Was tat er also? Nach kurzem Besinnen drückte er die Uhr zurück, dabei auf die Blickrichtung des Läufers deutend, also von d4 nach g1. Der Gegner schüttelte den Kopf, und zog den König nach e2.

Danach war Weiß wieder im Zeitvorteil, mit wohl 4 gegen 3. Schwarz bekam die Dame, nahm den Bauern h3, hatte den König auf f3 und circa drei weitere Züge lang Zeit, den Bauern, mit Dame oder König, zu schlagen, begann stattdessen mit Damenschachs, den König zu jagen, hatte wohl einen Zug früher die Zeit überschritten – und man bedenke das Ausmaß dieses Dramas, wenn er dies realisiert hätte --, dann waren aber beide Uhren bei 0.00 gelandet, die Partie als Remis gewertet.

Bemerkenswert übrigens auch hier, dass Stephan, auf die „korrekte“ Reaktion des Neutralisierens der Uhr und die damit gesicherte Zeitgutschrift nach Reklamation angesprochen, kein bisschen nachtragend oder enttäuscht oder gar entsetzt reagierte. Er meinte nur, ziemlich lapidar, aber entspannt, dass er diese Geistesgegenwart nicht aufbrachte und insofern der Partieausgang gerechtfertigt wäre. Auch dies natürlich ein Beispiel für eine mögliche Reaktion eines höherrangigen Spielers, dass man eben nicht wütend oder irgendwie anders übel reagiert, etwa den Gegner beschimpfend „du hast ZWEI Mal illegale Züge ausgeführt, eigentlich habe ich die Partie gewonnen“ (tatsächlich war der wohl etwas mehr von der Hektik befallene Bernd Eckardt zuvor schon einmal durchs Schach gelaufen, allerdings da noch vom Gegner unbemerkt), wie man es vielleicht auch schon erlebt haben mag.

Wenn es hier um etwas geht, dann ist es die DURCHFÜHRBARKEIT der Regeln. Sie mögen sinnvoll, erforderlich, richtig, wohl überlegt oder einzig sein. Nur erlebt man in der Praxis einfach etwas anderes. Es kommt nicht zur sinnvollen Anwendung und, merke, je größer die die Spieler befallende Anspannung und Hektik ist, umso größer und zahlreicher werden die Ungereimtheiten, und umso seltener kommt es zur niedergeschriebenen Anwendung der Regeln.

Donnerstag, 20 Dezember 2012 10:12

Fairplay im Schach (2)

Gedanken über Fairness im Schach (2)

Fortsetzung des Artikels vom 18.12.

Fall 3: wer hat hier (mehr) gesündigt?

In der Schlussrunde des mittwöchlichen Schnellturnieres kam es zur Begegnung zwischen Adis Artukovic und Thomas Heerde, beide um die 2000, aber, wie sich sicher mit Stolz erwähnen würde „darüber“. Nun dürfte von den beiden Kämpfern vermutlich ihr eigener, sie antreibender Ehrgeiz, welcher möglicherweise größer ist als der des Durchschnittsspielers, eingestanden werden, ihnen bekannt sein. Das macht sie nicht unsympathisch und selbstverständlich nicht per se zu unfairen Spielern, nur dürfte dennoch klar sein, dass man, mit dem ausreichenden Ehrgeiz ausgestattet, etwas leichter in einen Fall verwickelt werden kann.

Es war eine hart umkämpfte Partie die ich erst in den Schlussminuten (nach Mark Müllers Kapitulation, als ich noch reichlich Zeit hatte) in Gänze verfolgen konnte. Adis hatte eine Figur weniger, nur war seine Dame direkt vor dem König von Thomas und er hatte ein sicheres Dauerschach, aber auch auf keinen Fall mehr. Thomas brütete und brütete, bei deutlich knapper werdender Bedenkzeit,  wobei seine Zugauswahl so sehr eingeschränkt war, dass der Zeitverbrauch nur als verzweifeltes Suchen nach einer nicht vorhandenen Möglichkeit ausgelegt werden kann, gepaart mit der Unzufriedenheit, dass es so „ja nur Remis“ würde.

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Adis Artukovic – Thomas Heerde, Schlussrunde des Sfr Grand Prix Schnellturnieres Berlin vom 12.12.12.

Hier hatte Schwarz die Wahl zwischen Kh7-h6 und Kh7-h8 – was nach De7-f8+ nicht den geringsten Unterschied macht. Der König kann nicht entweichen, der Springer niemals dazwischen ziehen wegen des Läufers auf c4. Ein sonnenklares Remis durch Dauerschach. Die Stellung war auch schon mehrfach wiederholt worden. Nach dem vierten oder fünften, sechsen Schach zog Adis plötzlich, bei schwarzen König auf h6, Lc4-b3.

Er musste sich einfach damit abfinden. Der König konnte immer nur nach h7 ausweichen, dann hatte er die Wahl zwischen h6 und h8 – was absolut keinen Unterschied machte. Womöglich hat er den Ehrgeiz seines Gegenübers unterschätzt, ihn nicht einmal richtig gekannt, war ausschließlich mit seiner eigenen Geschichte beschäftigt. Jedenfalls sank die Restbedenkzeit auf unter eine Minute, während sie bei Adis in der Größenordnung von 2 Minuten blieb. Er gab einfach immer Schach, vielleicht vier Mal, fünf Mal, sechs Mal auch möglich.

Nun war Thomas so weit: er hatte sich innerlich mit dem Remis abgefunden. Nun zog er den König schneller. Unerwartet muss ihn getroffen haben, dass nun sein Gegner urplötzlich einen anderen Zug machte. Keine Frage: es wurde ihm klar, was dieser vorhatte. Die Stellung sollte keine Rolle mehr spielen, ab nun wurde wild auf die Uhr gehackt. Entweder, man schafft es, den Gegner schachmatt zu setzen, ein eigenes Dauerschach herauszuholen, ihm alle Figuren abzunehmen oder aber ihn zum Dauerschach zu überreden. Ansonsten gäbe die Zeit den Ausschlag – und zwar zugunsten des Gegenspielers, Adis Artukovic.

Nun, das Mittwochsturnier bei den Schachfreunden hat sich gut etabliert, es macht richtig Spaß, es gibt teils hochkarätige Besetzungen (unter Anderem war Hrant Melkumyan zuletzt einmal da, zuletzt regelmäßig GM Martin Krämer und auch sonst ein paar Titelträger), es ist gut organisiert, alle sind mit Eifer – aber in der Regel mit Fairness – bei der Sache. Nur gibt es halt diesen einen Nachteil: die Figuren haben keine Bleigewichte.

Was sind die Folgen? Sobald die Schlussphase Richtung Hektik geht, ist es gar nicht zu vermeiden, dass die Figuren ab und an umkippen. So geschah es auch in dieser Partie, ohne, dass man eigentlich jemandem speziell einen Vorwurf machen konnte. Nur tauchen jetzt natürlich ein paar Probleme auf. Drückt jemand, bevor er alles wieder aufgestellt hat? Was, wenn nicht? Ein paar Mal also kullerten ein paar Figuren übers Brett, und tauchten jede Menge Hände an der Uhr auf. „Erst aufbauen.“ „Ich hab doch längst aufgebaut.“ Drücken, Gegendrücken, Drücken, Gegendrücken. Das geschah ein paar Mal im Wechsel.

jhis200Thomas war natürlich nicht nur geschockt über das Weiterspielen, gerade, weil er sich nur schweren Herzens überhaupt mit dem Remis anfreunden konnte, insofern – siehe oben, Punkt „Vorgeschichte“ – ist sein Ärger ein klein wenig verständlich. Das Vorhaben seines Gegners ist zwar nicht unbedingt unehrenhaft („Ich will gewinnen!“), aber doch ein klein wenig grenzwertig, da er mehrfach die Züge wiederholt hatte – um nach dem hohen Zeitverbrauch auf einmal abzuweichen.

Was folgte? Irgendwann, bei zunehmender Hektik stellte Thomas seinen gefallenen Bauern wieder auf. Sicher in guter Absicht, nur leider auf das falsche Feld. Was wäre nun zu tun, Herr Schiedsrichter? In welchem Regelparagraphen soll sich diese Feinheit verbergen, soll sie abgedeckt sein? Eigentlich, so könnte man gut argumentieren, hätte er lediglich einen (zusätzlichen?! Gezogen hatte er ja schon!) illegalen Zug ausgeführt. Der Bauer zog von g6 nach h6. Immer wieder das gleiche Szenario. Adis drückt und sagt: „Bau richtig auf.“ Thomas drückt zurück mit den Worten: „Ich habe aufgebaut. Lass mich die Uhr drücken.“ Beide Hände auf der Uhr, keiner konnte mehr drücken, wessen Zeit lief? Absolut unklar, vielleicht auch abwechselnd.

Adis assistierte noch beim Aufbauen, klärte auf, dass der Bauer auf g6 und nicht auf h6 gestanden hätte, Thoma wollte oder konnte ihn aber nicht recht verstehen, wie es aussah. Jedenfalls war irgendwann das Plättchen (ja, es waren mechanische Uhren) unten.

Nun galt es, das Ergebnis zu melden. Adis: „Ich habe gewonnen.“ Thomas: „Ich lege Protest ein. Er hat die Uhr festgehalten, ich konnte nicht drücken.“ Obwohl ich die ganze Zeit am Brett gesessen hatte, hat mich niemand zum Tathergang gefragt. Es war mir zwar auch ein Bedürfnis, mit anzuhören, wie ein „Schiedsrichter“ (ausgerechnet mein Gegner, Mark Müller, hatte die Turnierleitung übernommen; dankenswerterweise hat ebenjener Mark Müller bei einem weitere Kreise ziehenden Protestfall von einer meiner Partien ein Video angefertigt und ins Internet gestellt: hier der Link: http://www.youtube.com/watch?v=WyP-5uI3qPE ; das Video bestätigte weitest gehend die Richtigkeit meiner Aussagen) nun entscheiden würde, welche Versionen ihm überhaupt zu Ohren gebracht würden, aber doch überwog das Bedürfnis, den Fall klar zu stellen.

Ich ging also zu den lauthals Argumentierenden, denen Mark bemüht sein Ohr lieh, und meinte: „Ich habe alles gesehen und könnte es aufklären.“ Als Thomas dies hörte, folgte eine sensationelle Reaktion seinerseits: „Na, wenn du das gesehen hast, dann ist ja alles ok. Du bist objektiv, der Einschätzung vertraue ich.“ Dies vereinfachte die Sache ziemlich. Da ich niemals dafür geeignet wäre, Schwarz und Weiß zu malen, also auch hier nicht einen Sündenbock ausgemacht hätte und einen, der alles richtig gemacht hätte, meinte ich nur, dass ich zwar verstehen könnte, dass Thomas durch das verschmähte Remis – aufgrund der Stellung nicht gerechtfertigt, nur aus Zeiterwägungen erfolgt – sich leicht ereiferte, aber dass er doch ein paar Mal mehr gesündigt hätte. Ich sagte auch sofort, dass ich das Verhalten des Gegenspielers zwar auch nicht gerade perfekt fand, denkbar sogar, dass ihm als ersten einmal die Figuren umfielen, dass aber doch die größere Anzahl der Ungereimtheiten bei Thomas lagen.

Das akzeptierte er sofort, zumal es ja, anders, als wenn man sich AUSSCHLIEßLICH auf Paragraphen zu berufen gedächte, sein Verhalten zugleich erklärte, insofern ihm das Verständnis entgegenbrachte, was ihm wohl schon ausreichte, um so die Niederlage hinnehmen zu können.

Fall 4: Paulsen – Krämer

Da er nun sogar schon angeführt ist, kann man ja ebenso diesen unter die Lupe nehmen. In der Partie stand ich schon bald nach der Eröffnung klar schlechter, verlor einen Bauern, und hatte als Folge die schlechtere Zeit. Keine Chance also. Eigentlich. Zumal ich im weiteren Verlaufe der Partie gar einen weiteren Bauern einbüßte. Danach die Partie im Prinzip entschieden, das ja wohl keine Frage. Wenig Zeit und zwei Bauern weniger, im Endspiel, gegen einen gut 2500er? Da kann man getrost den Geistlichen bestellen.

Ich machte noch ein paar Züge, sehr wohl konzentriert, wie man im Video erkennen kann, jedoch hatte ich mich innerlich mit der Niederlage abgefunden. Nur fand er irgendwie keinen ko-Schlag, die Partie zog sich hin. Allmählich gab es doch eine kleine Chance, zumal er im Zeitverbrauch nach und nach gleichzog.

Wie man im Video sieht, zuckte er einmal kurz mit seinem Turm, als er diesen beinahe auf h3 abstellte. Dort wäre, nach Ta6+ gefolgt von Te6:, eine Figur verloren gegangen. Nein, er hat ihn wohl nicht losgelassen, aber es war ziemlich knapp. Immerhin zeigte mir der Moment, dass die Nerven eine Rolle spielen könnten. Man ist wieder dabei.

Irgendwann – und es war noch immer nicht die endgültige Entscheidung in Sicht – unterschritten wir beide die 20-Sekunden-Marke. Ab diesem Zeitpunkt war klar: hier entscheiden keine schachlichen Erwägungen mehr. Hier wird gezogen, natürlich möglichst gut, aber doch mit der Maßgabe: der Schnellere gewinnt, in etwa wie bei „High Noon“.

Da aber selbst darin die Jugend klare Vorteile hat, waren meine Chancen weiterhin sehr dünn. Es kam aber der Moment: ich zog meinen Springer von d5 aus zurück. Er sollte nach e3. Nur landete er nicht dort, zumindest nicht exakt dort. Er landete so ziemlich genau zwischen den Feldern e2/d2/e3/d3, fast genau mittig. Klar könnte er nun sagen: „Wo steht der.“ Oder „stell erst einmal ordentlich auf.“ Nur, wer hätte diese Geistesgegenwart? Es sind noch 3 Sekunden bei ihm gegen 2 Sekunden bei mir. Das sind Reflexe, die dort die Entscheidungen fällen, insofern sind es nicht einmal Entscheidungen.

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Paulsen – Krämer, Schlussrunde des großen Grand Prix Turnieres im Rathaus Schöneberg am 16. Juni 2001.

Dies die Stellung, die auch im Video deutlich zu erkennen sauber auf dem Brett steht – obwohl beide vorher nicht absolut sauber gesetzt haben. Ich zog meinen Springer von d5 nach e3, wo er, beim Loslassen, ein wenig verrutschte und exakt zwischen den Feldern e3/d3/e2/d2 zu stehen kam – wie übrigens Augenzeuge August Hohn nach der Partie schon anmerkte. Er zog daraufhin seinen König nach f5, ich griff nach meinem Turm und stellte dann fest – ohne auf meinen Springer zu schauen – dass das Feld unter Beschuss meines soeben nach e3 entwichenen Springers steht. Übrigens darf man sehr wohl anmerken, dass diese Stellung bereits objektiv Remis ist, denn sein Königszug – so er denn legal gewesen wäre – büßt den Bauern g7 ein. Den Turm hatte ich ja in der Hand. Die Uhr wies zu diesem Zeitpunkt übrigens – also nach meinem Neutralisieren der Uhr – für mich 2 Sekunden, für ihn 3 aus. Er hätte also, bei normaler Fortführung der Partie, ziemlich genau eine Sekunde Zeit gehabt, ZÜ zu reklamieren, bevor seine eigene Zeit abgelaufen ist. Fraglich, ob das zu schaffen gewesen wäre.

Weitere kleine Anmerkung: sobald man einmal auf dieser youtube Seite ist, findet man auch das Video der Vorgängerrunde seiner Partie gegen Hassan Krasnici. Dort stand Martin Krämer klar auf Verlust UND hatte mehr als eine Minute weniger. Hassan aber, in der Gewissheit des Sieges, vergaß die eigene Bedenkzeit völlig und schlief ein. Mit einer Sekunden gegenüber Hassans 0 Sekunden reklamierte Martin Zeit. Also: es war ihm eine Runde zuvor bereits gelungen, dieses Kunststück (was sicher für ihn spricht) aber zwei Mal in Folge auf die fast gleiche Art zu gewinnen: wäre das nicht eine ganze Menge Glück?

Er zog seinen König nach f5. Ich wollte gerade ein Turmschach auf a5 einblenden, als mir einfiel, dass ich „eigentlich“ soeben meinen Springer nach e3 gezogen hatte. Der König KONNTE GAR NICHT NACH F5. Der Zug war illegal, und, wie man im Video sieht, justiere ich sofort die Srpingerstellung. Eine Art „j´adoube“, natürlich zur Unzeit, und rückte ihn mittig nach e3. Dazu sprach ich die Worte: „Illegal, der Zug ist illegal.“

In diesem Moment begehrte er natürlich auf. „Der Springer stand hier. Hier stand der Springer.“ Und er wollte gar rasch im Geiste eine komplette Route ausmachen, die ihn dorthin (nach d3) befördert hatte. In diesem Moment hat er sich natürlich ebenso auf dünnes Eis begeben – und, wie man dank „Videobeweises“ feststellen konnte – brüchiges Eis, welches den Einsturz zur Folge hatte. Seine fiktive Route existierte nicht, ich hatte Recht, dass er nach e3 gehörte. Dass er dort nicht landete, war selbstverständlich mein Verschulden, aber zumindest irrte ich darin nicht.

Was wäre also nun zu tun? Ich hatte ohnehin die Uhr gestoppt. Klar, dass er, in der Aufregung und der lange währenden Gewissheit, diesen Punkt bereits unterm Kopfkissen zu haben, ein wenig aufgebrachter reagierte. Nur war es eben eine falsche Behauptung, auf welche er sich stützte. Weiterhin war es nicht korrekt, die Uhr, ohne einen Schiedsrichter am Brett zu haben, wieder in Gang zu setzen. Dies wäre auf jeden Fall ein „Regelverstoß“ (auf welche man hier absolut nicht besteht, zumal die Bedeutung von Regeln ausgesprochen gering geschätzt wird). Das Neutralisieren der Uhr ist möglich, es ist sozusagen ein Protest, das Ingangsetzen der Uhr obliegt dem Schiri. Nicht aber, dass ich Martin deswegen böse gewesen wäre, vielmehr sieht man ja an der Reaktion am Brett, dass ich ziemlich unterwürfig reagierte und ihm sogar seine Version abzunehmen bereit war. Ich spielte auch brav weiter, kam gar nicht auf den Gedanken, dass hier etwas nicht stimmte, er dazu gar nicht autorisiert war.

Wir machten beide ein oder zwei Züge – und beide Zeiten zeigten eine 0.00 an, was absolut nicht verwundern kann. Das Remis wurde auch vereinbart, wenngleich Martin eigentlich Protest einlegte, diesen aber dann wohl zurückzog. Er war aber auf keinen Fall einverstanden mit dem Ergebnis und auch später noch eine Weile lang auf mich böse, obwohl ich mich mühte, das vor der Siegerehrung aus der Welt zu schaffen. Sein 2. Platz war ihm so oder so sicher, insofern hielt sich die Enttäuschung wohl doch in Grenzen. Auf diesen Umstand hatte ich ihn bereits am Brett aufmerksam gemacht.

bannersr12013-web-anz500Die Frage, die sich in allen Fällen stellt: was nützte einem hier ein ausgefeiltes Regelwerk? Es kommt am Brett sowieso anders, man reagiert spontan und emotional, meist in Form von Zügen, denkt nicht an die Regeln, könnte dies auch gar nicht, aber noch viel mehr hier diese Einschätzung: je mehr man versuchen würde, diese Einzelfälle regeltechnisch in den Griff zu bekommen, umso mehr würde man für Protestfälle Tür und Tor öffnen. Jeder hätte die Chance, den für ihn in der Situation günstigen Paragraphen herbeizuzitieren, noch dazu diente der Irrglaube, alles in Regeln erfassen zu können, dem Umstand, dass man sich auf das vermeintlich lückenlose Regelwerk stützen könnte, insofern -- ähnlich wie im Fußball, wo beispielsweise nach eigener Ansicht die Einführung der Gelben Karte nur dazu geführt hat, dass Unsportlichkeiten legalisiert wurden -- man sich nicht mehr auf den gesunden Menschenverstand berufen würde sondern halt auf Regeln, und damit sowieso Menschlichkeit und Sportlichkeit weiter verloren gingen.

Umgekehrt die Ansicht, dass man, sofern man auf alle Regeln verzichtet, außer die ganz wenigen der Gangart der Figuren und dass Zeitüberschreitung die Partie verliert und Matt die Partie ebenso beendet wie Patt, dafür sorgen könnte, dass man sich am Brett viel besser verträgt. Man weiß, dass man zur Beurteilung eines einzelnen Falles immer nur genau diesen Fall anschauen müsste und nicht etwa einen Wust von Paragraphen. Mit diesem Verständnis würden alle automatisch fair spielen, in einer idealen Welt... Daran glaube aber tut man hier als Autor.

 

Dienstag, 18 Dezember 2012 12:06

Fairplay im Schach (1)

Gedanken über Fairness im Schach (1)

Immer wieder ist zu beobachten, dass es zu Streitfällen kommt. Zugleich geschieht es selbstverständlich von Spielern, die sich persönlich für höchst fair halten und denen so etwas eigentlich nie geschieht, die zugleich ihr Gerechtigkeitsempfinden loben, die bei jedem eigens beobachteten -- aber nicht selbst beteiligten -- Fall empört mit den Fingern auf den von ihnen als Verursacher des Streits ausgemachten Übeltäter deuten und ihn in die Kategorie „unsportlich“ einstufen, nur um beim nächsten Turnier selbst in einen vielleicht sogar ähnlichen Fall verwickelt zu werden, der ihnen, durch die eigene Beteiligung und den stets einfließenden eigenen Ehrgeiz womöglich den Blick verklären, wie sie noch von außen unlängst die vergleichbare Sachlage beurteilt hatten.

jhis200Das Problem, welches hier ausgemacht ist und sehr generell, aber schon länger, einem als einzige Schlussfolgerung aus der Fülle der Beobachtungen blieb, ist diese: es hilft kein Regelwerk, um das zu verhindern, und das vorhanden Regelwerk hilft auch nicht im geringsten, mit diesen Fällen im Einzelnen klar zu kommen, nein, ganz im Gegenteil, meint man hier, als Autor, dass es sogar schadhaft wirkt, überhaupt den Versuch zu starten, dem Irrglauben nachzugehen, dass man, mit einer bemühten Verallgemeinerung, Herr werden kann über die so zahlreichen Facetten des Spiels selbst und auch der Ausprägungen, die so bald übergehen können in „das war aber unfair“ oder auch das Gegenteil davon, „das war aber sehr sportlich“. Jeder Fall ist individuell, und dies sehr speziell der Anlass, sich hier an einen derartigen Text heranzumachen.

Hier werden ein paar fast wahllose Beispiele gegeben, die deshalb angebracht werden, da sie nämlich genau zwei Vorteile haben: a) sie liegen nicht lange zurück und sind deshalb noch sehr genau in Erinnerung und b) sie wurden selbst beobachtet und man vertraut einzig dieser Beobachtung und nicht etwa Berichten von Beteiligten, die dann meist den einen Sinn haben: die eigene Fairness herauszustellen, die Unmöglichkeit des Verhaltens des Gegenübers oder aber, falls von einem Unbeteiligten kolportiert, dieser die Geschichte genau deshalb erzählt, sie für interessant hält, weil er nicht etwa auf den Pfaden der Objektivität zu wandeln gedenkt sondern ebenfalls eine Ungeheuerlichkeit im Verhalten eines Einzelnen aufzeigen möchte.

Fall 1: ein Großmeisterremis?!

Im jüngst von mir am Ende gewonnenen Schnellturnier beim SK Präsident kam es in meiner Partie gegen Jakov Meister zu einer recht dramatischen Partie. Er hatte mir bereits in der Eröffnung, im von mir so geliebten und noch immer mit Erfolg angewandten Aljechin, einen mir völlig unbekannten Zug vorgesetzt.

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Meister – Paulsen, Open des SK Präsident, 6. Runde, 8.12.2012, Schwarz am Zuge

Auf die haarsträubenden Verwicklungen ließ ich mich hier ein mit der Zugfolge 1. ... Sd5xc3 2. Df3xb7 Dd8xd4. Keine Ahnung, was der Computer dazu sagt, aber ich meinte nach der Partie, dass ich ein paar Mal einen recht klaren Gewinn für ihn gesehen hatte, worauf er ein wenig empört war. Natürlich sollte man Sc3: gerade in einer Schnellpartie nicht spielen, weil davon auszugehen ist, dass genau dieser Zug dem Gegner bekannt ist.

Ich rechnete am Brett, spürte, dass er es sicher kennen musste, und ließ mich dennoch auf die haarsträubenden Verwicklungen ein, die mich temporär einen Turm kosteten, die aber BEIDE Könige in Mattgefahren brachten Wie durch ein Wunder gelang es uns beiden, dort schadensfrei hindurchzukommen. Er machte zwar immer weiter Druck, aber es gab keinen entscheidenden Vorteil. Allmählich war sogar das materielle Gleichgewicht wiederhergestellt. Noch immer bedrohten seine Dame und seine Läufer meinen König, aber es gab kein Matt. Seine präzisen Züge brachten ihm dennoch diesen Vorteil ein: ein Endspiel, in welchem er einen Bauern mehr besaß UND das Läuferpaar.

Keine Frage, dass diese Stellung für ihn gewonnen war. Die Uhr zeigte bei beiden um die 2 Minuten Restbedenkzeit an, also genug Zeit, den Vorteil zu verwerten. Großmeister Meister machte seine Züge weiterhin mit großem Bedacht, während ich, geleitet von der allmählichen Gewissheit des unvermeidlichen Ausganges, eine gewisse Gleichgültigkeit an den Tag legte. Eine einzige Drohung war mir geblieben. Es war jene, irgendwann einmal durch einen Zufall meinen Springer gegen seinen mit meinem Läufer gleichfarbigen abzutauschen, so dass ungleiche Läufer übrig blieben. Auf die Uhr schaute ich bereits überhaupt nicht mehr, dass sollte, wenn jemals irgendetwas, dann seine Sorge sein.

Plötzlich gelang mir durch ein Springerschach der ersehnte Abtausch. Möglich, dass mein Gegner dies sogar gesehen und eingeplant hatte, drohte doch sein König an seinen freien a-Bauern zu laufen und meinen Läufer zu erobern?! Nur entdeckte ich sofort den Rettungszug: ich musste einen zweiten Bauern geben, damit seinen König vom Marsch ablenken und es gelang mir, mit meinem König den Weg abzuschneiden und an seine nun insgesamt beiden Mehr- und Freibauern am Damenflügel zu laufen. Am Königsflügel gab es je zwei Bauern, g- und h, die auf der jeweiligen Läuferfarbe festgelegt waren. Die Stellung musste nun also Remis sein, da er am Damenflügel c und a hatte, diese aber blockiert waren, und am Königsflügel gab es gar nichts zu holen.

Nun fiel mein Blick erstmals auf die Uhr. Was stellte ich fest? Er hatte noch 12 Sekunden, ich hingegen noch satte 55. Da habe ich mit dem schnellen Ziehen, durch die Todesverachtung ausgelöst, einiges herausgeholt. Auch dem Großmeister fiel nun dieser Umstand ins Auge. Ein kurzer, ausgetauschter Blick zwischen uns, und das Remis war per Händedruck besiegelt.

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Die Schlussstellung aus der Partie Meister – Paulsen. 1/2:1/2.

Nun war dies für mich persönlich nicht besonders spektakulär, nein, im Gegenteil, eher selbstverständlich, wenn überhaupt begleitet von der Freude, dass es mir gelungen war, diese Kloake zum Remis zu retten und damit meinen halben Punkt Vorsprung auf meinen Gegner zu wahren (er hatte bereits zuvor ein Remis abgegeben, hatte nun 5/6, ich 5.5/6).

Am Montag las ich aber im Bericht über dieses Turnier, dass es sich hier um eine sehr sportliche Geste meinerseits gehandelt hätte. Nun hat mich dies zwar gefreut – woran sich bis jetzt nichts geändert hat --, nur gab es mir den Anlass, darüber ein wenig zu philosophieren, vielleicht gar jenen, mich an diesen Text hier zu setzen, aber zugleich über ein paar Vergleichsfälle nachzudenken.

Diese Partie war nie und nimmer für mich mit schachlichen Mitteln zu gewinnen, im Gegenteil, war der Remisschluss ein insgesamt glücklicher.

Fall 2: Suchen Sie den Unterschied!

Am Mittwochabend hingegen spielte ich das Schnellturnier bei den Schachfreunden. In der letzten Runde bekam ich es mit Mark Müller zu tun, einem soliden 2000er. Er spielte die Partie zwar ab einem gewissen Zeitpunkt sehr stark, nur verbrauchte er Unmengen an Bedenkzeit. Es war eine durchgehend komplizierte Stellung entstanden, aber so ziemlich gegen Ende fand ich eine Abwicklung über mehrere Züge, dir mir ein Turmendspiel mit gleichen Bauern sicherte, nämlich jeweils zwei. Ich drohte nämlich bereits, in Nachteil zu geraten. Als das Endspiel entstanden war, hatte er weniger als eine Minute auf der Uhr, ich weit über 5, vielleicht sogar 7 oder 8. Verblieben waren sein g und c Bauer und bei mir g und h. Er kam nicht einmal auf die Idee, Remis anzubieten und hat auch nach der Partie kein Wort gesagt, also keines, was Richtung Unfairness ging.

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Mark Müller – Dirk Paulsen, Sfr Berlin Schnellturnier, 12.12.12, letzte Runde.

banner-seminarturnier300-anDies die Stellung, auf welche ich mich einließ in der Gewissheit, hier keinen Nachteil zu haben und die Stellung auf Sieg spielen zu dürfen. Nach 1. ... Tc6 2. Tb4 stand sein Turm auch passiv. Er lief mit dem König zum c-Bauern, ich an seinen g-Bauern, so wurde es zwar kompliziert, vielleicht auch objektiv Remis, aber es blieb eine spielbare Stellung mit Chancen für beide.

Natürlich hätte es sogar zum Remis für ihn gereicht -- rein von der Stellung her --  wenn er sich von seinem c-Bauern getrennt hätte und mit dem König am Königsflügel geblieben wäre. Aber selbst wenn er dies getan hätte, so gebe ich unumwunden zu, hätte ich die Partie niemals Remis gegeben. Meine Bauern standen in der Ausgangsstellung g7 und h7 und ich hätte jede Menge kleinerer Fortschritte erzielen können und die theoretische Remisstellung wäre mir vollkommen schnuppe gewesen. Ihm war das sicher auch klar, aber möglich noch viel mehr, dass ihm bei der Kürze der Restbedenkzeit dieser Gedanke nicht einmal kam. Er ging mit dem König rüber zum c-Bauern, ich mit meinem an seinen g-Bauern, er verbrauchte weitere Bedenkzeit. Obwohl die Stellung vielleicht sogar kurz vor Schluss noch immer Remis war bei präzisem Spiel war uns beiden klar, dass sie niemals zu halten wäre und an mich ging. Er hat dann auch noch einen Fehler gemacht - nicht verwunderlich -- und direkt aufgegeben, ziemlich zeitgleich mit der ZÜ.

Ich will damit nur sagen, dass es kleine Nuancen in der STELLUNG geben kann, die ein unterschiedliches Vorgehen aufdrängen. Es gibt sogar Fälle, da die Historie IN DER PARTIE eine Rolle spielt bei der Beurteilung von Fairness und Unfairness. Sogar ist dies teils der Fall bei meiner Partie gegen Mark Müller. Meine Wahl zu der Remisabwicklung fiel DESHALB so aus, da mir bereits dort klar war, dass es der einfachste Weg zum Sieg war. Komplizieren auf Teufel komm raus hätte nur die unangenehme Möglichkeit eines plötzlichen Schachmatts für ihn -- denn es gab schon Varianten, wo ich plötzlich Matt gewesen wäre vor der Abwicklung --  auf den Plan gerufen. Dem bin ich aus dem Weg gegangen und habe ihm das auch nach der Partie so gesagt, was er natürlich sofort verstand und akzeptierte.  Ich wickle zum Remis ab, um den Sieg sicher zu haben. Wenn man dies historisch einfließen lässt in die Beurteilung, fällt jene anders aus. Also: wenn er nun am nächsten Tage erzählen sollte, dass er von Paulsen in klarer Remisstellung über die Zeit gehoben wurde, dann wäre dies nur Teil der Wahrheit. Zur Remisstellung kam es NUR, weil der Sieg DAMIT gewiss war. Und dies alles andere als ein Einzelfall.

Zur Fortsetzung: Fairplay (2)

Samstag, 21 April 2012 03:16

Remis anbieten -- aber wann? (Teil 3)

 Nachdem es an gleicher Stelle bereits einen Text mit dem Titel „Aufgeben – aber wann“ zu lesen gab, soll es heute mal einen geben, der sich mit dem Remis anbieten beschäftigt. Wann sollte man es tun? Was gibt es noch dazu zu sagen?
Zunächst mal so viel: ein Remisangebot ist eine Option, welche jeder Spieler gleichermaßen ein Mal in der Partie zur Verfügung hat, und nach dessen Aussprache und Ablehnung man, laut Regeln, erst wieder das Recht dazu erhält, wenn der Gegner eines ausgesprochen hat und man dies seinerseits abgelehnt hat.
Selbst wenn sich dies von der Formulierung her halbwegs kompliziert anhört, so ist es doch eigentlich jedem Schachspieler eingängig. Man kann seine Option einmal ziehen, danach ist man – außer bei Annahme – zum Schweigen verurteilt und kann NUR NOCH seine Züge sprechen lassen.
Es gibt nun einige interessante Aspekte daran. Hier sollten einmal locker angeführt und aufgezählt werden:
1)    Was hat das Verhältnis der Spielstärken für einen Einfluss auf die Aussprache des Angebots?
2)    Gibt es ein paar ethisch-moralische, nicht in den Regeln verankerte Grundsätze, die man beachten sollte?
3)    Welche Absichten können sich hinter einem Remisangebot verbergen?
4)    Wann sollte man die Option zwecks Erreichens der Absichten ziehen?
5)    Wie sollte man persönlich auf Remisangebote reagieren?
6)    Wie lehnt man ein Remisangebot ab?

Da man als Autor selbst während der Aufzählung erst auf ein paar Aspekte traf, sollen diese nun doch systematisch abgearbeitet werden, natürlich möglichst nicht zu sehr in „Arbeit“ ausartend sondern eher in „Unterhaltung“ übergehend, selbst wenn gerne zum Nachdenken darüber anregend.

coveru1anzBevor dies geschieht hier noch der kurze Hinweis, dass das Remisangebot nach hier vertretener Ansicht genau den gleichen Stellenwert wie ein Schachzug hat. Wenn man am Zug ist, muss man alle Möglichkeiten erwägen. So lange man diese Option noch nicht gezogen hat, müsste man bei jedem Zug darüber nachdenken, ob es ein günstiger Zeitpunkt für ein Remisangebot wäre – egal, mit welchen Absichten verbunden. Und: man kann diesen speziellen „Zug“ ausführen an einer beliebigen Stelle, nur gilt auch bei ihm: er kann gut oder schlecht sein.

Die Option eines Remisangebots ist im Übrigen ganz gut vergleichbar mit dem Verdopplungswürfel im Backgammon. Man muss diesen auch sehr gekonnt einsetzen, um ein Optimum aus einer Partie zu holen. Ab und an gibt es den Aspekt, den Gegner hinein zu doppeln, indem man ihn zum rechten Zeitpunkt zwingt, ihn anzunehmen, in der Hoffnung auf eine fortan günstige Entwicklung, muss dies aber vor dem Wurf tun, ab und an hat man die Absicht, diesen möglicherweise günstigen Wurf noch abzuwarten, um den Gegner danach heraus zu doppeln, ihn also zur Kapitulation zu zwingen. Analog das Remisangebot. Wenn man die Option zum falschen Zeitpunkt ausspricht, ohne Aussicht auf Annahme, so hat man den Würfel aus der Hand gegeben, im auf Backgammon übertragenen Sinne. Man kann ihn (oder eben die Option) danach nicht mehr ziehen, man hat sein Recht verwirkt und hätte möglicherweise einen viel günstigeren Zeitpunkt verpasst, die Chance dazu vergeben, zu welchem der Gegner vermutlich kaum hätte widerstehen können.

Der Autor hat persönlich ein ziemlich gespaltenes Verhältnis zu dieser Option. So hat man in der eigenen Karriere diese Option sehr selten (vielleicht viel zu selten?!) gezogen, andererseits eine hohe Prozentzahl von Angeboten ausgeschlagen, etliche davon ohne eine sinnvolle Begründung, und vor allem, von diesem Angebot irgendwie herausgefordert, oftmals auf dem Brett den Blick für die besten Züge verloren, stattdessen Harakiri Aktionen durchgeführt, die oftmals weder das Remis in Reichweite hielten, geschweige denn, der eigentlichen Absicht, einen Sieg zu erzwingen, näher rückten, sondern stattdessen häufig genug geradewegs in den Abgrund führten.

Dennoch bleibt das Votum entgegen einer zu friedlichen Gesinnung. Dies hat einerseits die Ursache, dass man doch bitte schön, zwecks Entwicklung der eigenen Spielstärke immer mal schauen sollte, wie sich die Partie entwickelt und was noch so alles passieren kann (dies sollte sehr wohl eingedenk der lauernden Gefahren sowohl VOR gegnerischer Aussprache als auch DANACH geschehen). Dieser Vorschlag richtet sich vor allem an sich entwickelnde Spieler, die ruhig ihre Partien ausspielen sollten und nicht zu sehr die reinen Ergebnisse in den Vordergrund rücken. Andererseits gibt es stets den Aspekt des Zuschauerinteresses, welches gerade heutzutage, dank Internet live Übertragungen wieder einen mächtigen Aufschwung erlebt und es im Geiste des Spieles liegt, sich einen fairen Kampf zu liefern, und so lange es noch beiderseitige Chancen gibt, diese nicht dem Zuschauer – und auch nicht sich selbst – vorzuenthalten.

Insofern ist der Vorschlag, alle Partien einfach ausspielen zu lassen – wohl derzeit als „Sofia-Regel“ in die Praxis übergegangen -- eine sehr willkommene und wohl unterstützte, so gut sie denn praktikabel ist und friedfertig gestimmte Spieler nicht auf andere Art dahin treibt, wohin man sie nicht haben möchte: zu Zugwiederholungen oder Dauerschachvarianten, die möglicherweise gar auf Absprache hin erfolgen könnten, um die Regel zu umgehen. Der Grundgedanke an der Regelidee ist jedenfalls gut.

Bevor es nun wirklich hinein geht, die weitere Erläuterung der Regeln: man muss zu einem Remisangebot einen Zug ausführen und es mit diesem Zug aussprechen. Wenn man die Reihenfolge nicht einhält und zuerst anbietet, ohne zu ziehen, so hat der Gegner das Recht, sich einen Zug zeigen zu lassen, und danach das Remisangebot anzunehmen oder abzulehnen. Insofern ist die Einhaltung dieser Reihenfolge nicht bindend, nur sollte man es grundsätzlich vermeiden, den Gegner zu verärgern, da man ja ein Spiel spielt und keinen Krieg führt, und zugleich der Spruch „Gens una sumus“, wir sind alle des gleichen Geschlechts, alle eine Familie, der Leitspruch der Schachspieler ist.

Unbedingt vermeiden sollte man jegliche Aktionen während der Gegner am Zug ist. Vor allem nicht lange nach dem eigenen Zug Remis anbieten, wobei hier in den Regeln keine Zeitspanne verankert ist. Man muss einen Zug ausführen und mit der Ausführung Remis anbieten. Was nun, wenn der Gegner gar nicht am Brett ist? (nur ein Beispiel). Es gibt also eine Zeitspanne, aber es sollte sicher nicht mehr als wenige Sekunden nach dem Zug erfolgen.

1)    Was hat das Verhältnis der Spielstärken für einen Einfluss auf die Aussprache des Angebots?

Sicher ist dies der meist diskutierte Aspekt daran. Wann hätte der schwächere Spieler überhaupt das moralische Recht, ein Remisangebot auszusprechen? Von den Regeln her kann es ihm niemand verbieten, insofern dürfte man die Aufregung der stärkeren Spieler nicht ganz nachvollziehen. Er bietet Remis an, verschleudert sinnlos diese Option, man lehnt ab – und hat fortan Ruhe. Es ist wie ein schlechter Zug, den der Gegner ausgeführt hat. Es ist kein Schwein da, welches einen Baum anpinkelt und kein Hund, der den Mond anbellt. Der Unterlegene hat sich des Regelparagraphen bedient, hat eine Option gezogen, und, genau so wenig, wie er wusste, dass er DIESEN Springer nun wirklich nicht für JENEN Läufer hergeben sollte, oder er nicht wusste, dass in diesem Abspiel des Königsinders das Feld d4 eine tödliche Schwäche darstellt, so wusste er auch nicht, dass es nicht ein winziges Mikroprozent gab, welches den Gegner zur Annahme hätte verlocken können. Er hielt seine Stellung für komfortabel, dachte, er machte mit seinem Aufmarsch Eindruck, hielt sich ohnehin vor der Partie schon für „underrated“ und ist überzeugt, dass der Gegner das spürt, hatte gar in einer Runde zuvor schon einen ähnlich guten Gegner am Rande einer Niederlage, was auch immer die Motivation sein mag, und welcher Fehleinschätzung sie unterliegt: er tut es, absolut regelkonform, mit der Ausführung des Zuges.

Andererseits ist es auch klar, dass man sich als schwächerer Spieler auch in dieser Hinsicht weiter entwickeln kann, etwas lernen kann, so, wie man eben lernt, dass man einen Angriff möglichst erst nach Entwicklung aller Figuren und gesicherter eigener Königsstellung tun sollte oder dass man möglichst einen vereinzelten rückständigen Bauern auf einer offenen Linie vermeiden sollte. Genau so gilt auch, dass man sich doch am liebsten nicht blamieren möchte und, genau so, wie man schlechte Züge am liebsten vermeidet, gar grobe Einsteller, oder es lieber vermeiden sollte (siehe: Aufgeben – aber wann?), mit einem nackten König auf einem nur noch von gegnerischen Figuren besiedelten Feld herumzuirren, vielleicht in der völlig albernen Hoffnung, dass der Gegner einen ins Patt entweichen lässt oder – Gott bewahre – tot vom Stuhl kippt. In diesem Sinne eben sollte man sehr wohl die Aspekte im Auge behalten, mit welcher Chance das Remisangebot angenommen werden könnte und vor allem, welche spätere, viel günstigere, Situation man sich damit vergeben hätte, in der man vielleicht wirklich die Überredungskünste erfolgreich zum Einsatz hätte bringen können.

2)     Gibt es ein paar ethisch-moralische, nicht in den Regeln verankerte Grundsätze, die man beachten sollte?
3)    Welche Absichten können sich hinter einem Remisangebot verbergen?

Nun, ganz so einseitig wie zunächst oben beschrieben ist das Remis anbieten natürlich auch nicht. Denn: außer, dass man das Angebot zwar nicht zurücknehmen kann und, ab dem Moment der Aussprache, bis zur möglichen Ablehnung, durchgehend mit der Annahme  und damit der Manifestierung des Ergebnisses in der Tabelle rechnen muss, gibt es jedenfalls den Aspekt des „taktischen Remisangebots“.

banner-seminarturnier250-anDieses wäre dann auszusprechen, wenn man der Überzeugung ist, dass der Gegner tatsächlich ablehnt, da man ihn charakterlich sehr ordentlich einschätzen kann, dass aber in der Fortdauer der Partie, von diesem Angebot beeinflusst, plötzlich in der Zugwahl weit unter optimal abschneidet. Möglicherweise geht er Risiken ein, nur um den Nachweis der Sinnlosigkeit und Dummheit des soeben ihm zu Ohren gekommenen Vorschlages zu führen.

So könnte also ein „taktisches“ Remisangebot mit der verschleierten Absicht ausgesprochen werden, vielleicht selbst dem Sieg ein Stückchen näher zu rücken. So wenig man Werbung machen möchte für ein derartiges Vorgehen – aus eigener schlechter Erfahrung damit, aber auch aus anderen ethischen Überzeugungen heraus --, so Erfolg versprechend mag es dennoch sein.

Explizit soll hier NICHT auf derartige taktische Angebote eingegangen werden, welche sich auf Mannschaftskämpfe beziehen. Nur so viel möge einmal am Rande erwähnt sein – in der recht festen Überzeugung, dass der Leser ein derartiges Argument zuvor noch nicht gehört oder gelesen hat: sofern man beim Stande von 4:3 Remis anbietet, unabhängig von einer möglichen mehr oder weniger klaren Überlegenheit in der Stellung, so kommt dies, zu Ende gedacht, dem „Angebot“ gleich, den Gegner (also demnach die gegnerische Mannschaft) zur Aufgabe aufzufordern. „Gebt ihr den Kampf jetzt auf?“ ist etwa synonym mit „ich biete Remis“. Auch darauf möge man lieber verzichten und dieses Angebot (beziehungsweise die Kapitulation) dem Gegner überlassen.

4)    Wann sollte man die Option zwecks Erreichens der Absichten ziehen?
a.    Als besserer Spieler
i.    in vorteilhafter Stellung

Dies sollte nun das kleinste Problem sein. Wenn denn nun die Zeit drängt oder turniertaktische Erwägungen Vorrang haben, womöglich gar eine eigene Unpässlichkeit einer Verwertung des Vorteils im Wege zu stehen scheint, so „darf“ man natürlich als besserer Spieler jederzeit das Remis anbieten. Dass der Unterlegene sich verwundert die Augen reiben mag wird ihn wohl kaum daran hindern, einem vor Freude um den Hals zu fallen – und einzuwilligen.

ii.    in ausgeglichener Stellung

Natürlich auch ein derartiges Angebot zur Freude des Unterlegenen, der sich vielleicht noch auf eine längere Abwehrschlacht bis zur Erringung des Traumzieles eingestellt hat, und nun durch dieses Angebot „erlöst“ wird. Er schlägt vermutlich ein – ein kaum erforderlich zu erläuternder Ratschlag – und ist stolz und glücklich, wobei man als Besserer dann schon damit rechnen darf, dass man alsbald erfährt, wie einfach denn die Stellung Remis zu halten wäre – nur um während dieser Vorführung vielleicht doch leicht entsetzt den Kopf zu schütteln, da DIESER Weg nun ausgerechnet Schwierigkeiten bereitet hätte.

Jedenfalls ist es absolut legal und zulässig, wird aber wohl auch eher selten anzutreffen sein, höchstens, der von der Wertzahl her schwächere hat schon eine Weile lang konstant die besten Verteidigungszüge aufs Brett gebracht und so überzeugt, dass er weiß, wie es geht.

iii.    in nachteiliger Stellung

Dies ja eigentlich erst der diskutierbare Punkt. Wie groß darf der Nachteil sein, in welchem sich der Bessere befinden dürfte um dennoch ein Remisangebot ohne Rot zu werden über die Lippen zu bringen? Genau dies die (eine) heikle Frage.

Natürlich ist es jedem selbst überlassen, wie weit nach unten er seine Schamgrenze verschiebt. Beispiele aus der eigenen Praxis: als der Autor im Sommer 2011 in einer (wichtigen) Schnellpartie einmal einen klaren Vorteil verspielt hatte und dieser sich erkennbar ins Gegenteil verkehrte, der Gegner nur noch über einen deutlichen Zeitnachteil verfügte, kam auf die rettende Idee, einen Friedensschluss zu offerieren.  Der Gegner dankte höflich, führte seinen Gegenzug aus – und nach selbigem war man undeckbar in zwei Zügen Schachmatt.  Das war natürlich so peinlich wie es eben sein konnte, da man sich persönlich gut kannte, wurde jedoch die Entschuldigung sofort akzeptiert. „Kein Problem“ und „ebenso gute Freunde wie zuvor“.

Damit soll es für heute erst einmal genug sein, es folgt ein zweiter Teil, vielleicht gar ein dritter mit ein paar (mehr) praktischen, hoffentlich unterhaltsamen, teils kuriosen Beispielen. Bis dann!

Freitag, 24 Februar 2012 01:14

Spielstärke Maßzahlen – Teil 4

Sicher hatte man beim Herangehen an die Vorstellung dieses Systems gewisse Erwartungen. Aus Erfahrung weiß man, dass eine derartige Idee eigentlich nur auf Widerstand stoßen kann. Kasparov schreibt in seiner Buchserie „My great Predecessors“ einmal, dass er eine unglaubliche Kombination gefunden hatte, natürlich mit einem Opfer eingeleitet, und dass ihm diese Kombination von allen Seiten um die Ohren gehauen werden sollte. Warum die Konkurrenz nun, anstatt womöglich Beifall zu klatschen, einzig Freude daran hatte, die Fehlerhaftigkeit der Kombination aufzudecken, sich lediglich mühte, eine Verteidigungsidee zu finden, und selbst wenn es im Variantendschungel nur diesen einen winzig schmalen Grat gegeben haben sollte, den man nur mit übermenschlichen Kräften zu finden imstande wäre, und welcher auch, bei optimaler Spielführung beiderseits, nur im Remis (und nicht etwa in Gegners Sieg) mündet, dann, so die Überzeugung, würden sie wieder ruhig in den Schlaf finden, während sie andernfalls etwas quälen (dies eine eigene Weiterleitung der Gedanken), beantwortete er so:

„Brillance always seems to cause some kind of envy.“ Die Brillanz erzeugt Neid. Er führt weiter, dass sich jeder irgendwie die Frage aufwirft: „Why can´t I do that?“ Warum bin ich nicht darauf gekommen? Es kann nicht gut sein, so ist man überzeugt.

Nun ist dies eine kleine Geschichte, nur eine, zur Einleitung, zum Aufwärmen, zum Schmunzelnd vielleicht, und soll um Gottes Willen nicht zu irgendeinem Vergleich herhalten, am allerwenigsten mit der eigenen Person.

Es war jedoch bereits erwähnt, dass man mit der Aufdeckung von Schwachstellen rechnen würde, dass sie, speziell von dem Mathematiker, dem das System ursprünglich vorgestellt war (in ziemlich anderer Form) sogar in gewisser Weise gelungen war („das gibt es schon, Herr Paulsen!“), dass man aber dennoch bei der Überzeugung blieb, dass es besser ist als das verwendete System, und also zu dem Entschluss gelangte, es einmal darzulegen.

Nun stellte sich weiterhin die Frage, in welcher Form man es hier anbieten könnte. Auch damit hat man sich beschäftigt, vor allem in Absprache mit dem Betreiber der Webseite. Kürzere Texte, so das (eine) Zauberwort. Das andere war jenes: nur keine Formeln (dies eine eigene Überzeugung, dass es nicht gerade anziehen wirkt mit denselben). Also: verbal erörtern, herleiten, logisch erklären.

Die kleineren Häppchen bedeuten lange nicht, dass man auf noch ausstehende (oder eben in den Kommentaren gestellte) Fragen keine Antworten wüsste. Andererseits ist es ja unmöglich, ALLE Probleme auf einmal aus der Welt zu schaffen. Wie ginge das? Nur in einem kompletten Text, und dieser sollte ja gerade vermieden werden.

Also: man fühlt sich in einer Schusslinie und weiß nicht recht, wie man in sie geraten ist.

Ein weiteres Zauberwort lautet übrigens so: Kompetenz. Wie erlangt man sie? Es gibt hierzulande eine Neigung, diese ausschließlich an akademischen Graden festzumachen. Da diesseits der Tastatur kein derartiger Grad ins Feld geführt werden kann – und der kritische Leser vermutlich darüber sehr wohl informiert ist – wird eh alles in Frage gestellt. Es kann ja gar nicht stimmen, was der Mann schreibt, da er nachweislich von nichts eine Ahnung hat. Nun ja, in diesem Problem sah man zweifellos die größte Hürde (und fühlt sich bestätigt). Insofern jedoch dienten die kleinen, kurzen Textpassagen bisher der möglichen Zusprache einer gewissen Kompetenz. Möglich, dass dieser Versuch bereits jetzt als gescheitert angesehen werden muss.

1) Eine einfache Überprüfungsmöglichkeit für die Formel

kurz vorher noch einmal die „Formel“. Man dividiert seine Spielstärke p1 durch 1-p1, also p1/(1-p1). Dieser Quotient ist die Maßzahl für das Verhältnis von gewonnenen Punkten zu abgegebenen Punkten. Für den Gegner tut man das gleiche. Sein Quotient ist p2/(1-p2). Diese beiden Quotienten dividiert man durcheinander und erhält den Quotienten q. Dieses Ergebnis q ist die Zahl, in welchem Verhältnis sich die 100 zu vergebenden Prozente aufteilen müssten. Um also für beide Seiten ihre Prozentzahlen zu ermitteln muss man nun 1/(q+1) errechnen. Dies ist die eigenen Erwartung, Der Gegenwert 1- 1/(q+1) davon ist die Erwartung des Gegners. Die Summe der beiden Erwartungen ist 1.

Es wurden also derartig viele Kritikpunkte angefunden, allesamt untermauert mit Kommentar Verfassers eigener, überragender und jene des ursprünglichen Autors weitaus in den Schatten stellender Kompetenz (welche sich oftmals in der Bombardierung mit Formeln und Zitaten, also rein und anerkannt „wissenschaftlicher Arbeit“, darstellt), dass man kaum weiß, wo man anfangen soll mit der Aufarbeitung.

In Teil 3 war zu lesen, dass die Formel stimmt und nicht weiter überprüft werden müsse. Nun ist dies anerkanntermaßen unzulässig, wie angemerkt wurde. Nur war es eben andererseits nicht geplant, einen Formelwald zu hinterlassen. Wie man auf Formeln kommt, dies muss jeder, der daran Freude hat, für sich selbst herausfinden. Man spürt, dass es eine korrekte, richtige Verrechnungsmöglichkeit der verfügbaren Größen gibt und man muss sich dieser annähern. Sofern die Verrechnungsmöglichkeit fehlerhaft ist, wird es sich recht bald herausstellen.

Eine exzellente Möglichkeit, es herauszufinden, besteht immer darin, Anforderungen an das System für Trivialfälle zu überprüfen: erfüllt sich das, was ich als Ergebnis erwarte, in jedem dieser einfachen Fälle?

Hier gibt es zwei Trivialfälle: der eine ist der, dass vor einer Schachpartie einer der beiden Spieler 50% als Spielstärke hat. Hier war die Voraussetzung gemacht, dass die Spielstärke eines jeden Spielers ausdrücken soll, wie viel Prozent er gegen den Durchschnittsspieler erzielt (oder besser: zu erzielen erwartet). Insofern müsste man, bei Einsetzen in die Formel der Werte „eigene Spielstärke“ und „Gegners Spielstärke bei 50%“ als Ergebnis eine Erwartung für die Partie in Höhe der eigenen Spielstärke herausbekommen.

Dies ist auf einfachste Weise erfüllt: man dividiert, laut Formel, die eigene Prozentzahl, also die SpielSTÄRKE, durch die abgegebenen Prozente, in dem Sinne also die „SpielSCHWÄCHE“. Dieser Quotient ist eine Verhältniszahl, welche die Spielstärken untereinander vergleichbar macht. Wenn man dies für beide Spieler tut, dann erhält man für den Spieler mit den 50% einen Quotienten von 1 (50/50=1). Bei Division des eigenen Verhältniswertes durch 1 bleibt man stets auf seinem eigenen Verhältniswert. Wenn man nun die Erwartung zurückrechnet auf 100%, so hat man exakt die eigene Spielstärke als Erwartung für die Partie gegen den Durchschnittsspieler. Trivialfall 1: die Formel erfüllt die Bedingung.

Der andere Fall ist der, zwei gleich starke Spieler gegeneinander antreten zu lassen. Nun ist der Fall auch hier denkbar einfach: man erhält für beide den gleichen Quotienten bei der oben beschriebenen Division, dividiert man diese beiden Quotienten durcheinander, so erhält man garantiert eine 1, wenn man diese 1 nun auf 100% aufteilen möchte (nach der angegebenen Formel: 1/(1+1)), so erhält man eine 1/2 beziehungsweise eine 50% Erwartung für beide Spieler.

Nichts anderes hätte man (abgesehen von der Schwarz-Weiß Problematik, die später erörtert werden soll) zu erwarten: zwei gleich starke Spieler haben gegeneinander jeweils 50%. Also: Trivialfall 2 ist ebenfalls von der Formel abgedeckt.

Ein sehr gutes Indiz dafür, dass die Formel richtig ist. Bei weiteren wesentlichen Berechnungen stellt man im Übrigen fest, dass man niemals den Bereich 0 bis 1 verlassen kann. Auch dies ein Kriterium für Stimmigkeit.

Rein intuitiv, und da möge man sich an die eigene Kindheit entsinnen, bringt übrigens die Formel genau das zum Ausdruck, was eben Kinder ab und an untereinander sagen: „Ich bin 10 Mal besser als du.“ Wenn es tatsächlich so ist, so wäre die Aufteilung nicht etwa 90:10, denn das wäre ja nur 9 Mal so gut, sondern tatsächlich müsste sie sein 90.9090 : 9.0909, wie man ziemlich einfach, allein an den beiden Zahlen sieht: sie dividieren sich mit dem Ergebnis 10.

Ergeben täten sich diese Werte auf höchst vielfältige Weise (wie man in einem selbstverständlich kritischen Kommentar auch auf komplizierteste Art hergeleitet, mühsamst erkennen konnte). Es gäbe dementsprechend keine ganz schlichte Funktion, an der man erkennen könnte, dass man nun gerade gegen einen derartigen Gegner die Erwartung von 90.0909 hätte. Andererseits: wozu bräuchte man diese?

Die angegebene Formel ist so einfach, dass sie jeder Schachspieler ohne jeglichen Aufwand innerhalb von kürzester Zeit erlernt hätte und sie damit stets zur Hand hätte, um die Erwartung in seiner anstehenden Partie zu bestimmen. Und dies, so sei versichert, steht im sehr krassen Gegensatz zur Elo-Formel, bei der selbst die vereinfachte Form (welche durch die Vereinfachung noch dazu unrichtig ist) kaum je einer aus dem Ärmel schütteln könnte.

2) Die Notwendigkeit eines Prognosesystems

Eventuell darf man ja, zur Erlangung von Kompetenz, eine kleine Vorgeschichte aus dem eigenen Leben erzählen, diese in der Ich-Form, wenn es genehm ist? 

Im Jahre 1983 begegnete ich das erste Mal dem Wetten auf Sportereignisse. Es handelte sich um einen englischen Anbieter, SSP Overseas Betting. Da ich parallel an der Uni bereits ein erstes Fußballprogramm entwickelt hatte, welches sich mehr und mehr in Richtung Prognosenerstellung entwickelte, schien mir dies ein ideales Betätigungsfeld. Zeitgleich hatte ja nebenbei auch noch eine (recht erfolgreiche) Backgammon Karriere begonnen (unter anderem mit dem Gewinn des Superjackpots bei den Weltmeisterschaften in Monte Carlo im Jahre 1988), so dass das Denken in Wahrscheinlichkeiten mir ein mehr und mehr vertrautes wurde.

Dennoch habe ich zunächst eine Ausbildung (Software Entwickler) abgeschlossen (anstelle des Mathe-Studiums, denn in jener Zeit waren Entwickler gefragt), und mich ein paar Jahre als Angestellter verdingt. Jedoch ruhte ich nicht, meine Entwicklung daheim voranzutreiben.

Im Jahre 1990 war es so weit: pünktlich zur WM hatte ich ein lauffähiges Programm auf dem heimischen PC, welches sich mit Voraussagen (im Sinne von Wahrscheinlichkeiten) auf Fußballspiele verstand. Der Job wurde gekündigt und eine Karriere als professioneller Spieler eingeschlagen, selbst wenn eingangs noch nicht ganz bewusst (ich war überzeugt, dass man die Software oder die Ergebnisse derselben gut verkaufen konnte, was sich eigentlich auch bestätigte, nur spielte ich einfach „nebenbei“ auf diese Zahlen).

Das Ergebnis war, über die Jahre gesehen, in etwa ein (ziemlich genau aufgezeichneter) Gewinn von 3.5%.

Natürlich kommt man mit der Zeit mit diesem und jenem Menschen zusammen, aus der gleichen Branche, und begegnet auch dieser oder jener für den Wettmarkt interessanten Sportart. Ich hatte einen leidenschaftlichen „Tennismann“ kennen gelernt, der mich fragte, ob da nicht etwas ginge.

Ich setzte mich daran und entsann einen Algorithmus, mit welchem man möglichst gute Prognosen auf Tennis Matches erstellen konnte. Der Grundstein war rasch gelegt, die Formel zur Berechnung eines Matches (nach einem Einstiegsdenkfehler, welcher über die erbeuteten Einzelpunkte versuchte, sich anzunähern, bei welchem man jedoch alsbald feststellte, dass er die Realität nicht abbildete. Der Grund, eher ein Reporterbegriff, aber zufällig ein wirklich stimmiger: es gibt die „Bigpoints“, bei welchen sich die Spreu vom Weizen trennt; gerade Pete Sampras war dafür bekannt, sich auf ein Break oder auch den tiebreak zu konzentrieren, und er schenkte viele Punkte und damit Spiele einfach her als Rückschläger, sogar, letztendlich ökonomisch gesehen, aus Gründen der Zeitersparnis, wenn man es zu Ende denkt).

Die Formel ist jene, welche in dieser Serie hier präsentiert wird. Sie ist also entstanden im Zusammenhang mit dem Spiel Tennis. Die Idee, dieses System auf den Schachsport zu übertragen, kam erst viel später (selbst wenn mir bewusst war, dass die gefundene Möglichkeit auf jeden Einzelsport abbildbar wäre).

Dies alles ist nur erwähnt, um begreiflich zu machen, dass man auf ein System zur möglichst guten Prognose – im Sinne von Wahrscheinlichkeiten beziehungsweise von Punkterwartungen, wenn man so möchte – angewiesen war. Ich MUSSTE gute Prognosen erstellen können. Dafür muss einerseits der Algorithmus logisch, mathematisch korrekt, einwandfrei und nachvollziehbar sein, zugleich aber auch die beiden Probleme der Neueinsteiger (bis heute ein unleugbares, auch auf Schach bezogen) und jenes der Update Geschwindigkeit, also der Anpassungsparameter gelöst werden, welche – wie in einem Kommentar vorzufinden, damit zum Versäumnis erklärt – unabdingbar hinzugehören.

 3) Die Anpassungsparameter

Dieses Problem war ich grundsätzlich bereits angegangen im Jahre 1990. Selbst wenn damals vom Sport des Fußballs her, so ist doch die Überlegung, wie man es tut, analog, Schach, Fußball, Tennis, beliebig. Auch dieses Vorgehen erschien mir sehr einfach und logisch. Das System dazu, hier möglichst kurz, hoffentlich anschaulich, erörtert:

Sofort einsichtig scheint doch, dass man die Qualität einer Prognose daran erkennt, inwieweit sie von der Wirklichkeit abweicht. Bevor dies näher erläutert wird, zunächst noch die wichtige Vorüberlegung, dass man, sobald man zwei verschiedene Prognosen hätte, die bessere der beiden anhand der Höhe der Abweichung bestimmen könnte.

Nun, auf Schach bezogen (warum nicht, da es gleichgültig ist, dank der Analogie), heißt das doch dies: wenn man eine Prognose abgibt, auf eine einzelne Partie, von 0.62 Punkten für den Favoriten, dann wird man auf jeden Fall eine Abweichung erhalten. Wenn der Favorit gewinnt, wäre sie 0.38, wenn die Partie Remis ausgeht wären sie um 0.12 Punkte verfehlt, wenn der Außenseiter gewinnt, wären es gar 0.62 Punkte. Eine Abweichung ist unvermeidlich und es wäre fraglich (aber hier nicht näher erörtert), ob Gott es tatsächlich vorhersagen könnte, oder ob er es den kleinen, nichts ahnenden Menschenkindern überlässt, was sie ausbaldowern, er es also selbst nicht einmal weiß und auch nicht wissen möchte.

Falls die Partie denn nun Remis ausginge, so könnte der Favorit mit den Schultern zucken (natürlich jeder andere auch), und behaupten, dass er gerne ein Match über 100 Partien gegen den Gegner spielen würde, dann würde er sicher auf seine 62 Punkte kommen. Er könnte weiterhin behaupten, stets näher am Sieg gewesen zu sein, sich also von oben ans Remis angenähert zu haben, und damit seiner Favoritenrolle, selbst wenn nicht zählbar, so doch irgendwie „moralisch“ gerecht geworden ist.

Unstreitig dürfte aber dennoch sein, dass derjenige, der, mit einer alternativen Prognose, nur 0.61 Punkte prognostiziert hätte, im Falle des Remis eine geringere Abweichung und damit, für diese Partie, eine bessere Vorhersage getroffen hätte.

Wenn man dieses Verfahren nun fortsetzt, auf viele Partien anwendet, und jeder der beiden mit seinem eigenen Prognosesystem vorhersagt und anpasst, so würde man doch ziemlich gewiss einen Sieger küren können. Der hat eine geringere Abweichung insgesamt, dieses System wird demnach (erst einmal) als besser angesehen.

Nun verfügt man leider, im Sinne der Optimierung, nicht über zwei unabhängig voneinander eingehende Prognosen. Oder halt, vielleicht ja doch? Was, wenn man sie selbst und höchst eigenhändig einfach erzeugt? Man vergleicht zwei von einem selbst gefertigte Prognosen miteinander, wie wäre das denn?

Die Datenbasis ist da. Es muss nur die Chronologie eingehalten werden. Und eine gewisse Logik bei der Abarbeitung. Jede Partie wird, in chronologischer Reihenfolge, einzeln ausgewertet. Der Unterschied, den die zwei „Systeme“ haben, ist lediglich die Anpassungsgeschwindigkeit. Man tut dies selbstverständlich mit einem Programm, welches so instruiert wird (und dieses kennt zwar die Ergebnisse der zukünftigen Partien, jedoch berücksichtigt es diese nicht, um eine bessere, dann natürlich möglich: optimale Prognose, zu erstellen).

Also, sozusagen „heureka“, hier ist die Methode zur Ermittlung der optimalen Anpassungsgeschwindigkeit. Man arbeitet alle Daten systematisch ab, mit einer gewissen Anpassungsgeschwindigkeit. So erhält man pro Partie eine gewisse Abweichung zwischen prognostizierter Punkterwartung und eingetroffenem Ergebnis. Da, wo die Summe der Abweichungen am geringsten ist, hätte man den optimalen Wert.

Nun, so ganz ist man noch nicht am Ziel. Denn: was tut man mit den Neueinsteigern? Und dann noch diese Frage: sollte man davon ausgehen, dass es Spieler gibt, bei denen sich verlässlich weniger tut und solche, wo es sich garantiert mehr bewegt? (denn das ist, was tatsächlich im Elo-System vorausgesetzt, angenommen einfach so, getan wird). Dies betrifft einerseits die Neueinsteiger, die ja, selbst bei erfolgter Initialisierung, noch über ein höheres Entwicklungspotenzial (in der Regel nach oben) verfügen, andererseits aber womöglich auch die wirklich etablierten Spieler, bei welchen sich viel weniger bewegen sollte (dies zu überprüfen).

Einen Sinn ergäbe die Überlegung auf jeden Fall, nur stellen sich selbst da noch die folgenden, weiter gehenden Fragen: ist die Entwicklung der Neueinsteiger eine logische oder hängt sie doch viel mehr mit dem Alter zusammen? Neueinsteiger sind meist jung, aber vielleicht entwickelt sich ein älterer Neueinsteiger nicht sprunghaft sondern ähnlich gemächlich wie ein älterer, etablierter Spieler? Und diese noch: hängt die Entwicklungsgeschwindigkeit nicht doch vielleicht am meisten von der Höhe der Zahl ab? Kriterium dafür (dies jedoch ein speziell schachliches Problem): aufgrund der Komplexität des Spiels erscheinen die Ausgänge bei niedrigeren Spielstärkekategorien weitaus zufälliger. Es fehlt ein Turm – kein Problem, man bekommt ja gerade die Dame zurück, aufgrund eines Einstellers, oder hat eine Mattdrohung aufgestellt, die der Gegner übersieht. Mal ein Figürchen mehr, mal zwei Bauern weniger, mal einem eigentlich tödlichen Angriff ausgesetzt – für die Prognose der Partie unter Anfängern noch lange keine Anhaltspunkte.

Nun, sofern allseits akzeptiert (wie ja bei Elo wohl der Fall) könnte man diese Phänomene natürlich, nach ebenso festen Kriterien, mithilfe der Zahlenbasis und des beschriebenen Vorgehens überprüfen. Man versucht nach und nach, den insgesamt gemachten Fehler zu reduzieren mit den eigenen Prognosen. Sobald man das Minimum hat, hätte man die optimale Einstellung.

Zur Neueinsteiger Problematik noch dieser kurze Vorschlag: in Ermangelung anderer Kriterien (welche im Übrigen stets subjektiv und damit ungeeignet wären) habe ich beim Tennis alle Neueinsteiger stets mit dem Durchschnittsergebnis der Neueinsteiger belegt. Da sie insgesamt über die Jahre auf etwa 42% gewonnene Matches kamen, hatten sie auch diese Einstiegszahl (sie hatten natürlich eine Performance von 42%, was aber vermutlich in etwa 1:1 ist mit der Anzahl gewonnener Matches). Selbstverständlich könnte man zu jedem Zeitpunkt diesen Wert aktualisieren. Wenn es also in 20 Jahren im Schach so wäre, dass die Neueinsteiger auf 45% kämen, dann würde man sie vernünftigerweise auf diesen Wert initialisieren.

Dies ist nur eine Einstiegswertung, eine, die Grundannahme ist für die erste gespielte Partie (das erste gespielte Match). Das Ergebnis wird selbstverständlich ausgewertet, die Spielstärke angepasst und fortan mit diesem Wert weiter gerechnet. So weit man es beurteilen kann, dürfte es darüber keine besonderen Beschwerden geben. Zumal es natürlich klar ist, dass man in den ersten Partie stets (wie bei ICC und anderen Schachservern längst üblich) mit einem hohen – bei dem System jedoch derart optimierten – Anpassungswert startet. Die Anzahl der Partien, oder ob es mit jeder Partie abnehmend geschieht, sollte man zunächst abstimmen gut überlegen (nur wegen der Transparenz), und dann dem Optimierungsdurchlauf im Programm überlassen.

Da gäbe es natürlich noch ein paar weitere Verbesserungsmöglichkeiten, dies soll nur andeuten, dass man sich durchaus, und vor allem aus gegebenem Anlass, darüber Gedanken gemacht hat. 


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Spielstärke Maßzahlen

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 2

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 3

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 4

Donnerstag, 16 Februar 2012 13:43

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 3

Da es nun offensichtlich sehr lebhafte Diskussionen gibt soll der dritte Teil schon jetzt angeführt werden. Dabei soll, anstatt in Kommentaren auf die einzelnen Problempunkte eingegangen zu werden, dieser Text im Wesentlichen an den vom Leser hinterlassenen Kommentaren orientiert sein, ohne selbstverständlich eine gewisse Weiterentwicklung des vorgestellten Systems gänzlich zu vernachlässigen.

1) Die Bandbreite der Zahlen

Ein angesprochenes Problem war die Bandbreite der Zahlen, wie es hier bezeichnet werden soll. Man möchte sich ungern als 30%-Spieler bezeichnen, so hieß es, und auch ein 53%-Spieler zu sein klänge nicht gerade prickelnd.

Dazu sei angemerkt:

Punkt 1: der allseits so bewunderte Albert Einstein hat uns beizubringen versucht, dass sich alle Dinge nur relativ zu einander verhalten. Es ist also ausgeschlossen, eine Sache als uneingeschränkt oder objektiv „groß“ zu bezeichnen. Sie ist es bestenfalls im Verhältnis zu einer anderen. Dies betrifft ebenso die Spielstärkemaßzahlen.

Punkt 2: Ein früherer Arbeitskollege brachte das Phänomen derart komödiantisch auf den Punkt: „Man gewöhnt sich an allem. Auch am Dativ.“ Ja, so ist es. Man gewöhnt sich zwangsläufig an die Höhe der Zahlen, ebenso in ihrer Vergleichbarkeit. Wenn jemand also tatsächlich in der Spielklasse der 30%er auftritt, so wird es ihm sicher nach einer Weile genau so viel Genugtuung verschaffen, von 30% auf 35% aufzusteigen durch gute Ergebnisse, wie es einem 1500er dereinst, wenn er auf 1600 anstieg, durch zwei gute Turniere als Beispiel.

Punkt 3: Zwischen zwei beliebigen reellen Zahlen befinden sich unendlich viele reelle Zahlen. Dieser mathematische Satz zeigt nur, dass man die Spielstärken auf jedes beliebige Intervall abbilden könnte, insofern bietet sich das Intervall 0 bis 1 viel mehr an als jenes zwischen –unendlich und +unendlich, weil es dort eben unbeschränkt wuchern kann, mit völlig unabsehbaren Folgen. So war beispielsweise jüngst nachzulesen (ohne die Quelle angeben zu können), dass das Problem von negativen Wertzahlen auftauchte, bei Nachwuchsturnieren. Die Elo-Inflation geht also nicht nur in den positiven (und auch dort unbeschränkten) Bereich, sondern auch anders herum. Man könnte dies virtuell beliebig erzeugen und damit das Problem nachweisen, indem man eben eine Vielzahl von Ergebnissen erzeugt, bei einer Menge von zugrunde gelegten Schachspieler, unter realistischen Bedingungen. Man könnte sehr wohl nach einer Zeit (seien es auch 100 simulierte Jahre) sehen, dass es sich um ein systemimmanentes Problem handelt. Sofern man sich mit möglichen, aber vorsätzlich unrealistischen, Ergebnissen müht, könnte man vermutlich nach einer gewissen Vielzahl von Partien das Intervall sowohl ins Positive, also zwischen 3000 und 6000 verschieben, als auch es auf –2000 bis +1000 tun. Dies soll nur die angeführte Willkür der Zahlen unterstreichen.

Übrigens wurde eine Bremse auch dort eingebaut, damit es nicht zu diesen negativen Zahlen kommt, in Form einer Untergrenze. Natürlich auch dieser „Kunstgriff“ mathematisch unsauber, wie vieles andere am Elo-System. Andererseits nachvollziehbar, da man sich gut vorstellen kann, dass ein Kind nach der ersten Auswertung, sobald es erfährt, dass es eine Spielstärke von –60 Punkten hat, die Figuren mitsamt dem sie befördernden Händen (möglichst nicht gleich dem Kopf!) an den Nagel hängt. „Ich hab gehört, du spielst Schach. Wie gut bist du denn?“ „Na, ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll. Äh, meine Spielstärke lag im negat... aber ich spiele ja längst nicht mehr.“

Punkt 4: Gerade, um die Inflation unmöglich zu machen sollte ja das neue System vorgeschlagen werden (um nur einen Pluspunkt zu nennen). Die Inflation geschieht zwangsläufig bei Elo. Wobei gerade hier die Ansicht vertreten wird, dass der zwar zufällig aufgetretene(und nicht unbedingt gewollte) Effekt tatsächlich ebenso zufällig das Anwachsen der Spielstärken von Generation zu Generation zum Ausdruck bringt. So dürfte es kaum Zweifel geben, dass ein reinkarnierter Bobby Fischer, mit seiner exakten Spielstärke von 1972 – also dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft – nicht mithalten könnte mit der Weltelite von heute. Bitte dabei berücksichtigen, dass er EXAKT MIT DEM WISSEN VON DEM ZEITPUNKT direkt ans Brett gerufen werden müsste. Sobald er eine „Vorbereitungszeit“ eingeräumt bekäme, wäre natürlich vieles denkbar, je nach ihrer Dauer (so dass er sich auf den Wissensstand bringen könnte).

Punkt 5: Da das angebotene System sich auf viele andere Sportarten übertragen ließe (selbst auf Mannschaftssportarten), wäre es möglich, diese Sportarten untereinander zu vergleichen. Also: jemand, der im Snooker bei 65% liegt könnte behaupten, dass er in seiner Sportart besser wäre als ein Schachspieler, der bei 60% liegt. So problematisch dies wäre (eine genaue Untersuchung dessen an anderer Stelle), es gäbe immerhin diese Möglichkeit. Dies führt direkt zu...

Punkt 6: Da man sich nun Sportarten übergreifend vergleichen könnte, bestünde natürlich die Möglichkeit, dass sich jemand noch mehr zu schämen hätte, sofern er angeben müsste, in seiner geliebten und betriebenen Sportart „lediglich bei 30%“ zu liegen. Andererseits: ist es denn wünschenswert, dass man einem Laien einfach seine 1500 an den Kopf knallt, und dieser dann, aus Unwissenheit, die Kinnlade runterklappt, um staunend zu erwidern: „Wow, bist du gut.“? Abgesehen davon könnte man dem Laien einfach anraten, einmal ein Turnier mitzuspielen, um zu sehen, wie schwer es ist, dort mitzuhalten. Er könnte keinesfalls unter 0% landen, jedoch sich bedrohlich in die Nähe bewegen...

Man würde dies wohl nach und nach sogar einstufen können. Vielleicht empfindet man 30% gar nicht mehr als so peinlich, wenn man erfährt, dass der Nachbar im Tennis nur bei 22% liegt und der Vorgesetzte sich im Badminton bei stattlichen 33% befindet, womit man gleich einen Motivationsschub erhält, ihn alsbald zu überflügeln?

2) Die Anpassungskoeffizienten

Dies jedenfalls ein heiß diskutiertes, aber zugleich heikles Thema. Bekannt ist noch aus sehr viel früheren Tagen, dass man zum Einstieg, altersunabhängig, mit einem Koeffizienten von 25 berechnet wurde. Dieser diente, im Vergleich zu den später verwendeten 15 beziehungsweise, ab Elo 2400 einem von 10 und ab 2600 nur noch von 5, der rascheren Anpassung an die wahre Spielstärke. Denn: es schien ausgeschlossen, dass ein Spieler gleich im ersten Turnier, durch puren Zufall, konsequent eine seinen Fähigkeiten entsprechende Leistung bringt. Das ist weit mehr als nur vernünftig.

Ebenso trifft es auf Jugendliche zu, dass sie sich schnell entwickeln und dabei meist in die eine Richtung: nach oben. Insofern wird diesen wohl bis heute eine raschere Entwicklung ermöglicht durch die Verwendung eines höheren Anpassungskoeffizienten. Die Realität wird damit abgebildet, es kann nicht falsch sein. Nur hat man sich damit zugleich das kleine, erst später erkannte Problem aufgehalst: dem gesamten System werden dadurch permanent mehr Punkte zugeführt als ihm entzogen werden. Ein sich entwickelnder Jugendlicher gewinnt mehr Punkte hinzu, als der ältere, von ihm soeben besiegte Gegner, dem System entzieht. Einer gewinnt 10 Punkte, der andere verliert 4. Im Übrigen wird es sich (in allen Sportarten) wohl verlässlich so verhalten, dass die Talente dabei bleiben und jene, die nach und nach erkennen müssen, über keines zu verfügen (sprich: sie stagnieren irgendwann in der Entwicklung), das Spiel aufgeben (beileibe nicht alle, aber sicher einige). Dies hat den zusätzlichen Effekt, dass jene, die dem System ihre Punkte nach und nach zurückgeben könnten (da sie eben stagnieren, nichts mehr für das Spiel tun, außer ab und an zu spielen und Punkte zu verlieren), dies eben durch den Rückzug nicht tun. Die Folge: die beobachtete Inflation, der man sich unmöglich verschließen kann.

Ein kleiner Beweis übrigens für den Effekt der Inflation: als im Internet beim ICC-Server, die Spielstärken recht rasch angepasst wurden, nur um für mehr Action zu sorgen, konnte man fast live und täglich (und in Farbe, ja, ja!) beobachten, wie die Zahlen explodierten. So waren bald Zahlen von 3200 keine Seltenheit mehr (und dies würde sich locker übertragen lassen, sofern die gleiche Anzahl von Turnierpartien gespielt würde wie Blitzpartien, fast noch unabhängig von der willkürlichen, schnelleren Anpassung).

Der nächste Teil dieses Problems lässt sich besser auf den folgenden Abschnitt, jenen mit dem Titel...

3) Beide Systems sind Prognosesysteme

übertragen.

Vor der Partie wird im Prinzip eine Punkterwartung berechnet. Dies bringt zum Ausdruck, dass man sich mühte, eine möglichst gute Prognose zu erstellen. Es besteht sowohl ein Erfordernis dafür, als auch hat dies Folgen: man muss möglichst gut liegen mit der Prognose, um die daran orientierte Anpassung möglichst gut vornehmen zu können. Wenn man also quasi willkürlich für eine Spieler in einem Turnier eine Gesamterwartung von 6.23 Punkte errechnen würde, diese aber in Wahrheit bei 5.48 liegen würde, dann würde er, sofern er denn 5.5 Punkte erzielt, trotz des objektiven Erfüllens der Erwartung eine Strafe in Form von einem Elo-Verlust erleiden. Nein, die Erwartungen sollen möglichst exakt die Wirklichkeit abbilden, no matter what...

Das Elo-System ist ein Prognosesystem, egal, wie sehr man es auch weiterhin als „Spielerei“ (was die Spieler selbst übrigens, wie auch unter anderem kritisch angemerkt wurde an manchen Stellen, in den Kommentaren, absolut nicht tun; eher im Gegenteil) ansehen mag: so ist es und so ist es auch beabsichtigt.

Nun sollen diese Vorhersagen also möglichst exakt sein, um vor allem für eine korrekte Anpassung zu sorgen. Jeder wird sicher seine eigene Entwicklung im Auge haben und sich vielleicht auch an sprunghafte Steigerungen erinnern (waren sie bei Ihnen zufällig auch in den Jugendjahren?), wird sich an die schlechte Phase erinnern, als man die Trennung hatte oder auch jene Zeit, als man frisch verliebt war und alles andere in Kopf und Gliedern hatte, nur noch so „nebenbei“ der Pflicht in den Mannschaftskämpfen nachgegangen ist und dabei, aus eigener Sicht „zwangsläufig“ nach und nach 100 Punkte einbüßte, wohingegen man später, mit neu gewonnenen Enthusiasmus heranging und tatsächlich einen Schub beobachten konnte bis zum persönlichen Peak, welchen man sicher, so meint man, dann wieder erreichen könnte, wenn einen Familie und Job nicht so sehr in Anspruch nehmen würden und man vor allem am Wochenende, wo Körper und Geist so dringend die Erholung nötig hätten, auch noch um 7 Uhr aus der Koje müsste, um sich rechtzeitig um 9 Uhr, weit außerhalb, zum Mannschaftskampf am Brett einzufinden, und unter diesen Umständen nun garantiert nicht zu der Höchstleistung fähig ist.

Also: man erkennt einen gewissen Zusammenhang zwischen Befähigungen, Leistungen, Engagement und auch zeitgleich der angegebenen Maßzahl für die Spielstärke. Sie entspricht, hier mehr, dort etwas weniger, den gezeigten Leistungen und, selbst wenn sich eigentlich jeder für besser hält, erkennt man doch an, dass sie so halbwegs stimmt (wehe nur, man gibt sich mal richtig Mühe!).

So soll es sein und möglichst für jeden bleiben. Insofern sind die veränderten Anpassungskoeffizienten erforderlich, da sie ein, selbst wenn nur frei ersonnenes, Abbild der Wirklichkeit darstellen. Also: die Bemerkung: „Es ist nicht gerecht, dass ein Jugendlicher mehr Punkte gewinnt als ein älterer, trotz des gleichen Ergebnisses“ ist schlichtweg falsch, irrig. Die schnellere Anpassung des Jugendlichen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer besseren Prognose für die nächste Partie führen. Man nimmt seine Spielstärkeentwicklung ein wenig vorweg, aber dies aus gutem Grund. Bei dem Älteren, der doch schon so viele Partie gespielt hat, weiß man doch in etwa, was man von ihm zu erwarten hat. Heute Hui, morgen Pfui, das ist schon seit Jahrzehnten so bei ihm. Warum ihm den gleichen Zugewinn bescheren wie dem jüngeren? Er wird die Punkte nur schön brav im nächsten Turnier wieder abführen, da man nämlich mit der schnelleren Anpassung die Realität nicht abgebildet hätte.

Auch das eigens entwickelte, wirklich sehr schlichte, aber dadurch nicht schlechtere, System ist dafür geeignet, nein, noch mehr ist es so ausgelegt.

4) Die einfache Formel

Um nun noch ein bisschen voranzukommen, soll die einfach Formel hier einmal kurz vorgestellt werden: die Zahlen sollen in den Bereich von 0 und 1 abgebildet werden, und damit natürlich viel mehr Verwandtschaft mit dem hergestellt werden, was man tatsächlich erzielt. Man erzielt nämlich Prozente und nicht etwa eine Performance von 1755, die absolut nichts sagt, außer für den, der damit zufällig etwas anfangen kann. Diese Abbildung könnte einmalig erfolgen, als Beispiel könnte man zunächst in etwa den weltweiten Elo-Schnitt nehmen und diesen zur 50%-Marke erklären, nur um einen Einstieg zu haben.

Alle anderen Zahlen werden daran orientiert, gerne kann man dies tun mit der (keineswegs insgesamt schlechten) Elo-Formel. Wie gesagt, dabei handelt es sich um eine einmalige Initialisierung des Systems. Also, wie ein Schachfreund im Kommentar vorrechnete, entsprechen 80 Punkte Differenz in etwa 10 Prozentpunkten Unterschied, so könnte man jede Zahl in das Prozentsystem übersetzen. Wenn also der weltweite Elo-Schnitt derzeit, nehmen wir an, bei 2000 liegt, dann hätte ein Spieler mit Elo 2000 die Spielstärke 50%, jener mit 2080 hätte (in etwa) 60%, derjenige mit 1920 hätte 40% (wobei man auf den später wichtigen, erkennbar nicht linearen Verlauf der Kurve achten sollte).

Zu jedem Zeitpunkt übrigens könnte man, so man denn ein Erfordernis sieht, die Spielstärken wieder auf einen Schnitt von 50% „normieren“. Man nimmt alle gelisteten Spieler zusammen, errechnet also die Summe, dividiert sie durch die Anzahl der Spieler, hätte so einen Wert von 48.3% oder 54.6%, und würde jede Spielstärke mit dem Korrekturwert 50%/48.3% beziehungsweise, im anderen Fall, mit 50%/54.6%, multiplizieren, um im Anschluss bei Aufaddierung und Division wieder bei exakt 50% zu landen, dem Schnitt aller Spieler. Es würde in gewisser Weise der Realität entsprechen, da ja weiterhin nur 50% der Punkte zu vergeben sein werden (es sei denn, dass im Schach auch demnächst die 3-Punkte-Regel eingeführt würde!).

Dies nur für den Fall, dass weiterhin irgendjemand Angst vor einer Inflation hätte. Sie könnte jederzeit eingedämmt, nein, aufgehalten werden, man könnte dies sogar einmal jährlich routinemäßig durchführen. Der Aufschrei der einzelnen Spieler dürfte recht mäßig ausfallen, da jedem einzelnen bewusst sein dürfte, dass er absolut keine Punkte eingebüßt hätte durch den Eingriff (sofern der Schnitt zum Zeitpunkt des Eingriffs bei über 50% lag), sondern dass jeder vertretene Spieler die im Verhältnis exakt analoge Einbuße erfahren hat.

Übrigens gäbe es keinerlei Probleme mit dem System, an keiner Stelle, sofern man diese Normierung nicht, niemals, vornehmen würde. Eine „Inflation“ entstünde bestenfalls in dem Sinne, dass sich alle allmählich näher an 100% heranarbeiten (also der Schnitt, aufgrund der oben erklärten „Jugendlichenregelung“, sich langsam nach oben bewegen würde). Dies könnte jedoch tatsächlich, wie ebenfalls oben erklärt, ein Abbild der Wirklichkeit sei. Denn: von Generation zu Generation werden die Spieler wirklich besser. Es gibt mehr Wissen und es ist leichter zugänglich. Es kann nicht anders sein als in anderen Sportarten, selbst wenn der Weitsprungweltrekord in den letzten 40 Jahren nur einmal verbessert wurde (da allerdings von ZWEI Springern)...

So, nun wirklich die ganz schlichte Formel, zunächst intuitiv hergeleitet: wenn ein Spieler eine Spielstärke von 80% hätte, dann bedeutete dies, dass er 80% seiner Partien gewinnt und 20% verliert (Remisen bitte vergessen, es ist eine verbale Erklärung; man könnte hier auch sagen, dass er 80% erzielt und 20% abgibt, egal, wie viele Partie gewonnen oder verloren). Also ist sein Verhältnis eines von 80 geteilt durch 20. 80 macht er, 20 gibt er her, 80 geteilt durch 20 ist gleich 4.

Wenn sein Gegner nur 60% Spielstärke hat, dann hat dieser analog ein Spielstärkeverhältnis von 60 zu 40, also 60 geteilt durch 40, dies ist gleich 1.5. Es spielt also der Spieler mit einem Verhältnis von 4 gegen einen Spieler mit dem Verhältnis von 1.5. Für die Partie ergibt dies (noch unabhängig von dem später möglichen Schwarz-Weiß Korrekturfaktor) ein Verhältnis von 4 geteilt durch 1.5 zugunsten des Besseren. 4 geteilt durch 1.5 ist gleich 2.667.

In diesem Verhältnis nun, so erzählte uns die Erwartung, müssten sie sich die zu vergebenden 100% aufteilen. Der Bessere bekommt 2.667 Mal so viel von 100% als der Schwächere. Damit man auf diese Zahl kommt, muss man 100% durch 2.6667 + 1 teilen. Genau dann teilen sich diese beiden Werte so auf, dass beide Bedingungen erfüllt sind (wie man hoffentlich einfach erkennt). Der Schwächere erhält dadurch 100 geteilt durch 3.667.

Dies wären 27.27%, der Favorit hätte die verbliebenen 73.73%. Wenn man nun, nur zur Probe, 72.73 durch 27.27 teilt dann erhält man, oh Wunder der Mathematik, genau 2.667, das Verhältnis ihrer Spielstärken.

Eine Überprüfung der Formel ist wohl nicht weiter erforderlich, man könnte sich höchstens fragen, warum man so (scheinbar) kompliziert vorgehen muss. Es liegt daran, dass man eben im Bereich von 0 bis 1 (dort, wo sich Prozente befinden), immer in Verhältnismäßigkeiten rechnen muss. Der vorgestellte Weg ist der einzig richtige zur Berechnung.

So viel nun erstmal für heute, ob man nun wieder für angeregte Diskussionen sorgen kann oder möglicherweise etwas mehr Klarheit hineinbrachte?


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Spielstärke Maßzahlen

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 2

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 3

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 4

Freitag, 10 Februar 2012 10:02

Spielstärke Maßzahlen – Teil 2

Hier nun der Teil 2 der versprochenen Serie

Natürlich soll die Serie am Ende darauf hinauslaufen, dass ein verbessertes System vorgestellt wird. Die Mängel des Elo-Systems sind sicherlich zu einem Gutteil bekannt, sollen dennoch hier nach und nach angesprochen werden – um zugleich eine Umgehungsstrategie anzubieten.

Da nun ein vielfältiges Vorgehen möglich ist, soll es heute doch bereits geschehen, dass zumindest eine Beschreibung für das von mir als einfacher, besser und anschaulicher angebotene System vorgestellt wird.

Zunächst aber noch so viel über das Elo-System: die Grundannahme, dass die Spielstärken normal verteilt sind, kann natürlich nicht wirklich falsch sein. Nur hat es sich nach meiner Ansicht in der Praxis herausgestellt (dies sozusagen als „intuitive Qualitätskontrolle“, welche negativ ausfiel), dass die Berechnungen bei sehr hohen Elo-Differenzen falsch sind. Einerseits könnte man in diesem Zusammenhang nun nach Ursachen dafür forschen, andererseits die Auswirkung (damit die gemachte Beobachtung) erklären.

Zunächst: was konnte beobachtet werden, was einen bedenklich stimmt in Fragen der Zuverlässigkeit und Wirksamkeit des verwendeten Systems? Das größte wohl dieses: sofern eine große Differenz in der Elo-Zahl zweier Spieler vorliegt, entsprechen die errechneten Erwartungen nicht den tatsächlichen Ergebnissen. Darüber liegen mir keineswegs genauere Zahlen vor, jedoch die Beobachtung, dass sehr starke Spieler regelmäßig Elo-Punkte einbüßen, sobald sie bei Open Turnieren mitspielen und dort, zwangsläufig, gegen (meist deutlich) niedriger eingestufte Gegner spielen müssen.

Sicher könnte man nun meinen, dass dies zuerst nachzuweisen wäre. Das System ist so logisch aufgebaut – so die einhergehende Argumentation --, dass es ja gar nicht sein kann. Gegen einen 100 Punkte schlechteren Gegner hat man diese Erwartung, gegen 150 Punkte schlechter jene, dann muss sie doch, streng nach Formel, gegen einen 500 Punkte schlechteren so sein? Nein, ein Nachweis ist nicht ganz einfach zu führen, da man ja eine gewisse Festlegung der Auswahlkriterien für eine ausgewertete Partie für diese Statistik festlegen müsste, und dazu das Ergebnis eine zufällige Abweichung darstellen könnte, noch dazu vom die Statistik Anfertigenden zu dessen eigenen Gunsten (traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, nicht wahr?) durch eine günstige Auswahl oder die frei wählbaren Auswahlkriterien manipuliert worden sein könnte.

Nein, verlässlicher ist diese Beobachtung: sehr gute Spieler meiden die Teilnahme an Turnieren, in denen sie deutlich niedriger eingestufte Konkurrenz zu erwarten hätten. So wurde schon mehr als einmal das Argument vernommen, von hochrangigen Spielern: „Ich spiel kein Open. Ich mach mir doch meine Zahl nicht kaputt.“ Trotz der zu erhoffenden günstigen Chance, das eigene Budget aufzubessern wird dies vermieden. Alternativ: man verzichtet auf die Eitelkeit und findet sich, als Open-Spieler, damit ab, etwas unter Wert eingestuft zu sein. Höheren Ambitionen steht dieses Verhalten jedoch im Wege.

Das Elo-System funktioniert recht gut, keine Frage. Man sollte eben nur wissen, dass man am besten stets mit ähnlich eingestuften Spielern spielen sollte, und dort nach und nach, bei besonderen Ambitionen, allmählich in den Klassen aufsteigen. Wenn man unter 2000ern spielt, dann kann man sich bis 2200 verbessern, mit normalem Spiel und normal (guten) Ergebnissen. Danach sollte man jedoch in der Klasse von etwa 2200ern spielen, um einen weiteren Aufstieg realistisch zu machen. Wenn man sich dann dort bis zur 2400 aufschwingt (beispielsweise als Heranwachsender) sollte man dringend (natürlich dann vom Verband gefördert) die Kräftemessen mit 2400ern suchen, um sich bis in die Großmeisterriege hochzukämpfen. So ein normaler, natürlicher Werdegang eines Talentes.

Eine Konsequenz übrigens dieser gemachten Beobachtung: ab Elo-Differenzen von 600 Punkten tritt der sehr bedenkliche Fall ein, dass die Erwartung des Favoriten (mit den verwendeten, vereinfachten Formeln) gegen 1 tendiert. Es gibt dadurch Fälle, die bedeuten, dass man, durch die Verschlechterung des Schnitts durch einen solchen Gegner, trotz des eingefahrenen Sieges, Elo-Punkte einbüßt. Und dies kann nun wirklich nicht Sinn der Sache sein. Da ist was faul, das ist offensichtlich. Bekannt dürfte das Problem ebenfalls sein, selbst wenn nur, auf die beschriebene Art „intuitiv“.

Um nur zwei praktische Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit anzugeben, die dieses Problem plastisch machen: beim Pfingst Open in Berlin, ausgerichtet vom SC Zugzwang, im Mai 2011, erzielte Großmeister Jakob Meister ein, wie ich finde, achtbares Ergebnis mit 4.5 aus 5. Man kann einfach nicht erwarten, an seiner Stelle und auch sonst wohl kaum, alle Partien in so einem Turnier zu gewinnen. Gegen die Nummer 2, meine Wenigkeit, blieb das Duell bei der geringen Rundenzahl (und recht hoher Teilnehmerzahl) aus, dennoch kam er gegen einen seiner um 2000 rangierenden Spieler, nach meiner Ansicht „erwartungsgemäß“, nicht über ein Remis hinaus, übrigens mit den schwarzen Steinen (wofür Elo keine veränderte, geringere Erwartung anbietet). Die Folge: da seine Elo-Zahl weit über 2400 lag, so meinte das stupide System, hätte er 4.56 Punkte zu erzielen gehabt. Eine Einbuße von 3 Elo-Punkten waren die Folge – und die musste er in Kauf nehmen. Nicht verwunderlich, wenn er sich sagen würde: „Nun spiele ich ein wirklich gutes Turnier, ohne größere Wackler, und bin mit der Ausbeute durchaus zufrieden. Mehr war kaum drin. Ich verliere aber Elo? Nein, bei so etwas spiele ich nicht mehr mit.“ (Möge es der Leser der Eitelkeit zuschreiben, dass hier erwähnt wird, dass ich ihm den 1. Platz mit der gleichen Punktausbeute dennoch vor der Nase wegschnappen konnte. Dank meiner geringeren Elo-Zahl von um die 2370 habe ich ein kleines Plus erwirtschaftet. Nur spürt man einfach, dass man das Optimum erzielen muss, um nicht Punkte einzubüßen).

Ein anderes Beispiel war dieses: beim Winter Open Ende 2011 bekam ich es, als Nummer 2, mit der Nummer 1 und der Nummer 3 zu tun. Die Ausbeute von 5.5/7 war durchaus stattlich, zumal sie 1.5 Punkte gegen die beiden (mit)besten Spieler einschloss. Gegen den Rest, ebenfalls um die 2000 angesiedelt, reichte es „nur“ zu 4 aus 5. Insgesamt zu wenig, meint Professor Elo. Eine Einbuße von 0.6 Elo-Punkten ging einher. Kann das wirklich richtig sein?


Als Antwort auf die Frage, ob es denn nicht besser ginge – in vielerlei Hinsicht – und das erfolgte „Ja, es geht“, besteht natürlich die Aufgabe darin, dieses eigens entwickelte System vorzustellen.

Da es sich hierbei erst um den zweiten Teil der Serie handelt und auch längst noch nicht alle Probleme des Elo-Systems aufgedeckt wären (von denen hier nur kurz, in gewisser Weise zum Erwecken der Vorfreude gedacht, diese erwähnt sein mögen: Elo-Inflation; Schwarz-Weiß Problematik; Zufälligkeit der Zahlen, welche sich genauso zwischen 300 und 1000 oder 6 und 15 bewegen könnten anstatt zwischen 1000 und 2800, im Vergleich zu einem logischen Aufbau; Vorhersage der Remiswahrscheinlichkeit für ein wahrhaftiges Prognosesystem; vergleichbar machen von verschiedenen Spielen und/oder Sportarten), soll nur kurz, entgegen obiger Ankündigung, die Metrik dieses neuen, vorgeschlagenen Systems vorgestellt werden.

Da man jedermanns Turnierergebnisse auch gerne in Prozentangaben macht, und diese sogar für das Elo-System zwecks Auswertung errechnet werden müssen, erschiene es doch zweckmäßig, die Spielstärken in diesen Prozentzahlen zu messen? Ein Spieler der Spielstärke 70% hätte demnach in etwa, auf sein Leben gerechnet, 70% der möglichen Punkte erzielt, ein Spieler der Spielstärke 40% dementsprechend 40%.

Ganz klar, dass es hier nur lauten kann, von Lesers Seite aus: „Veto!“. Wurde doch gerade an dieser Stelle, ein paar Zeilen zuvor, darauf aufmerksam gemacht, dass sich jeder Spieler nach Möglichkeit innerhalb seines Spielniveaus vergnügen solle. Eine Folge des permanenten Spielens auf dem „eigenen Niveau“, also dem Nachkommen dieses Vorschlages, für alle Spieler, wäre ja diese: jeder Spieler spielt in etwa um die 50%. Demnach wären ja dann, diese Metrik zugrunde gelegt, alle Spieler gleichstark?

Nein, das genaue Gegenteil wäre der Fall. Selbst wenn man das Maßsystem verwenden würde, für jeden Spieler seine Spielstärke in Prozent anzugeben, würden sich die Unterschiede ganz zwangsläufig ergeben. Zunächst mal würde ja ein Aufstieg in eine höhere Klasse dann erfolgen, wenn ein Spieler sich aus der Klasse, aus welcher er gerade hervorgehen möchte, deutlich abhebt, also weit mehr als 50% erzielt. Angenommen, er spielte bisher in der Klasse der tatsächlich 50%-Spieler. Wenn er dort zuverlässig und regelmäßig 60% erzielen würde, so gehörte er, von der Spielstärke her, natürlich viel mehr in die Kategorie der 60% Spieler. Steigt er nun auf, so würde er, sofern er nun in der Klasse seiner tatsächlichen Spielstärke angelangt ist, zwar „nur noch“ in etwa 50% der Punkte erzielen, dies würde aber, da er ja gegen Gegner der Spielstärke 60% spielt, sein Niveau von 60% halten.

An dieser Stelle noch zwei kurze Anmerkungen, bevor dieser Abschnitt geschlossen werden soll: sobald man sich müht, mathematische Inhalte vorzutragen, hat man diese zwei Möglichkeiten: sich wirklich als mathematisch denkender Mensch zu „outen“ (denn, wie einem die Erfahrungen lehren, ist es tatsächlich ein „outen“) und zwar möglicherweise einigen Respekt zu ernten, jedoch keineswegs Verständnis geschweige denn, dass es gelänge, auf Menschen zu treffen, die sich die Mühe machen würden (außer vielleicht ein paar der sich bereits vorher selbst geoutet habenden Leidensgenossen), diesen mathematischen Argumentationen (in Form von Formeln) nachzugehen.

In diesem Sinne soll die erfolgte verbale Argumentation verwendet werden, welche jedoch zugleich die Gefahr beinhaltet, als absolut nicht mathematisch denkendes Hirn aufgefasst zu werden – und insofern der Sinn entfiele, den weiteren Ausführungen, da offensichtlich von einem blutigen Amateur ersonnen, Folge zu leisten. Dieser „Drahtseilakt“ wird versucht, in dieser kleinen Serie zu bewältigen. Hört man dennoch zu, obwohl einem Scharlatan aufgesessen? Hörte man dann zu, wenn mit Formeln bombardiert?


Eine kleine Geschichte am Rande, nicht unbedingt zum Studium empfohlen:

Eine weitere Anmerkung bezieht sich auf die folgende kleine Geschichte: da ich mit diesem System an der richtigen Stelle bei einem mathematischen Institut vorstellig wurde, gibt es natürlich eine, nennen wir es „Beurteilung“ (ohne dass der Leser das System anhand der wenigen einleitenden Worte bereits kennen würde). Diese fiel so aus: „Es gibt nichts Neues, Herr Paulsen, das kann ich Ihnen versprechen, dass das schon jemand vor Ihnen entdeckt hat.“

Tatsächlich förderte der Herr nach drei Nächte langer Suche zutage, dass ein gewisser Ernst Zermelo im Jahre 1929 bereits in diesem Sinne fündig wurde. Ich erhielt die Zuschrift per Mail – und damit war seinem Ego Genüge getan. Die Tatsache, dass das System dennoch unabhängig entdeckt wurde, spielte natürlich (und zurecht) gar keine Rolle. Dass es aber tatsächlich besser ist als das derzeit verwendete, war demzufolge kein Gesprächsthema mehr. Es gibt es, es gab es vor Ihnen, das genügt doch?

Nun, um die kleine Anekdote zum Abschluss zu bringen: ich hatte dem ungenannten Herren dieses kleine, von mir, so darf ich in unendlicher Arroganz behaupten, „nebenbei“ entdeckte System (es gelang in ein paar Tagen, ohne übertriebenen Zeitaufwand, damals aber noch in der festen Überzeugung, dass es, da so einfach, natürlich längst existieren würde, ich es also nur kurz für mich herleiten müsse anstatt nachzuschlagen, was ich eh nie tue), nur vorgestellt, um ihm zu zeigen, dass ich durchaus in der Lage bin, mathematische Modelle eigenständig zu entwickeln und logisch zu präsentierten.

Das, was ich ihm eigentlich vorstellen wollte, war ein ganz anderes, wirklich komplexes, aber nachweislich funktionstüchtiges System (zur Qualitätsprüfung von Wahrscheinlichkeitsvorhersagen), von welchem er selbstverständlich die gleichen Auffassungen vertrat: „Das gibt es schon.“ Als er nicht wirklich fündig wurde, begann er, alternativ dazu (aber natürlich logisch nachvollziehbar, da es nach seiner Ansicht nur deshalb nicht existiert, weil es nicht funktioniert, klar), die Schwächen des Systems zu suchen. Als er meinte, mit zwei Dingen fündig geworden zu sein, antwortete ich, dass mir diese beiden Schwachstellen bekannt seien, dass ich sie nur, da bisher nicht erforderlich, noch nicht behoben hätte, die Behebung aber spielend leicht nachliefern könnte.

Als er zwei Tage später die Nachricht mit den behobenen Schwachstellen erhielt, gab es gar keine Reaktion mehr. Wie deutet man das?


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Spielstärke Maßzahlen

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 2

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 3

Spielstärke Maßzahlen -- Teil 4

Freitag, 13 Januar 2012 11:20

Spielstärke Maßzahlen

Dies soll der Beginn einer kleinen Serie werden, da mir Jörg Hickl gewisslich versichern konnte, dass ihr, liebe Leser, bevorzugt mundgerechte Häppchen gegenüber einem kompletten Menü, dies aber in einem Gang serviert, bekommt. Da ich mich nun gerne als völlig ungebildet bezeichne – und dies nicht aus Koketterie sondern aus voller Überzeugung heraus tue – überlasse ich euch die Freude, meine Ideen nicht nur als bekannt und uralt zu bezeichnen, sondern zugleich sie als weder praktikabel noch überhaupt richtig, sowie allesamt als längst verbessert, aber dennoch aus guten Gründen alsbald, von sicher weit klügeren Köpfen, verworfen, nachzuweisen.

Eine kleine Anekdote hier nur noch zum Nachweis meiner völligen Ahnungslosigkeit: als ich einen Schachfreund bei einer S-Bahn Anfahrt zu einem Schachturnier traf, welche er sich mit einem guten Buch vertrieb, ich hingegen mit dem Lösen eines Sudokus beschäftigt war, schaute ich zwar durchaus interessiert auf den Buchtitel und den Autoren, jedoch kannte ich weder dies noch jenes. Als ich dann von meinem eigenen Leseverhalten erzählte, meinte er, es gäbe dazu Vorbilder (und dies das Zitat eines mir ebenfalls namentlich nicht bekannten größeren Schriftstellers) : „Das bisschen, was ich lese, schreibe ich mir selbst.“ Genau so ist es. Wie, bitte schön, soll man nur auf diese Art den eigenen Horizont je erweitern können?

In gewisser und allmählicher Überleitung zum Thema: die Spielstärken werden in Elo-Zahlen gemessen. An dieser Stelle darf ich für mich in Anspruch nehmen, nicht völlig ungebildet zu sein, denn, ein befreundeter Schachspieler, zugleich Mathematik Professor (bei welchem ich einige Vorlesungen hörte), empfahl mir das Buch des Arpad Elo als Lektüre – und ich konnte seinen Vorschlag, welcher einer Bitte gleichkam, kaum ausschlagen. Sicher ist eine Menge Gutes daran, an diesem System.

Es ist sogar das beste mir bekannte Spielstärkemesssystem, welches wirklich und offiziell im Einsatz ist. Im Vergleich zum Tennis, dem Fußball oder noch schlimmer, dem Bridge: nur im Schach sind die Berechnungen halbwegs vernünftig (ohne die anderen Systeme an dieser Stelle mit all ihren offensichtlichen Mängeln vorstellen zu wollen).

Jedoch, man hört es  heraus, eben nur halbwegs. An dieser Stelle soll zunächst einmal die Frage aufgeworfen werden, wozu das System eigentlich verwendet wird und wozu es verwendet werden sollte. Denn: mathematisch gesehen müsste die Absicht sein, eine möglichst gute Prognose für den Ausgang einer Schachpartie zu liefern. 

An dieser Stelle beginnen bereits die erheblichen Mängel. Bevor ich jedoch darauf näher eingehe: Sicher nehme ich kaum an, dass es ein Schachspieler ernsthaft als „Prognosesystem“ auffasst?! Es wird eher als kleine, aber doch ziemlich realistische Zahlenspielerei aufgefasst, bei der man sich nach den gewissen und bekannten Gegebenheiten zu richten hat. Man muss sozusagen akzeptieren – und denkt selbst darüber nur in geringen Maßen nach --, dass man bei einer Niederlage gegen einen Schwächeren so und so viele Punkte einbüßt, bei einem Remis so viele und bei einem Sieg so wenige hinzugewinnt. So gehen die Berechnungen, so ist es halt. Was diese Veränderung in der Spielstärke für den Ausgang der nächsten Partie bedeutet, inwieweit sich die Chancen für die folgende Partie mit der eigentlich nun veränderten Zahl verschieben, das ist nun wirklich eine Frage, die nur Kleingeister interessiert. „Ich habe 10 Punkte verloren. Jetzt muss ich mich anstrengen, um die zurückzuholen.“ ist das Maximum, was einen gewöhnlichen Schachspieler interessiert. Und wenn es nicht in diesem Turnier oder in dieser Auswertungsperiode gelingt, dann vielleicht in der nächsten.

Eigentlich jedoch dient die Berechnung der Erwartung, welche im Anschluss mit dem tatsächlichen Ergebnis abgeglichen wird (und somit die Veränderungen der Zahlen der beiden Spieler bewirkt), als eine Prognose. Da es sich jedoch um eine Prognose handelt, bestünde ja die Möglichkeit, die Qualität dieser Prognose zu überprüfen. Eine mögliche Absicht davon wäre: die Berechungsformel der Veränderungen zu optimieren. Nun, die Qualität dieser Prognose kann auf zwei Arten überprüft werden – welche beide später vorgestellt werden sollen. Jedoch gibt es diese, und darauf möge sich der Leser zunächst verlassen.

Bevor ich aber auch darauf näher eingehe, möchte ich die im verwendeten System bereits verankerten „Korrekturparameter“ untersuchen. Tatsache ist nämlich, dass es offensichtlich als bekannt gilt, dass die Ergebnisse für jeden Spieler und dessen Entwicklung unterschiedliche Bedeutungen haben. Hierbei werden zwei Größen – welche, zugegebenermaßen am besten objektiv sein sollten, und nicht individuell (selbst dazu viel später ein paar Ideen) – verwendet: die eine ist die Spielstärke, die andere das Alter. Ohne ganz genau die Bedingungen dafür zu kennen, kann ich nur so viel gesichert sagen, dass die Folge diese ist, dass sich jüngere Spieler rascher entwickeln sollen (sicher der Realität entsprechend), und dass sich höher eingestufte Spieler, die einen gewissen Nachweis der Qualität ihres Spieles erbracht haben, sich danach langsamer entwickeln sollen. Sprich: der Einfluss des letzten Ergebnisses ist unterschiedlich je Spieler, jedoch ausschließlich abhängig von diesen beiden Größen.

Abgesehen davon gibt es, so weit mir bekannt, nur drei verschiedene Anpassungswerte, mit welchen gerechnet wird. Wenn dies der einzige Mangel wäre: nach meiner Einschätzung sind diese Werte eines Tages völlig willkürlich festgelegt worden. Selbst wenn sich ein vernünftiger Grund dahinter verbirgt – welchen ich nicht in Abrede stelle --, so wäre die Größe der Werte dennoch zunächst zu ermitteln und nicht einfach festzulegen. Im Internet Chess Club beispielsweise wird, rein zur Unterhaltung und, nach Ansicht der Veranstalter zum größeren Spielspaß, ein wesentlich höherer Anpassungsparameter verwendet, nur damit sich die Zahlen schneller bewegen und verändern. Hier wäre sogar der Nachweis, dass die reine Willkür Einzug gehalten hat, in der (anerkannten) Absicht, den Spielspaß zu erhöhen. Ob das wirkt ist die eine Frage, ob die Anpassungen etwas mit der Realität zu tun haben die andere, welche an dieser Stelle schlichtweg und ziemlich überzeugt sowie garantiert mit „Nein“ beantwortet werden kann.

Ob man nun mit diesen einleitenden Worten einen Vertrauensvorschub verdient hat, welcher den Verzehr des nächsten kleinen Häppchen schmackhaft macht, bleibt abzuwarten (und dem Leser überlassen). Dennoch soll dieser Text zunächst, quasi als Aperitif, genügen.


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Spielstärke Maßzahlen

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Mittwoch, 11 Januar 2012 01:07

Aufgeben-aber wann?

1) Ein paar philosophische Vorüberlegungen

Sicher wird sich jeder schon mal darüber Gedanken gemacht haben, wann denn der richtige Zeitpunkt zur Partieaufgabe wäre. Sicher wird es jedem auch schon einmal passiert sein, dass ihn ein Gegner in längst verlorener Stellung noch über Stunden hinhielt, obwohl die Stellung glasklar als „aufbagereif“ eingestuft wurde. Traut er mir nicht zu? Will er mich quälen? Sieht er nicht, dass er verloren ist? Hofft er auf ein Wunder, auf einen Herzinfarkt oder einen Gehirnschlag?

Genauso mag es einem aber schon passiert sein, dass man nach einem übersehenen Schockzug oder gar nach reiflicher Überlegung die Hoffnungslosigkeit einer Stellung einsah, das Pfötchen rüberreichte, aber auf der Heimfahrt plötzlich die rettende Idee hatte, möglich aber auch, dass ein Gegner diesem Anfall von Schachblindheit erlegen war und kapitulierte, woraufhin man zwar dankend aber dennoch verblüfft die Aufgabe annahm (in einer anderen Kinderpartie diskutierten die Kleinen jüngst, ob man denn gezwungen sei, eine Aufgabe anzunehmen; eine interessante Überlegung), nur um dem Gegner im Anschluss vorzuführen, wie fern man nach jenem Verteidigungszug der Realisierung des Vorteils – falls es je gelänge – wäre.

Natürlich ist es eine Charakterfrage. Der eine hasst sich selbst so sehr dafür, in eine so grausame Stellung geraten sei, dass er nicht länger in diese Kloake blicken will und sie schlichtweg so schnell wie möglich über Bord schmeißt, ungeachtet der vielleicht noch möglichen Rettungsideen, welche, Ungenauigkeiten des Gegners vorausgesetzt, einen winzigen Hoffnungsschimmer in Aussicht stellten. Der Andere hingegen flüstert stets und ständig die Parole „Schach ist ein Kampfsport.“ vor sich hin und sucht in jeder Stellung nach den absurdesten Möglichkeiten, den Gegner irgendwo in einen dunklen Hinterhalt zu locken, um ihm dort entweder nur ein Bein zu stellen oder ihn gar in den Abgrund hinabzustoßen. Vielleicht erfreut er sich sogar an der gewissen Hoffnungslosigkeit der Stellung, da er, als Sanguiniker, sich bereits vorab mit einer wie der anderen möglichen Niederlage abgefunden hätte, aber nun, in dieser konkreten Partie, dies ebenfalls längst getan hat – um fortan wie der angeschlagene Boxer, nach dem „lucky punch“ zu suchen, welcher, falls er denn ausbleibt, einem selbst keinen weiteren (moralischen) Schaden anzurichten imstande ist.

Natürlich wurden längst im Bekanntenkreis Stimmen eingefangen, welche teils als Ergebnis reichlicher Überlegung, ab und an aber auch spontan und an praktischen Beispielen orientiert getätigt werden. Es gibt jene „Pakettheoretiker“, welche der Ansicht sind, dass meist zu zeitig kapituliert wird und man doch bitte ausschließlich Pakete (und selbst jene nicht zur Unzeit) aufzugeben hätte. Andererseits gibt es ganz sicher jene Schachästheten, welche sich dazu eine eigene Aufwertung versprechen davon, dem Gegner den Respekt zukommen zu lassen und ihm die Gewinnführung ab einem gewissen Moment zutrauen, zugleich die Blamage nicht eingehen möchten, dass vielleicht Zuschauer vorbeischauen (oder beim Nachspielen feststellen), dass doch dieser Spieler nur über ein geringes Schachverständnis verfügt, wenn er einen derartigen Schrotthaufen weiter betreuen wollte.

Eine eigens entwickelte Theorie lautet so: man möchte aus Respekt vor dem Schachspiel, selbst wenn es immer eine theoretische Chance gibt, die sich sowohl an reinen Stellungsgegebenheiten als auch an der gegnerischen Unpässlichkeitschance festmachen ließe, nicht, dass eine derartige Stellung noch verhunzt wird, nein, das würde der Ästhet einfach nicht hinnehmen können. Diesem (rein schachlichen) Desaster, so die vage Theorie, beugt der Rechtzeitig-Aufgeber vor.

Einen weiteres Aspekt hat das Sinnieren über den richtigen Zeitpunkt der Aufgabe übrigens noch zutage gefördert, da man jahrelang neben dem Schachgroßmeister Robert Rabiega spielen durfte und immer und immer wieder sah, wie er seinen Gegnern keine Chance ließ – in Schnell-, Blitz- aber auch Turnierpartien – und sie quasi zur Aufgabe zwang durch konsequentes und unbedingtes Nachsetzen, aber auch durch sein Brettverhalten.

Man selbst hat nämlich folgende Eigenschaft entwickelt – mit den zugehörigen Konsequenzen, welche einem erst spät klar wurden: Sobald ein Spieler nämlich in einer klar gewonnenen Stellung beginnt, gründlich nachzudenken, Bedenkzeit zu investieren, selbst wenn sich Zuschauer dabei fragen sollten, worüber er denn grübelt, und er darauf zur Antwort geben könnte: „Natürlich über den besten Zug, wie in jeder anderen Stellung auch.“ oder aber, das fast noch einleuchtendere „Ich überlege, wie ich den Gegner am schnellsten von der Sinnlosigkeit der Partiefortsetzung überzeugen kann.“. Gerade dieses Verhalten ist es, welches den Gegner beinahe zum Gegenteil, also zur Fortführung der Partie zwingt.

Die leserseitige Verblüffung – so sie denn ausgelöst – dürfte sich bald legen, wenn man die beiden Gründe schlüssig erläutert: der erste ist jener, dass man mit dem längeren Nachdenken dem Gegner irgendwie suggeriert, dass man noch Probleme sieht. Man beginnt darauf, überhaupt Ansätze für diese Probleme zu erkennen – und wird vielleicht gar fündig von einer versteckten, erträumten Möglichkeit, auf die man sonst niemals gestoßen wäre. Der zweite Grund ist aber noch viel überzeugender: wenn man lange nachdenkt, egal, wie einfach die Stellung auf diese oder jene Art gewonnen wäre – vielleicht auch einer ganz banalen, welche der Gegner aber erkennbar nicht einschlägt, da er beispielsweise den möglichen Damentausch verschmäht und stattdessen den König in noch größere Bedrängnis bringt, trotz des bereits erwirtschafteten Materialvorteils, so wird es bald zur Verpflichtung, sich die ausgeheckte, vielleicht traumhaft schöne Kombination, das hübsche Schlussspiel, zum Erhalt für die Schachwelt vorzeigen zu lassen.

2) Der Anlass: ein Kinderschachturnier

In jüngster Zeit hat man eingedenk der Tatsache, dass sich der eigene Nachwuchs mit wachsender Frequenz bei Turnieren, insbesondere Kinderturnieren, zur Teilnahme einschrieb, die Gelegenheit gehabt, in die kindliche Perspektive Einblick zu gewinnen. Da werden mit teils wachsender Begeisterung absolut hoffnungslose Stellungen weitergespielt, jedoch ohne, dass das kindliche Gemüt je einen Schatten der Beeinträchtigung der Freude zu erkennen gibt.

Als der eigene Sohn einmal eine Stellung mit Turm und Springer gegen einen außer dem König figurenlosen Gegner, ohne jegliche Zeitbedrängnis, zum Siege führen wollte, den König auch bereits vorbildlich auf die Grundlinie abgedrängt hatte, jedoch nun, in der Auffassung, den Gegner mit der Maßnahme, vor der Mattsetzung zunächst sämtliche Bauern abzuräumen, endgültig hilflos zu machen und damit den Widerstand zum Erlahmen zu bringen, gewann man höchst selbst die Erkenntnis, dass gerade das Gegenteil der Fall wäre. Man besann sich einer 1-Minuten-Blitzpartie gegen Hans-Jörg Grupe, gespielt bei einer Deutschen Meisterschaft (zum Chill-out), als er einmal strahlend nach und nach haufenweise Figuren einbüßte, dazu aber im dem seiner Heimat entsprechenden Karlsruher Dialekt den legendären Satz sprach: „Nimm du nur“, erkennend, dass jeder Schlagzug für mehr Zeiteinbuße sorgte und er somit bald danach auf „Zeit“ reklamieren konnte.

So dachte wohl dieser Gegner auch: „Nimm du nur.“, fortgesetzt mit „nur so kann ich zwar kampf- und zugunfähig gemacht werden, aber wenn ich mich zu dem Zeitpunkt der endgültigen Handlungsunfähigkeit keinem Schachgebot ausgesetzt sähe, so wäre die Partie dank des ausgeklügelten Regelwerks eben nicht verloren sondern Remis.“ Tatsächlich war der Gegner für einen Moment in einer Pattsituation, welche Ben-Luca jedoch aufhob – und den Punkt einfuhr. Obwohl er nach der Partie glaubhaft versichern wollte: „Ich setz doch nicht Patt“, so hat man doch diese oder jene Schweißperle gelassen und den Rat erteilt: „Einfacher UND sicherer ist es UND schneller geht es auch, auf das Abräumen überzähliger , nutzloser Bauern zu verzichten und direkt den König ins Visier zu nehmen.“

 a. Der Pattwitz

 1

Weiß: Mert Acikel Schwarz: ???

Den Weißspieler kannte man bereits und hatte ihn ab und an beobachtet (eine Chance hier: Namen merken, er spielt erst kurz, hat aber glänzende Anlagen), der Name des Schwarzspielers war nicht festzustellen. Der 10-jährige Mert hatte schon seit vielen Zügen einen Turm und einen Springer weniger, dennoch schaute man ab und an vorbei. In einem Moment fand man die folgende Stellung vor, auf welche sein Coach aufmerksam gemacht hatte. Sicher, ja, auf den zweiten Blick erkannte man die sich hier bietende Chance. Sein Coach – Heinrich Burger – war höchst skeptisch, ob er die Idee 1. h2-h4 finden würde, denn, für dieses eine Mal hätte sich das Weiterspielen doch gelohnt haben können, sofern Schwarz der Verlockung des Bauernraubes auf g3 nicht widerstehen könnte. Der weiße König stünde auf Patt und man müsste sich nur noch mit beliebigen Schachgeboten des überzähligen Turmes entledigen, beginnend mit 2. Tg7-b7+ (Anmerkung: auch dies dürfte objektiv nicht ausreichen für eine Rettung, sofern der schwarze den korrekten Königsmarsch findet und entweder mit dem Td6 entlang der d-Linie den Schach bietenden weißen Turm schlagen kann, oder aber der Springer dasselbe tut; im Kinderschach aber könnte man mit allem rechnen, vor allem mit dem sofortigen Nehmen auf b7).

Tatsächlich wurde Heiner bestätigt: der Junge sah den Bauernraub auf g6 – und griff dort zu. Man wendete sich wieder ab, Chance vertan, damit aber Partiefragment noch lange nicht verloren sondern zur Vorführung geeignet.

Riesig die Verblüffung, als man an ebenjenem Brett kurze Zeit später helle Aufregung erlebte und mehr und mehr das Wörtchen „Patt“ die Runde durch den gesamten Turniersaal machte. Man warf nur einen kurzen Blick auf die Stellung und rekonstruierte mühelos:

1. Tg7xg6 Td6xg6+ 2. Kg5xg6 Sg4xh2 3. Kg6xh5 (!) Tc3xg3 4. Kh5-h4 Tg3-g8 5. Kh4-h3 Sh2-f3 Patt1, 1/2:1/2

Tatsächlich war es zu einer zweiten Pattchance gekommen in dieser Partie, welche mit dem Motiv der ersten absolut nichts zu tun hatte. Und, noch kurioser: diesmal wurde sie genutzt!

Das Weiterspielen hatte sich gelohnt. In diesem Falle. Wie die Wirkung allerdings sein mag, auf alle Kinder, die Zeugen dieses Spektakels wurden? Sagt sich denn jetzt nicht erst recht jeder, dass man doch sähe, was so alles passieren kann und das sich ein Weiterspielen demnach nachweislich immer lohnt? Wie wären die Folgen davon, wenn sich jeder tatsächlich der Theorie hingibt, dass es in jeder Stellung, so lange noch legale Züge ausführbar sind, eine Chance gibt, selbst wenn es jene des Handyklingelns oder der plötzlichen Malässe des Gegners sei? Und, on top of that, ist, selbst wenn man keine legalen Züge mehr hat, nicht einmal dann der Partieausgang in allen Fällen der Partieverlust, wie gerade gesehen?

b.Katharina Du – Dennie Shoipov Weiß am Zuge

2

In dieser Partie aus dem jüngst besuchten Turnier trafen ausgerechnet zwei der begabtesten eigenen Schützlinge – zwei Teilnehmer einer Trainingsgruppe – aufeinander. Natürlich war man gespannt, da Dennie, der Schwarzspieler, in seiner Altersklasse (er ist Jahrgang 2002) zumindest in Berlin so ziemlich alles klar in den Schatten stellt, während Katharina, Jahrgang 2000, selbst in der Konkurrenz mit den verschiedengeschlechtlichen Altersgenossen ebenfalls ganz vorne mitmischt. Katharina hat noch einen kleinen Vorsprung, welcher sich auch in der DWZ widerspiegelt.

Es war ihr in einer beiderseits recht gut geführten Partie, ihre leichte Überlegenheit aufs Brett zu bringen. In der oben abgebildeten Stellung nun war es soweit: der Sieg stand unmittelbar bevor. Denn immerhin verfügt sie über das (wie man zuvor sah, vorbereitete) eigentlich tödliche 1. Dc2-c8+. Der König hat sozusagen nur die Wahl zwischen Pest oder Cholera, kann also nach e7 ausweichen, wonach unvermeidlich der Turm auf c7 eindringen würde, mit vernichtenden Folgen, oder dem Partiezug 1. ... Kd7-d6. Katharina dachte eine Weile lang nach, was einen allmählich in dem Sinne besorgte, dass man sich, angesichts ihres längst festgestellten Topniveaus in dieser Klasse, einfach nicht vorstellen konnte, dass sie das auf der Hand liegende 2. Tf2xf6+ nicht sah. Man sah Dennie an seinem verstohlenen Blick an, dass er es natürlich bemerkt hatte, den Zug, welcher unvermeidlich das Shake-Hand zur Folge gehabt hätte. Sie zog überraschend 2. Dc8-b8+.

Schulter zuckend bewegte Dennie seinen König zurück nach d7. 2. ... Kd6-d7. Nun erkannte das Mädchen, dass das (wie sie später verriet) geplante 3. Tc1-c7+ nicht ginge und korrigierte. 3. Db8-c8+. Selbstverständlich – jeder Computer hätte den gleichen Reflex – stellte Dennie den König nun wieder nach d6. 3. ... Kd7-d6. Immerhin gab es ja nun die entfernte Chance einer versehentlichen Zugwiederholung,

Diesmal wanderte die Dame auf ein ganz anderes Feld, noch immer hat der weibliche Nachwuchsstar nicht das Auge auf die bis f6 offene f-Linie gerichtet. 4. Dc8-f8+. Nicht, dass man sich direkt Sorgen machte, immerhin war es ja die Paarung der beiden zuletzt Betreuten, so dass jedes Ergebnis recht zu sein hätte. Viel eher traf es das: Verwunderung. Der König trat erneut zurück. 4. ... Kd6-d7. Nun könnte ja vielleicht die Dame erneut nach c8 bewegt werden, vielleicht gar den längst forcierten Gewinn erkennend und Schwarz hätte die Ausflucht in die Regelparagraphen gehabt, in denen fest verankert ist, dass man dann ein Remis einfordern könnte, wenn man mit seinem folgenden Zug (diesen hätte man vorzuzeigen) die gleiche Stellung ein drittes Mal herbeiführen könnte? Nichts da, Katharina hatte andere Pläne. Sie fasste die Dame an – und schwebte tatsächlich für einen Moment über dem Felde f7 – nicht loslassen! – um dann auf g7 zu landen. 5. Df8-g7+. Der König hatte kaum Alternativen, denn nun wäre die Flucht nach d6 gewisslich ohne Perspektive, den erneut verpassten Turmeinschlag auf f6 der Weißspielerin nicht zuzutrauen. 5. ... Kd7-d8. Jetzt war der Plan erkannt – und erschien flugs auf dem Brett:

6. Dg7xf6+ Db6xf6 7. Tf1xf6. Danach diese Stellung auf dem Brett:

Katharina Du – Dennie Shoipov, Berlin 2011, Schwarz am Zuge

3

Man selbst verließ den Turniersaal, in der Gewissheit, dass, nach dem verzogenen Pulverdampf, Weiß seinen klaren Vorteil sicher demnächst verwerten würde. Verblüfft war man, als man wenige Minuten später die beiden einträchtig miteinander ebenfalls den Turniersaal verlassen sah. Was war geschehen, so plötzlich und abrupt? Nun, die Nachfrage belehrte einen: Schwarz hielt den Zeitpunkt für gekommen, in der abgebildeten Stellung die Waffen zu strecken! 1:0.

Ausgerechnet nachdem er dem Tod sehenden Auges von der Schippe gesprungen war – und es ihm damit viele Male besser ging als noch Minuten zuvor, sieht er keinerlei Hoffnung mehr? Dies ist, so hoffnungslos die Stellung auch sein mag, rein psychologisch gesehen, kaum vorstellbar – und führte entsprechend zu den weitergehenden Philosophien zu dem Thema. Sicher, ja, wenn diese Stellung auf „normale“ Art zustande gekommen wäre und der Damentausch gerade die letzte Hoffnung geraubt hätte, dann wäre es nachvollziehbar, selbst wenn man ja gerade kurz davor Zeuge werden konnte, wie wesentlich schlechtere Stellungen ohne Bedenken und ohne Gram oder Scheu oder Scham weitergespielt werden im gleichen Turniersaal. Aber nachdem man gerade so das Matt, welches man selbst erkannt hatte mit Schwarz abgewendet hatte? Tja, wie auch immer: Dennie ist natürlich absolut kein Vorwurf zu machen und sicher wird diese Partieaufgabe von mindestens einem der oben angeführten Punkte abgedeckt. Selbst wenn von einem Kind von kaum 9 Jahren ausgesprochen, es zeigt vielleicht seine persönliche, etwas höhere Reife gegenüber den altersgleichen Kindern.

c.Jirawat Wierzbicki

Weiß: ??? Schwarz: Wierzbicki Weiß am Zuge

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Jirawat Wierzbicki, ein schon lange bekannter Jugendlicher, mittlerweile ebenfalls 10 Jahre alt, hatte schon eine ganze Weile lang in ziemlich verlorener Stellung nach einem Rettungsweg gesucht, oder, man könnte sagen, er hat einfach weiter Schach gespielt so gut er konnte. Die Stellung war lange Zeit vorher schon wesentlich schlechter als die abgebildete, er hatte im Prinzip beständig seine Chancen verbessert.

Hier nun zog sein Gegner 1. Dd6-d5. Sicher kein ganz schlechter Zug, obwohl man vielleicht einen Mattangriff inszenieren könnte mit Dame und Turm, aber der erzwungene Damentausch hat auch seine Meriten.

Jirawat führte die Partie nach Beendigung draußen vor – übrigens, von seinem Vater angeleitet, sollte er alles aus dem Kopf vorspielen und es gelang ziemlich gut – und man war ehrlich gespannt, wie es denn nun weiter ginge, zumal der Weißspieler, selbst wenn DWZ-Favorit, zuvor eine ganze Menge Luft reingelassen hatte. Wie ging es also weiter? Auch Jirawat hielt, nachdem ihm sein weichtiges „Spielzeug“ abhanden käme, ähnlich wie Dennie Shoipov, den Zeitpunkt zur Kapitulation gekommen. 1:0.

Ein noch etwas kurioserer Fall als jener zuvor. Vergleichbar zwar der Teil, dass der Weißspieler zuvor nicht immer die stärkste Fortsetzung gefunden hatte und man somit Anlass hätte, sich wachsender Hoffnung hinzugeben, analog auch der Teil, dass die gewichtigste Figur in nachteiliger Stellung abgetauscht wurde und somit vielleicht wieder ein zusätzlicher Anlass gegeben wäre, Hoffnungen schwinden zu sehen. Absolut nicht vergleichbar jedoch der Charakter der Stellung sprich: die Überlegenheit des soeben zum Sieger gekürten.

Man schüttelte ein wenig verwundert den Kopf und begann, ein paar Züge auszuführen, nur um nachzuschauen, ob der Junge denn tatsächlich einen „einfachen Gewinn“ für den Gegner gesehen hätte. Man zog abwechselnd, mit vertauschten Farben, aber von der falschen Brettseite aus, und rasch 1. ... Da2xd5 2. Td8xd5 h7-h6 3. Td5xd3 Sg8-f6, und an dieser Stelle machte Kinderhand den leichten, aber den Gegner sicher nach vorher gesehenem „zuzutrauenden“ Zug 4. Td3-b3? (stattdessen sollte man mit 4. Td3-d8+ gefolgt von Annäherung an die Bauern von hinten gewinnen können, trotz vorhersehbarer, geringer Schwierigkeiten und trotz der Erkenntnis, dass dies nur im Fernschach oder in einem WM-Kampf der Aufgabe wert wäre) und danach gesellte sich sogar GM Kalinitschew zur Analyse hinzu, welche nicht einmal einen klaren Gewinn für Weiß – falls überhaupt einen – ergab nach den Zügen 4. ... b7-b6 5. Tb3-a3 a7-a5 6. Ta3-b3 Sf6-d7!

Welche Erkenntnisse liefert die Summe der Beobachtungen? Geben Kinder zu früh auf? Geben sie zu spät auf? Was veranlasst sie, was veranlasst einen Erwachsenen, was veranlasst einen überhaupt zur Aufgabe, was zum Weiterspielen?

3) Figura - Paulsen

Man selbst hat aus der eigenen Praxis natürlich ein paar Beispiele beizusteuern, eines davon das nun folgende: die Partie wurde gespielt im Firmenschach, also kein übertrieben bedeutsamer Anlass. Dennoch natürlich will man als ehrgeiziger Schachspieler unter keinen Umständen schlecht spielen geschweige denn verlieren. Das Firmenschach – in den letzten 20 Jahren nach und nach aufgewertet und ernster und ernster genommen – bietet nach wie vor die Chance zu Kräftemessen außerhalb der regulären Spielzeit, in welchen man eventuell ein wenig experimentierfreudiger zu Werke geht.

In einer wirklich spannenden Partie hatte der Schwarzspieler seinen erklecklichen Vorteil, welcher bereits eine Bauerneinheit (deutlich) überschritt gegen einen kampfeslustigen, versierten und wild entschlossenen Gegner nach und nach verspielt. Die abgebildete Stellung entstand und man hatte gerade, der Not gehorchend, aber zuvor mit ein paar unsauber berechneten Varianten, den weißen Turm auf f1 geschlagen. Nun verblüffte der Gegner mit dem Zug...

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Figura – Paulsen, Berlin 2007, Weiß am Zuge

1. Sf4xg6! Natürlich war einem dieser Einschlag entgangen, natürlich war man geschockt, natürlich rechnete man dennoch rasch ein paar Varianten, mit entscheidendem Nachteil, natürlich wollte man sich keine Blöße geben, einen solch offensichtlichen Zug nicht vorhergesehen zu haben, dennoch gäbe es Anlässe zur Besonnenheit, vor allem jener, das Formular nicht stehenden Fußes abzuzeichnen mit dem Resultat von 1:0.

Man hatte wirklich aufgegeben, ja, fast spontan und fast ohne Besinnen der Vielfältigkeit des Schachspiels und ohne eine einzige Variante wirklich zu Ende zu berechnen, abgesehen von jenem Gedanken, eine versteckte Möglichkeit zu suchen.

Die erste Überraschung folgte direkt nach dem gegnerischen Zugriff auf die ausgestreckte Hand. „Ja, danke, äh, aber, wieso gibt’s du denn auf?“ Nun, man führte rasch vor was man (einzig) gesehen hatte: 1. ... h7xg6 2. Dg5xg6+ Kg8-h8 3. Dg6-h6+ Kh8-g8 4. Dh6xf8+! mit Gewinn. Der Gegner, mittlerweile längst Freund, Atila, überrascht: „Oh, das habe ich ja gar nicht gesehen. Ich dachte, es wäre Dauerschach.“ Nun, zuzutrauen ist ihm allemal, dass er den Zug noch vor der eigens eingeleiteten Zugwiederholung mit sich wiederholenden Schachgeboten von g6 und h6 aus, gesehen hätte, aber dennoch: eine Chance war es ja zumindest, die man da verpasst hat.

Man setzte sich zur Heimfahrt ins Auto, sicher ein wenig schockiert, ebenso nachdenklich, aber nicht zur längeren Analyse mit Gegner bereit. Im Auto begannen die Gedanken um die Schlussstellung zu kreisen. Was wäre eigentlich, wenn...? Die erste Idee war diese: Warum habe ich Hornochse denn aufgegeben, wo die Stellung doch gewonnen war? Wie?

Nun, man verfiel auf die Idee, zunächst den Springer herzugeben, dann den Turm zu retten und schließlich den Freibauern zu stoppen : 1. ... Sf1-g3+ 2. h2xg3 Tf8-f1+ 3. Kh1-h2 Kg8-f7. Selbstverständlich hätte man, wenn man gesehen hätte, dies Zugfolge gewählt, ausprobiert. Nur erkannte man doch bald, dass in der Schlussstellung dieser Variante der Zug 4. Dg5-e5! gewänne. Man hätte sich zeigen lassen, na klar, man hätte sich zeigen lassen müssen, keine Frage, Nur beruhigte man sich insoweit, als die Stellung ja „glücklicherweise“ doch verloren war.

bannersr400anzZu Hause angekommen und Kopf noch lange nicht in Ruhe befindlich fütterte man sein (archaisches) Schachprogramm mit der Stellung. Würde jener die Berechtigung akzeptieren? Gab es nicht doch noch eine Möglichkeit?

Fritz grübelte wirklich nur ganz kurz und spuckte den total verblüffenden Zug (in der Aufgabestellung {nicht etwa der AufgabeNstellung!} nach 1. Sf4xg6) 1. ... h7-h6! aus. Zugleich schätzte er die weiße Stellung, wenn überhaupt vorteilhaft, dann nur sehr gering und keinesfalls als aufgabereif ein, hätte doch der weiße zumindest noch diese oder jene Klippe zu umschiffen gehabt.

Nun schlug man sich wirklich gegen den Kopf. Eine völlig sinnlose, total übereilte Aufgabe in (halb) spielbarer Stellung, ohne auch nur den leisesten Gedanken an das Auffinden versteckter Ressourcen (wie den beiden gezeigten Varianten) zu verschwenden? Nein, das war nun wirklich mehr als dumm.

Ein paar Minuten später war der Computer so weit. Er hatte die folgende Variante gefunden:

1. Sf4xg6 h7-h6 2. e7xf8D+ Db4xf8 3. Dg5-e5! Df8-g7 (einziger Zug) 4. De5-e8+ Kg8-h7 5. Sg6-f8+ Kh7-h8 (einziger Zug) 6. Sf8-e6+ Dg7-g8 7. De8-e7! (droht 8. De7-f6) 7. ... Dg8-g6 8. De7-d8+ Dg6-g8 (auf 8. ... Kh8-h7 folgt 9. Se6-f8+) 9. Dd8-f6+ Kh8-h7 10. Se6-f8+ mit Damengewinn.

Alternativ rettet auch 7. ... Dg8-g4 die Partie nicht, jedoch gewinnt hier Weiß „nur“ prosaisch den Springer f1 durch den (noch zu findenden) Zug 8. h2-h3, wonach Schachgebote nicht helfen ( 8. ... Sf1-g3+ 9. Kh1-h2 Sg3-f1+ 10. Kh2-g1) und die Dame die g- Linie halten muss wegen Matt auf g7, aber den Angriff auf den Springer e6 nicht aufrecht erhalten kann.

Insgesamt schließt der Computer irgendwann mit soliden +5 (oder mehr) für Weiß, wonach man getrost aufgeben dürfte.

Keine Frage, dass man nicht nur im Sinne eines eigenen. möglichen guten Ergebnisses die Partie hätte fortsetzen müssen, nein, man hätte auch der Schachwelt ein kleines Kunstwerk mit der hübschen Gewinnführung vorenthalten -- so sie denn der Gegner gefunden hätte. Immerhin wurde hier der Versuch gestartet, sie zu erhalten.

4)Was beendet eine Partie?

Ein kleiner philosophischer Exkurs zum Abschluss, selbst wenn man reichlich weitere Beispiele parat hätte für Aufgabe zur rechten oder zur Unzeit (und diese vielleicht in einer Fortsetzung präsentieren könnte).

Man lernte autorenseitig im Schiedsrichterlehrgang Mitte des Jahres 2011, dass sowohl eine Pattstellung als auch eine Mattstellung die Partie unwiderruflich beenden würde. Ebenso wurde erwähnt, dass eine Partieaufgabe diese beendet und das ein spontanes shakehand – aus einem praktischen Beispiel – weder als Danksagung noch als Entschuldigung noch als Akzeptanz des Remisangebots ausgelegt werden könne ohne andere Anhaltspunkte, sondern ebenfalls die Partieaufgabe bedeutete.

Andererseits erfuhr man in dem gleichen Lehrgang, dass es den kuriosen Fall gab, dass ein Spieler eine Partie aufgab, beide den ausgelegten Zettel mit dem eingetragenen Ergebnis unterzeichneten und diesen bei der Turnierleitung abgaben. Als sich am Ende der Runde herausstellte, dass das Ergebnis verkehrt herum eingetragen war, bestand der davon Bevorteilte aber auf Beibehaltung des Ergebnisses. Seine Argumentation insoweit logisch (selbst wenn damit nicht zum Vorbild empfohlen): „Er hat unterzeichnet, dass er verloren hat. Also hat er verloren.“

Tja, was beendet eine Partie also wirklich? Die Aufgabe ist es nicht ... höchstens hätte man jene, dies herauszufinden.

Donnerstag, 29 Dezember 2011 10:59

Berliner Jugendblitzeinzelmeisterschaft 2011

1) Die gewohnten „philosophischen“ Vorüberlegungen

Als Autor hat man es nicht ganz leicht, wird man doch durch die Veröffentlichung von Texten – selbst bei nur kleiner Leserschar – immer ein wenig exponiert. Es ist ein vertrautes Phänomen, dass, sofern man „alles richtig macht“ (natürlich, eine Illusion), als einziger Effekt -- dem Auftreten und der Beurteilung eines Schiedsrichters gleich, welcher angeblich dann am besten war, wenn er gar nicht erwähnt wird – zur Folge hat, dass man gar nichts hört, wohingegen im umgekehrten, aber doch Normal-, Fall der Fehlerhaftigkeit oder Verbesserungswürdigkeit man von Ratschlag um Ratschlag ereilt wird. Dies hat eine weitere Folge: anders als erwartet – es wird gerne zur Nachahmung empfohlen, zum Austesten der Wirkungsweise – legt man sich einfach ein dickes Fell zu. „Lass die ruhig erzählen. Einzig wichtige Erkenntnis: wenn die Leute was zu Meckern haben, heißt es doch immerhin, dass sie gelesen haben.“

Nun war es ja nicht einmal direkt ein Meckern, welches einem zu Ohren kam, jedoch enthielt es den gut gemeinten Ratschlag, doch von dem unpersönlichen „man“ dann abzusehen, wenn „man“ persönliche Erlebnisse einbezieht. So lobenswert die Absicht auch sein mag – so der unerwähnte Kritiker – sich selbst in den Hintergrund zu stellen: sobald die möglichst lebhaft geschilderten Erlebnisse zu sehr von eigenen Beobachtungen, Empfindungen begleitet sind, das eigene Handeln mit einbeziehen, klingt es, im Mindesten, etwas staksig und unbeholfen. „Dringend“, so der Rat, „dies einzustellen.“

Insofern war ich zwar selbst nicht beteiligt an jenem Turnier – sofern man nicht die philosophischen Gedanken weiter trägt, nach welchen man (und dieses „man“ betrifft jedes Elter) doch in den eigenen Kindern weiter lebt – und dennoch war ich irgendwie Teil des Ganzen. Also: für heute möge der Leser mal wieder mit einem Bericht in der Ich-Form vorlieb nehmen – und die Kritik ab nun vorformulieren, um sie mir bei passender Gelegenheit persönlich unter die Nase zu reiben.

Am Sonntag, dem 18. Dezember 2011 sollte, sozusagen als krönender Jahresabschluss, die Berliner Jugendblitzeinzelmeisterschaft ausgetragen werden. Sohn Ben-Luca war bereit und willens, sich den Altersgenossen im traditionellen auf 5 Minuten Bedenkzeit pro Spieler und Partie beschränkten Wettstreit im Kampf um Titel zu stellen. Immerhin winkte dem Sieger doch ein solcher. Dabei ist der Begriff „dem Sieger“ bereits irreführend, denn, selbst wenn alle Spieler in einer Gruppe in einem Schweizer System Turnier spielten und es somit nur einen Erstplatzierten des gesamten Turnieres gab, so wurden doch die Sieger sämtlicher Altersklassen im Anschluss – gar mit Medaillen von Platz 1 bis 3, in der entsprechenden Legierung -- geehrt.

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Obwohl es sich in Erzählungen des Autors selten um Turnierstände oder deren Ausgänge dreht: hier ein „Einstiegsbild“ nach der Entscheidung in der entscheidenden Partie. Der Mine des gegenübersitzenden Turniersiegers Jan Paul Cremer könnte man höchstes ein „Job erledigt“ entnehmen, wenn überhaupt irgendetwas. Dem Gegner Alexei Kropman gelang es ein klein wenig schlechter, die Gefühle zu verbergen. Seine Mine könnte den Gedanken verraten: „Das wars dann wohl mit dem Titel“. Es war Runde 6 von 11 und beide zuvor makellos. Die beiden Topfavoriten haben übrigens zwei Bewunderer, die beide im Turnier für einige Furore sorgten und bald schon die Fußstapfen der Größeren ausfüllen könnten:: Jirawat Wierzbicki, sitzend, 10, und Dennie Shoipov, stehend, 9. Dennie erzielte 7 Punkte und einen phantastischen 5. Platz, Jirawat gute 6 Punkte und Platz 14. Dahinter ein Trainer, sich gerade zum Gehen wendend: Dr. Marcos Kiesekamp.

2) Die „Turniervorbereitung“

Tja, einer alten Tradition folgend – unerwähnt sollte, bei allen vorab aufgezählten Nachteilen des Autorenjobs, nicht bleiben, dass es parallel zur Kritik ebenso Motivationsschübe gibt in Form von Zuspruch für die Texte – soll die Turniervorbereitung inklusive Anfahrt etc. nicht fehlen.

Da der größere, bereits seit einiger Zeit eifrig Schach spielende Sohn Ben, wie man dem Nachnamen entnehmen kann nicht einer Ehe entspringend, nicht dauerhaft bei mir sondern bei der Mutter wohnt, und an diesem Wochenende nicht bei mir war – er spielte am Samstag in Potsdam ein Kinderturnier, während ich beim SK Präsident um Grand-Prix Punkte kämpfte – musste man sich am Samstagabend kurzschließen, um sich möglichst irgendwo auf dem Weg zwischen Spandau, seinem Wohnort, Lichterfelde-Süd, meinem, und Weißensee, dem Austragungsort, in der Absicht, möglichst nahe an 10 Uhr – dem Registrierungsbeginn -- am Zielort einzutreffen, um nicht verantwortlich zu werden für einen möglichen verspäteten Turnierbeginn, welcher, laut Ausschreibung, alsbald nach Registrierungsschluss -- dieser 10:30 Uhr -- stattfinden sollte. Sofern nämlich jeder diesen zwar einhalten aber auch nicht „unterbieten“ würde, würde es stets zu einer Verspätung kommen – was im Übrigen der Praxis entspricht. Der eigene – ja, ich gewöhne mich daran: „Unser“ – Beitrag sollte dennoch möglichst gering sein, wenn überhaupt einer geleistet würde.

Die Vereinbarung war einfach, nachdem man ja im Zeitalter des Internet (und des Handys, welches übrigens die unerfeuliche Begleiterscheinung hat, dass man mittlerweile in Bahn und Bus ständig Ohrenzeuge von Verabredungen wird, wer sich gerade wo befindet und wann wo eintreffen wird etc. – und dies eigentlich nicht unbedingt wissen möchte) über www.bvg.de in Windeseile alle An- und Abfahrtszeiten aufgelistet bekommt, gepaart mit der kürzesten Verbindung und den Laufwegen (bitte um Nachsicht für die unvollständige Aufzählung), kamen Sohn und Vater überein, sich um 9:41 am S-Bahnhof Greifswalder Straße zu treffen, um ab dort mit der Tram M4 bis Hansastraße/Buschallee beziehungsweise dem Stadion dort den Weg gemeinsam fortzusetzen. Da jedoch die Stationen ab S-Bahnhof Gesundbrunnen auf dem Ring gemeinsam und theoretisch im gleichen Zug überbrückt würden, sollte der letzte Wagen der Treffpunkt werden.

Mein Fahrplan verlief vorschriftsmäßig, wobei ich bereits einkalkulierte, dass ich einen Zug früher da sein könnte. Gelegentlich sollen ja in letzter Zeit ab und an Züge ausgefallen sein. Geduscht, mit einem Kaffee und einem rasch verspeisten Brot im Magen, traf ich tatsächlich um 9:25 am Gesundbrunnen ein. Die Ringbahn S 41 traf ein auf dem Nebengleis, im letzten Wagen keine Spur von Ben.

10 eisige– trotz Abwanderns in die unteren Etagen – Minuten später der vereinbarte Zug. Nix Ben. Nun, vielleicht war er versehentlich in einem anderen Waggon? Also: Einsteigen bitte – Zurückbleiben bitte. Um 9:41 an S-Bahnhof Greifswalder. Kein anderer Wagen, nix Ben – nix verwundert. Wieso klappt es nicht? Weitere eisige 10 Minuten Wartezeit, die sich doch schon mal in Bangezeit verwandeln könnten. Denn: was, wenn er in dem nächsten Zug auch nicht wäre? Das Handy hatte immerhin die mütterliche Auskunft „er ist rechtzeitig los“ eingebracht. Wie lief das nur vor 20 Jahren? Irgendwie gefühlt: da klappte es. War sich jeder der Tatsache bewusst, dass man Absprachen unbedingt einzuhalten hätte, eingedenk der Unmöglichkeit, sich von Veränderung in Kenntnis zu setzen? Heute, so denkt man vielleicht, ist ja egal, ob ich pünktlich und am rechten Ort bin? Man könnte ja per Handy jederzeit umdisponieren?

Nun, ich schlenderte zur Zeitüberbückung (und Aufwärmung; der Wind war wirklich frisch) zur Tram rüber. In 4 Minuten und in 13 Minuten eine. Die müssten wir kriegen. Und: auf dem Aufdruck standen auch die gesuchten Stationen: Hansastraße/Buschallee und das Stadion, ZWISCHEN welchen beiden sich das Spiellokal befinden sollte.

Um 9:51 traf der Zug ein, und Ben stieg aus dem letzten Wagen aus. Aha, nicht geklappt weil ... U-Bahn verpasst. Wie geht das? Nun ja...

Die Tram brachte uns zum Stadion – auf die Station fiel die Wahl, da es doch gleichgültig sein sollte. Man vermisste bereits in der Tram wenigsten ein einziges kindliches Gesicht, welchem man (ja doch: „wir“), selbst wenn nicht bekannt, die Teilnahme zugetraut hätte. Nix, alleine marschierten wir los. Hausnummer 190 – gegenüber. 182 sollte es sein. Welche Richtung? Na klar, logisch, zurück zur vorherigen Station. Nummer 188 nach 100 Metern. „Aha“, so dachte man, „könnte ja werden.“ Exponiert, abgeleitet, extrapoliert ergäben es so 400 Meter – wenn sich doch wenigstens überhaupt Häuser auf jener Straßenseite befunden hätten. Da war nur das Stadion, in welchem ein einsamer Pensionär seine Runden eher neudeutsch „walkend“ als „joggend“ bewältigte.

Da wir nach ca. 300 Metern die Mitte der beiden Stationen erreicht hatten, mussten wir ja, so meine Schlussfolgerung, ohnehin bereits falsch sein. „Strafverschärfend“ kam jedoch hinzu, dass sich noch immer weder Hausnummer noch Gebäude in Sichtweite befand. Nach 400 Metern jedoch das kleine, bereits gefühlte Wunder. Ein einsames Schild mit einer Hausnummer, und nicht nur das. Die Aufschrift: „182“. Angekommen?

Na, man kann das Drama nicht immer auf dem Höhepunkt erwarten. Abgesehen von der Tatsache, dass man nach wie vor weder Kinder- noch Erwachsenengesicht zu sehen bekam und auch keinerlei Transportmittel – von welchen Autos am ehesten erwartet worden wären – und abgesehen von jenem Eindruck, dass dieses winzige Häuschen, über einen schlammigen Weg erreichbar, eher Umkleidekabine als Schachlokal war, wuchs doch die Zuversicht, nun eigentlich nicht mehr falsch sein zu können.

Der nach der Menschenleere befragte Sohn gab zu Protokoll: „Die sind alle schon drinnen.“ Dies allerdings konnte ich, ganz persönlich ich, ja, der Lerneffekt setzt ein, nicht etwa „der Autor“, zunächst belächeln – und dann ins Reich der Fabel verweisen.

Jedoch lehrte mich der Blick in das Lokal eines Besseren. Tatsächlich waren „alle“ schon da. BEIDE Turnierleiter nämlich, Andreas Rehfeldt UND Olaf Sill. Nun wurden wir freudig begrüßt – und um 10 Uhr 33 verkündete Olaf Sill gleichzeitig Anmeldeschluss und Turniersieger.

Da er es lächelnd tat und wir doch alle um des Schaches Willen erschienen waren, wurde den erwarteten Teilnehmern großzügig der Aufschub gewährt. (es macht übrigens ein Scherz in Berlin die Runde: kein Turnier startet je pünktlich, das gibt es eigentlich nicht; demnach hat man sich angewöhnt, den Anmeldeschluss an einem anderen Kriterium festzumachen. So heißt es, bevor man schließt, „ist Phillippe Vu da?“ „Ja!“ „Dann kann es ja losgehen.“)

Und bitte MIR (Übung macht den Meister) die schriftstellerische Pointierung bis hierher nachsehend, vor allem die nun Erwähnten: es WAREN ein paar weitere Teilnehmer dort, etwa zwei fast zeitgleich mit uns eintreffend (unter anderem übrigens Mathe-Genie Markus Penner) sowie mindestens ein weiterer, die Familien Schnabel und Schmidek ebenfalls kurz davor/danach eintrudelnd. Das Gros jedoch fehlte.

Als gegen 10:45 die Tür aufging und sich eine Reihe jugendlicher Schachfreunde einfand, konnte in Erfahrung gebracht werden, was denn nun im Wege stand. Heinz Großmann, Vorvater und Organisator der Jugendgruppe der BSC Rehberge – bei welcher ich das Mittwochstraining leiten darf – hatte zunächst ein Kind vergessen, deshalb die anderen am gewohnten Spielort des Ausrichtervereines – der Hausnummer 190 – abgesetzt, in der Gewissheit, dass sich das Spiellokal dort befinden müsste. Die Kinder, begleitet von einem unwissenden Erwachsenen (einem weiteren Fahrer, deshalb viele Kinder), wohl einem Vater, irrten sicher 15 Minuten in der Gegend umher, da sie, im Gegensatz zu uns, nicht einmal den Anhaltspunkt der korrekten Hausnummer hatten. Wie es die Runde machte, waren auch andere betroffen von dem Irrtum, dass der Ausrichter Chemie Weißensee wäre und man diesen Spielort ja zu kennen meinte.

Immerhin konnte man (denn das betraf ja nicht nur mich) beim „Einblitzen“ Zeuge werden, wie zwei der U 18 Spieler, Alexei Kropman und Jan Paul Cremer in Windeseile die Figuren über das Brett fliegen ließen. Da sie es zugleich in einer tollen Partie absolut gekonnt taten war das Urteil nicht schwer zu fällen: das müssen die Favoriten sein. Markus Penner mit seinen knapp 2000 DWZ wollte auch gerne ein Wörtchen mitreden, und sogar die am Vortag beim Grand-Prix erstmals gesehene Margarita Kostré war als Mitbewerberin einzustufen (trotzdem waren die beiden die 1 und die 2; alle vier saßen auch beisammen).

Der Hauptgrund: Sie hat am Samstag in diesem Turnier eine beeindruckende Leistung abgeliefert mit 5.5/9 (genau so vielen wie Jan Paul Cremer) und vor allem im Schlussspiel gegen Shapiro in einem Turmendspiel mit einem Minusbauern mit 19 Sekunden auf der Uhr gegen dessen 4 Minuten ihre Versiertheit im Schnellspiel auf dem Brette vorgeführt und das Remis gehalten.

Für das leibliche Wohl war gesorgt mit Kaffee (für die Erwachsenen) und ein paar geschmierten Brötchen, wozu sich am späten Vormittag jede Menge Knabbereien gesellten. Die Räumlichkeiten waren zwar klein, aber gerade so ausreichend für die Teilnehmerzahl von 39, inklusive der Begleiter. Man stand sich gerade so nicht auf den Füßen, sondern es war eher gemütlich. (Seit die Bilder da sind, kann man sich ja eines davon machen)

3) Ein einzügiges doppeltes Figurenopfer – statt Matt

Wie man (!) als Leser sicher schon festgestellt hat nutzt der Autor – also ich – bei jeder sich bietenden Gelegenheit schamlos die sprichwörtliche Geduld des Papieres, dabei zugleich jene des Lesers aufs Äußerste strapazierend. Wo ist denn nun das „Thema“ außer uns plaudernd hinzuhalten? Erzählen könnte man (! Ja, denn es gilt doch für jeden Beobachter; hinschauen, niederschreiben) so viele verschiedene Dinge, so dass man eigentlich gezwungen wird, sich auf ein paar wenige zu beschränken.

Da es 39 Teilnehmer waren, hatte man die Chance, 19 verschiedene Partien zu beobachten, in jeder Runde. Worauf fiel die Wahl? Wofür sollte ich mich entscheiden? Der erste Zwiespalt bereits bei Überlegungen auf der (einsamen) Anfahrt: hatte Ben wirklich recht, dass es ihn verunsichern würde, wenn ich zuschaute und somit – dies die von mir gezogene Schlussfolgerung, er sagte das nicht -- seine Leistung beeinträchtigen? Ja, man konnte es sich gut vorstellen. Selbst wenn ich in dem damaligen Gespräch die Überzeugung vertrat, dass er so gut wäre wie er wäre und dass er damit leben müsse, dass dieser oder jener ihm über die Schulter schaue. Als Konsequenz dessen: bitte lieber heute schon daran gewöhnen, weil man sich, wie mit jedem geschriebenen Wort so auch mit jedem ausgeführten Zug, der Öffentlichkeit und deren vielschichtigen Urteil in gewisser Weise ausliefert. Dazu kann selbstverständlich ein (verhohlenes) belächelt werden gehören, andererseits aber auch zu Beifallsstürmen führen, welche man doch sicher gerne über sich ergehen ließe.

Die Gefahr – dies eine grundsätzliche Überlegung – ist die, dass vielen Nachwuchstalenten, und das nicht nur im Schach, die Freude durch überzogene Ansprüche, welche oftmals gar von Erwachsenenseite ausgestrahlt werden, verloren geht – und sie dem einstmals geliebten Spiel frühzeitig den Rücken kehren. Für heute – und jedes andere von ihm gespielte Turnier – gibt es zunächst den Rat, der sich auf alle anderen betreuten Jugendlichen erstreckt, zunächst Hauptaugenmerk auf die Qualität der ausgeführten Züge zu legen und weder Resultat der Partie noch und geschweige denn die gewonnenen oder verlorenen DWZ-Punkte als Gradmesser zu nehmen. Wobei gerade an dieser Stelle ein kleines Problem einsetzt: wer beurteilte denn diese Qualität, außer, dass sie per Eintrag in die Tabelle Niederschlag findet?

Nun, an dieser Stelle bringe ich einfach meine Spielstärke und meine Aufmerksamkeit ins Spiel: ich sehe das sehr wohl, wenn es Qualitätssprünge gibt und ich sehe auch, wenn eine Partie gut angelegt wird, wenn planvoll und mit guter Zeiteinteilung gespielt wird, selbst wenn das Ergebnis ab und an und unvermeidlich (selbst bei offensichtlicher Verbesserung) negativ ausfallen mag.

Ein weiterer philosophischer Gedanke war übrigens jener: da man meist auf eine vergleichbare Gegnerschaft trifft stellt sich grundsätzlich die Frage, inwieweit die eigenen Fortschritte jenen der Konkurrenz überlegen sein sollten? Auch dabei gibt es außer der Trainerwahl und der eingeplanten und durchgeführten Trainingszeiten (sowie der letztendlichen Anzahl von Turnierteilnahmen) eine Reihe anderer Kriterien, angefangen schon allein mit dem Alter... Andererseits: wer könnte je die empfundene Freude messen?

Ja, ach so, apropos Geduld und Thema. Ich schaute einfach beinahe beliebig herum, dabei bevorzugt bei Ben-Luca (auf seinen Wunsch hin), wenn überhaupt, aus der Ferne. Von den anderen Teilnehmern rückte mal dieser, mal jener in den Fokus und ich machte mir keinerlei Vorgaben. Mal sehen, wohin das Auge schweift. Eine interessante Beobachtung machte ich noch beim Schweifen lassen des Blicks: ich persönlich tue es in den meisten Fällen vor allem aus Liebe zum Schach, mit der weiter gehenden Konsequenz, dass ich mir in jeder Stellung einfach überlege, was der beste Zug wäre. Wenn der am Zug befindliche – ohne Betrachtung der emotionalen Bindung zu ihm oder seinem Gegenüber – einen ungeeigneten, einen schlechten, gar einen Katastrophenzug macht, so tut es mir weh, egal, ob ab und an der eigene Schützling davon profitiert. Dabei gibt es sehr wohl den Unterschied, ob der schlechte Zug in bereits verlorener oder zumindest klar nachteiliger Stellung geschah – wo die Bedeutung gering wird – oder ob er in vorteilhafter oder gar Gewinnstellung geschah. Selbst dann noch fallen jene Züge heraus, welche den Gewinn nur erschweren gegenüber solchen, die ihn gänzlich verderben. Auf diesen Aspekt hin – warum schaut man? – möge sich ruhig jeder Trainer oder (andere) Beobachter hin überprüfen: fühlt er mit dem Kind, denkt er an seinen Schützling, hofft er nur einseitig oder interessiert ihn das Spiel, liebt er die Kunst, liebt er gelungene Aktionen, Züge, Strategien, Kombinationen, unabhängig vom Profitierenden beziehungsweise dem Opfer?

Es gab sogar einen speziellen Anlass, auf diesen Gedanken zu stoßen. Dennie Shoipov, der Star mit den gerade 9 Jahren, aber zuletzt in meiner Trainingsgruppe in Rehberge befindlich, insofern einer derjenigen Teilnehmer, dem man den Erfolg selbstverständlich (mehr) gönnt, hatte sich einmal diese Stellung „erwirtschaftet“.

dia1

Weiß: (Es war wohl Ole Jannes Karge aus Runde 4; Rechercheergebnis), Schwarz: Dennie Shoipov

Der Gegner hatte zuletzt mit einem Königsmarsch bis nach f6 so ziemlich alles richtig gemacht, Dennie hatte eine bessere Verteidigung verpasst und gewohnt weiter schnell gezogen. Ich hatte genügend Gründe, den Gegenspieler, welcher ihm an Leibesgröße kaum überlegen war, zu beachten, hatte er doch sicher zuvor ebenfalls schon eine Menge richtig gemacht um diese Stellung gegen den klar favorisierten Gegner zu erreichen. Ja, apropos Liebe zum Spiel: wenn der Gegner, dem es unbedingt zuzutrauen war, nun den Entscheidungszug 1. Tc1-h1(nebst)# gefunden hätte, so wäre man sicher ein wenig traurig für den Schützling, andererseits hätte man die Chance, auf die Sorglosigkeit und auf das teils zu rasche Ziehen bei ihm aufmerksam zu machen – mit fortan erhoffter Besserung. Im Sinne des Schachspiels jedenfalls wünschte ich mir unvermeidlich diesen Zug. Schachmatt ist Schachmatt, das, dem im Fußball gleichen „TOR“, als ultimatives Ziel des Spiels ausgerufene. Der Ball MUSS rein, der Turm gehört nach h1.

Der Gegner verfiel auf den Zug 1. g2-g4. Nun die große Frage: würde Dennie das Matt selbst erkennen? Wie wäre es abzuwenden? Zumal man mit g4-g5+ eine weitere Drohung hätte, die Partie sogar auf andere Art zu gewinnen. Sicher, es geht. Bei gründlicher „Analyse“ stellt man fest, dass es entweder die Aufgabe beider Zentralbauern, mit 1. ... Ta5-a2, täte, um auf h2 zwischenstellen zu können, oder aber das Läuferopfer mit 1. ... Ld6-e7+. Ja, wenn man es gesehen hätte. Und, ich erinnerte mich an das (von mir nie gelesene) Buch „Chess for tigers“: würde der Autor da raten, das Matt, wenn selbst erblickt, abzuwenden, oder würde er raten, möglichst rasch und unerschrocken den Zug 1. ... Ld6-f4, den Partiezug, auszuführen, nach dem Motto „hat er einmal nicht gesehen, wird er wieder nicht sehen.“? Fragen über Fragen und dies in nur einer einzigen kleinen Stellung...

Der Zug 1. ... Ld6-f4 schien den Gegner komplett zu überfordern, während ich über die Sinnhaftigkeit, selbst als „tiger“, dieses Zuges sinnierte: wenn man den Turm auf c1 angriffe, so zwänge man doch eigentlich den Gegner, ihn hinfort zu bewegen. Auf welches schönere Feld als zumindest eines den König bedrohendes könnte man ihn denn nun ziehen? Nein, die eigene Lehre war gezogen: der Zug „erzwang“ das Matt. Ein Kind hat einen angegriffenen Turm zu bewegen, welcher mit Schach (rein zufällig einem Matt) entweichen kann. Das wird er, das MUSS er einfach finden.

Schon zog der Junge 2. Le6xd5. Hand aufs Herz: ein solcher Zug tut doch weh, muss doch jedem Schachliebhaber wehtun? Nun hatte er den Gewinn beinahe erreicht, es fehlte nur noch das Tüpfelchen auf dem i, er hatte den starken Gegner so weit, dass er nicht einmal mehr auf eine Kapitulation angewiesen wäre, da dieser Sieg sogar von der Turnierleitung zuerkannt würde, unabhängig von der Blättchenposition (gut, nein, ihr habt Recht: es ginge noch Lf4-h2 auf Turmschach von h1), er hatte alle stürmischen Winde in der sicher bereits lange hinziehenden Partie schadlos überstanden, alle Fehler vermieden, und nun das? Ein einzügiges, doppeltes Figurenopfer, ohne jede Not?

Dennie zuckte kurz mit den Schultern, welches der Geschenke er denn nun annehmen sollte, und, keine Frage, seine erste Wahl fiel auf das größere: 2. ... Lf4xc1 mit baldigem Sieg.

Ist es wirklich immer so, dass, sobald in einer Partie eine wirkliche Entscheidung möglich ist, ausgerechnet dann die größten Fehler passieren? Denn: diese Zugqualität zugrunde gelegt (von 2. Le6xd5) hätte die Partie keine 15 Züge dauern können, bis zum Sieg des Favoriten. Einen derartigen Klops, ausgerechnet, wo man Matt setzen kann ist doch eine unglaubliche Kuriosität, da es sich in der gesamten Partie mit einiger Sicherheit um den mit Abstand größten handelte?

4) Lehren -- was für Lehren?

Ich hoffe, für die Allgemeinheit zu sprechen, wenn ich hier sage, dass man(n) sich über jedes weibliche Gesicht im Schachcircuit freut, da das Spiel so sehr männerlastig ist und jede Teilnehmerin zugleich dafür sorgen könnte, dass auch andere Mädchen den Schritt wagen, sich nicht so verloren vorkommen, und somit einen weiblichen Schachboom auf den Weg bringen könnten.

In diesem Turnier gab es drei Mädchen: Margarita Kostré, Katharina Du und Luise Schnabel, was prozentual vielleicht schon überdurchschnittlich ist. Dazu waren ein paar Mütter da, so dass sich die Weiblichkeit in diesem Fall nicht einsam oder verloren fühlen musste. Katharina Du befindet sich in der gleichen Rehberger Trainingsgruppe und ihr Schicksal bewegt mit am meisten, seit jener ersten Begegnung, als sie gegen Ben-Luca die unfassbare Partie spielte, in welcher sie einen klaren Gewinn herausgespielt hatte, dazu ein Bedenkzeitplus von 10 Minuten hatte, Ben also nur noch über Sekunden verfügte. Als Ben tatsächlich eine Wunderrettung – mit ihrer Hilfe – gefunden hatte und mit zwei Türmen auf der siebten das Dauerschach verkündete – lehnte sie ab. Sie ging mit dem König auf ein anderes Feld. Danach wäre sie sofort Matt gewesen bei richtiger Spielführung (der stille Zug h6-h7 war erforderlich). Stattdessen stellte Ben seinen Turm ein, gab mit dem falschen Turm Schach (das Dauerschach wäre sonst noch immer garantiert und man hätte gar nach ein, zwei Zügen einen Turnierleiter herbeirufen können, da es so eindeutig war). Dieser Turm hätte nun von ihr ersatzlos geschlagen werden können, mit sofortigem Gewinn. Stattdessen stellte sie den eigenen Turm ein. Dies wäre ohne Veränderung des Endergebnisses gewesen, da lediglich das Endspiel Turm plus Bauern gegen Dame plus Bauern herausgekommen wäre, mit leichtem Sieg für das Mädchen wegen der Zeit. Sie zog stattdessen ihren letzten Turm weg anstatt seinen zu schlagen – und war im nächsten Zug doch Schachmatt, welches Ben mit hängendem Blättchen und zitternden Fingern mit der Damenumwandlung ausführte.

Hier, bitte, in Kleinformat, kurz das Finale vom Frühsommer:

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Weiß: Ben-Luca Schreiber - Schwarz: Katharina Du

Weiß am Zuge

Zuletzt war Td6-d7 geschehen, in zuvor klarer Gewinnstellung. Das Matt ist abgewendet, das Dauerschach, wegen der wenigen Sekunden, vorgezeichnet, trotz des möglichen Turmgewinns. Ben zog ein paar Mal den Turm von f7 nach g7 und zurück. Ben bot Remis aber sie lehnte ab. Katharina wich dann einmal nach h8 aus ( ähnlich sinnlos wie Ben in dem späteren Beispiel; siehe unten). Ben schlug auf h7, was am Ausgang nichts ändern sollte, sofern der König ab nun zwischen g8 und h8 pendeln würde. Als er dann nach f8 ging, diesmal ohne schwarzen h-Bauern, hätte h6-h7 gewonnen, wegen der unparierbaren Drohun h7-8D#. Ben zog stattdessen Te7-f7+??. Dieser Turm hätte ohne Kompensation und Hoffnung geschlagen werden können. Sie ging stattdessen weiter nach e8. Kein Problem, denn nun ist der König raus aus dem Dauerschachkäfig. Ben zog Tf7xd7, sie Td8xd7. Nun zog Ben den letzten Pfeil aus dem Köcher: h6-h7. Einen einfachen Sieg hätte nun der Zug Td7xg7 gebracht, trotz des möglichen Damenschachs auf h8. Sie zog aber den Turm nach d1 zum Schach, woraufhin das Matt unabwendbar war. 1:0, mit ca. 2 Sekunden auf der Uhr.

Ja, Katharina sorgt immer für einiges Spektakel. In der einen Partie in diesem Turnier war es so: in absoluter Gleichmäßigkeit hatte sie ihren noch jüngeren Gegner (sie ist 11, Duc Anh Tran, ebenfalls von Rehberge, ist 9) an die Wand gespielt. Der Sieg stand völlig außer Zweifel, nur hat ausgerechnet Duc Anh die Fähigkeit, ein hohes Zugtempo anzuschlagen. Dennoch beachtete ich die Partie kaum noch, da Katharina mit Qualität und einem Haufen verbundener Freibauern zu eindeutig auf der Siegerstraße war.

Später richtete sich die Aufmerksamkeit fast zwangsläufig zurück auf diese Partie, denn – im Gegensatz zu allen anderen – lief sie noch immer. Der Sieg war nur in dem Sinne näher gerückt, dass weiteres Material vom Brett verschwunden, jedoch nicht neue Vorteile angehäuft waren, abgesehen von längst möglichem Schachmatt.

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Weiß: Katharina Du - Schwarz: Duc Anh Tran

Weiß am Zuge

Nun ja, Fortschritte gab es also doch. Der Freibauer auf der f-Linie hatte wohl einen Turm eingebracht. Dennoch erstaunlich: noch lief die Partie. Katharina zögerte einen Moment, dachte das letzte Mal nach, hatte den Turm auf h8 schon fast in der Hand, vermutlich, um ihn nach h7 zu stellen, entschied sich um und opferte sofort auf f7. Natürlich ist ein Gewinnweg so gut wie der andere, vor allem, wenn man die letzte gegnerische Figur vom Brett befördert. Der Unterschied nur: mit etwa verbliebenen 15 Sekunden pro Partei stellte sich allmählich die Frage, ob es zur Mattführung reichen sollte.

Duc Anh machte im gleichmäßigen Tempo seine Züge. Sicher, im Duell zwei asiatisch stämmiger gaben sich beide im konstanten Lächeln kaum eine Blöße, vielleicht lag aber Duc Anh, angesichts der längst im Geiste besiegelten Niederlage um eine Nasenlänge vorne, denn von Zug zu Zug machte sich mehr Nervosität bei der Weißspielerin breit. Nun, man hätte ihr den Rat erteilt, zuerst die Bauern abzuräumen um wenigstens das Remis zu sichern. Vor allem ist es so, dass man damit einen klaren Plan hätte und demnach Zug um Zug ohne Nachdenken ausführen könnte. Den Turm nach a8, zuerst den Bauern a5 weg, dann den Turm nach b5, Bauer b4 abgeräumt, im nächsten den Bauern d4 schlagen.

Auf dem Weg zum Mittagstisch, welcher an der alten Spielstätte, der Hausnummer 190 also, verabreicht wurde (nach Runde 5) konnte ich beim gemeinsamen Marsch endlich herausfinden, was sie abgehalten hatte, den kompletten Bauernraub durchzuführen: sie war mit den Regeln nicht vertraut und sich nicht sicher, ob es tatsächlich zum Remis reichen würde. Ihr Gegner war übrigens mit dabei, sowie Sohn Ben, auf der, für den aufmerksamen Leser leicht zu errechnenden Wegstrecke von 800 Metern, welche man mit einigem Geschick durch Morast und Schlamm (versehentlich) auf etwa 1.2 km ausweiten konnte, im malerischen Weißensee am Stadion entlang, bei anwachsender Anzahl zu beobachtender Walker und Jogger.

Zurück zur Partie:

Die Sekunden tickten beidseitig herunter, die Anzahl der Zuschauer wuchs. Man hat bei ihr aber noch nie den Eindruck gehabt, dass sie irgendetwas von der vollen Konzentration auf die Partie abhalten könnte, nur suchte sie einen Gewinnplan: wie ging das noch mit einem Turm? Der Gegner verschaffte sich durch das Ausführen einzig legaler Züge einen hauchdünnen Vorteil. Kurios war, dass Katharina die Regeln des Bauernendspiels wohl etwas zu sehr beherzigt hatte, in denen das EINNEHMEN der Opposition oftmals die Entscheidung bringt, während es bei der Mattführung auf das ERWZINGEN der Opposition mit dem gegnerischen Zug ankäme. Man sollte den König oftmals am besten auf das um eins versetzte Feld stellen. Sie stellte immer wieder die Opposition auf, der Gegner wich ihr aus. Einmal wäre per Zugzwang eine Mattstellung möglich gewesen, nur dadurch, dass der a-Bauer noch hätte ziehen können, hätte es selbst dabei eine Verzögerung gegeben. Und, man bedenke bitte: nach a5-a4 müsste Weiß mit b3xa4 schlagen, wonach der weitere Zug b4-b3 zur Ausführung bereit stünde.

Es gelang ihr weder dies noch jenes, kein Matt, kein Bauernraub, keine Zeitüberschreitung beim Gegner, welcher, mit einer verbliebenen Sekunde, seinerseits reklamieren konnte: 0:1! Ein unfassbares, beinahe tragisches Ende.

Nur sollte es nicht das einzige bleiben. Der Lerneffekt stellte sich beinahe unmittelbar ein. Es mussten nur ein paar Runden vergehen, bis sie in die gleiche Lage kam. Ich traf auf sie und ließ mir von der Partie erzählen. Ja, sie hatte ebenfalls einen Turm mehr gehabt, der Gegner nichts mehr, nur noch ein paar Bauern. Diese hätte sie, nach beschriebenem Ratschlag, allesamt vernichtet. Die Frage nach dem Partieausgang erübrigte sich .. eigentlich. Denn: das Ergebnis lautete Unentschieden! Sie hatte den Gegner Patt gesetzt! Sie sagte, lächelnd (aber insgeheim sicher sarkastisch, so gut es ein Kind sein kann): „Immerhin habe ich doch alle Bauern geschlagen?“

Was lehrt einen das insgesamt? Vielleicht erweist sich auch der Trainer als lernfähig? Die erlernte Regel: es gibt keine Regel (außer dieser). Räume die Bauern dann ab, wenn es richtig ist. Spiele auf Matt, dann, wenn es richtig ist. Mache immer das, was am Besten ist, in jeder Situation, Ja, ein toller Ratschlag. Nur: wo sind die Anhaltspunkte, das herauszufinden?

5) Ein Läufer auf g5

Erneut war ein Problem, an allen Brettern zu sehen, mit welchem anscheinend sowohl die Kinder als auch ihre Trainer nicht zurechtkommen – natürlich beziehe ich mich mit ein. Es taucht in einer von drei Partien ein Läufer auf g5 (g4) auf, oftmals je einer. Keiner weiß, wie er die Fesselung abschütteln soll. Fast immer kommt es irgendwann zu einer geschwächten Königsstellung, da man entweder sofort mit der Dame ausweicht oder auf den Springerzug nach d5/d4 wartet.

Frage 1 dazu lautet: ich selbst befürworte zwar die Zak-Methode, nach welcher man zunächst die drei Goldenen Regeln beachten sollte: 1) Zentrum besetzen mit Bauern, 2) Leichtfiguren raus, 3) Rochade. Dennoch gibt es andere Wege, die Figuren ins Spiel zu bringen als mit 1. e2-e4, woraufhin der Gegner reflexartig 1. ... e7-e5 entgegnet. So wenig ich auch Einfluss nehmen möchte, speziell auf die Eröffnungswahl: sagt denn jeder Trainer, dass ist die ultimative Eröffnung, mit welcher man es bis zum richtigen Schachspieler schafft? Die (eigens betreuten) Kinder sind oftmals gar nicht davon abzubringen, mit beiden Parteien den Königsbauern im ersten Zug im Doppelschritt zu bewegen. Auf die Frage, warum sie es denn täten unisono: „Wir können nichts anderes.“

Genau hier liegt aber das Problem, wie es scheint. Erstens ist es ziemlich offensichtlich, dass sie auch das nicht wirklich können (insofern ein Wechsel gar nicht zu viele Probleme bringen würde), aber zweitens scheint es sich bereits eingefressen zu haben, dass man nur Züge ausführen darf, die man auch kennt. Denn: das schreibt die Zak-Methode genau nicht vor. Entwickle dich nach deinem Geschmack, stelle die Figuren auf Felder, wo sie möglichst nicht gleich vertrieben werden können, besetze das Zentrum (nimm aber nicht dafür zwangsläufig den e-Bauern, denn auch der d-Bauern tut es) aber, die damit vertretene Auffassung lautet doch: vergiss alle Theorie.

Der Springer raus, jawohl, aber der Damenspringer darf sowohl gerne mal nach d2, ebenso aber auch hinter den c-Bauern gestellt werden. Ein Läuferfianchetto: warum nicht? Widerspricht keinem Prinzip. Rochade ja, aber nicht immer nur die kurze.

Es war eigentlich kaum zu ertragen, dass es in jeder Runde wieder und wieder geschah. Kurios jedoch, dass man Katharina vor der einen Partie noch den Rat gab, eventuell ein vorbeugendes h2-h3 oder h7-h6 einzuschalten, was Meister aus früheren Jahren aus drei Gründen getan hätten: a) der Läufer kann nicht mehr nach g5(g4), b) der Springer kann nicht mehr nach g5(g4), und c) man hat schon ein Luftloch.

Sie hatte Weiß und es gelang ihr, wie üblich, den Springer auf f6 zu fesseln. Nur hatte sie einen Moment Zeit zur Abwehr der gegnerischen Fesselung, und konnte den Zug h2-h3 einschalten. Sie verpasste den Moment, und alles wurde wieder symmetrisch, beide mit dem gleichen Problem konfrontiert: wie werde ich die Fesselung los?

6) Katharina Du – Alexander Czerniak

Gleich mal eine Partie zu dem Thema, in welcher das Motiv auf beiden Flügeln auftauchte. Alexander, ihr Gegner, gehört zur gleichen Trainingsgruppe. Katharina dennoch in der Favoritenstellung.

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Immerhin habe ich ein Bild entdeckt mit Alexander Czerniak. Es ist der hübsche Junge mit der perfekten Frisur neben Maximilian Hüls, Brett 12, mit Schwarz

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Weiß: Alexander Czerniak - Schwarz: Katharina Du, Schwarz am Zuge

Bemerkenswert hier: Zunächst ist Alexander freiwillig in diese Fesselung gegangen, mit dem Zug Dd1-d2. Nun folgte 1. ... Sf6-e4 und er fluchte ein klein wenig, dies übersehen zu haben. Noch verwunderlicher aber, dass es eine Weile später am anderen Flügel zur gleichen Konstellation kam. Man sehe:

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Weiß: Alexander Czerniak- Schwarz: Katharina Du, Schwarz am Zuge

Sie hatte also auf c3 mit dem Läufer geschlagen, nachdem er den Läufer mit a2-a3 angegriffen hatte (vorbildlich von ihr, denn viele, so auch Ben in dem Turnier einmal, tauschen mit der Erzwingung des Doppelbauern, nur geschieht es ohne Not, da der Gegner noch nicht einmal droht, die Fesselung abzuschütteln). Beide haben die nun offene b-Linie besetzt. Auch gut. Weiß hatte klugerweise das Feld b3 betreten, wovon sie sich ein Vorbild hätte nehmen sollen/können: ihr Turm stünde auf b6 gut. Der Abtausch wird unattraktiv für Weiß, zugleich droht man die Verdoppelung. Aber auch der Zug Lf5-g4 hatte seine Meriten, vor allem, da Alexander ein zweites Mal die Möglichkeit dieser Fesselung erschaffen hat mit dem Zug De1-e2.

Es folgte der Zug 7. ... Se4-g5, woraufhin Alexander mit 8. Kg1-h1 reagierte. Natürlich kein schlechter Zug, ein vorbeugender Zug, aber zugleich kein wirklich hilfreicher Zug. Diese Fesselung wäre nur mit dem Zug Le5-f4 zu bekämpfen, abzuschütteln, aber immerhin gäbe es noch diese Möglichkeit. Ganz kurios an dieser Geschichte, dass wir in einer Pause – Ben, Katharina und ich – über diese Dauerkonstellation sprachen, mit der Fesselung. Und sie erzählte gleich ganz eifrig: „Die meisten spielen dann immer so.“ Bei der Bemerkung zog sie den König nach h1. Der Beweis war erbracht: die meisten, so auch Alexander, ziehen den König nach h1. In dieser Partie mit noch mehr Sinn als in anderen, denn man beachte den Läufer auf e5, welcher bereits bedrohlich nach g7 schielt...

Sie tauschte an diesem Flügel vorzeitig (also nicht vorbildlich). Zunächst folgte aber noch 8. ... Tb8xb3 9. a2xb3 und nun erst 8. ... Sg5xf3. Es folgte 9. g2xf3 Lg4-h3 10. Tf1-g1. Ich schaute kurz woanders hin, dachte an nichts anderes als 10. ... f7-f6 und erfuhr Sekunden später, dass Alexander gewonnen hatte. Sie konnte der Verlockung des Bauernraubes – welcher nach dem Einschub f7-f6 gut möglich gewesen wäre – nicht widerstehen und schnappte zu: 10. ... De7xa3.

Beide zeigten mir den Fortgang und Alexander beschuldigte sich zunächst, nicht gleich nach 11. Tg1xg7+ Kg8-h8 mit 12. Tg7-g3 Matt gesetzt zu haben, konnte jedoch insoweit zunächst belehrt werden, dass dies kein Matt sei, wegen des möglichen 12. ... f7-f6, wonach sogar der Gewinn fern bliebe. So erkannte er, dass er absolut richtiger-, aber unbeabsichtigterweise zunächst den Bauern f7 verspeist hatte. 12. Tg7xf7+ Kh8-g8 13. Tf7-g7+ Kg8-h8. Nun zog er 14. Tg7-g3+, verheimlichte aber nicht, dass er dieses lediglich wegen der Eroberung des Läufers auf h3 getan hätte. Das Matt (nach Tf8-f6 Le5xf6#) war ein willkommenes Beiwerk... 1:0.

7) Katharina Du – Kilian Damerow

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Ganz vorne links der Kopf von Jirawat Wierzbicki, daneben kämpft Maximilian Hüls, 8, mit Weiß gegen Robert Denkert, dahinter die Partie zwischen Katharina und Kilian; Ben-Luca führt gerade elegant einen Zug aus. Sein Gegner in der Runde übrigens: Sander Breitzmann (wenn auch kaum im Bild). Eine Partie, von der noch die Rede sein wird. Ein weiteres „Beweisfoto“: ich habe Ben nicht immer nur aus der Ferne zugeschaut. Der rote Pulli und die Kaffeetasse verraten es am Bildrand...

Die Partie zwische Katharina und Kilian war beinahe die spektakulärste von allen beobachteten. Vor allem in der Endphase gab es ein Kuriosum, welches dafür sorgte. Kilian ist auch Rehberger und im gleichen Alter. Gerade er hat in den letzten zwei Trianingssessions urplötzlich Züge aufs Brett gezaubert und Ideen entwickelt, die man nicht für möglich gehalten hätte. Entsprechend war sein Selbstvertrauen im Vergleich zu den nach wie vor Besseren (auch Katharina gehört dazu) gewaltig angestiegen

Dennoch dominierte Katharina diese Partie. Sie baute eigentlich einen ganz ansehnlichen Königsangriff auf, tauschte dann aber den Springer ab, der für Gefahr hätte sorgen können, hielt aber stets ein Übergewicht.

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Weiß: Katharina Du -Schwarz: Kilian Damerow. Weiß am Zuge

Dies der Moment, in welchem die Zugfolge 1. f2-f4 Se5-c6 2. f4-f5! Sc6-d4 3. Lb3-c4 oder auch gleich 3. Se3-g4 Weiß einen viel versprechenden Angriff gegeben hätte.

Sie zog, ziemlich spontan 1. Se3-c4 Se5xc4 2. Lb3xc4, wonach der Vorteil nur noch klein war, wenn überhaupt. Nur machte sie im nächsten oder übernächsten Zug Lc4-b5, woraufhin Kilian erneut spontan zugriff: Ld7xb5 a4xb5. Mit der geöffneten a-Linie hatte Weiß wieder klaren Vorteil, selbst wenn der Bauer a7 noch zu verteidigen wäre.

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Weiß: Katharina Du - Schwarz: Kilian Damerow, Weiß am Zuge

In dieser Stellung nun begann das Spektakel, von welchem man alleine durch Abspulen der Züge absolut keinen Eindruck bekommen könnte. Kilian hatte zuletzt unscheinbar und in in jeder Hinsicht trügerischer Absicht – der Zug deckt ja nicht einmal den Bauern a7 wirklich – die Dame von d8 nach c7 geschoben. Ein Allerweltszug, so könnte man meinen. Katharina führte nicht ohne Nachdenken den Zug 1. Df3-c6 aus. Dieser Zug erscheint auf den ersten Blick ganz ordentlich, selbst wenn man sich als Zuschauer schon seit einiger Zeit ein energischeres Vorgehen gewünscht hätte (der Bauern war bereits mindestens einmal davor zu schlagen und wenn er einmal weg ist, ist der b-Bauer Partie entscheidend). Die Partie sollte natürlich auch so gewonnen sein, wenn da nicht...

Kurz nach der Ausführung schien ihr der Zug nicht mehr zu gefallen, nein, ganz im Gegenteil, sie haute sich in Selbstkasteiung mit der Hand gegen die Stirn. Selbstverständlich registrierte dies der Gegner Kilian und er schaute sie kurz verwundert an. Kurz danach bewegte er – der Leser hat es natürlich auch längst gesehen – den Turm von e5 Richtung e1.

1. ... Te5-e1+. Dies schien der Weißen nichts auszumachen. Sie schlug den Turm. 2. Ta1xe1. Kilian hatte auch nichts Besseres gesehen und zog 2. ... Te7xe1+. Katharina zog völlig ungerührt 3. Kg1-h2. Kilian war mindestens zum zweiten Male verwundert, deutete bald auf seine Dame, bald auf ihren König, woraufhin sie sich ein zweites Mal gegen die Stirn haute, aber dem Gegner sofort die Hand reichte. 0:1, nur kann man diese Stellung eben nicht mehr als Schachmatt bezeichnen. Ebenso endete die Partie nicht etwa durch Matt sondern durch einen illegalen Zug, was einen weiteren Exkurs auslösen könnte (der Leser bleibt verschont).

Was hatte dieses Verhalten am Brett nun zu bedeuten? Das erste Mal Hand gegen den Kopf schlagen konnte ja – was man übrigens an der Blickrichtung schon erkennen konnte – nicht bedeutet haben, dass sie das Matt gesehen hatte in dem Moment. Nein, so gut konnten ihre schauspielerischen Fähigkeiten – bei aller Wertschätzung -- nicht sein. Vor allem nicht, den König seelenruhig nach h2 zu bewegen, nachdem man doch erkannt hätte, dass es Matt war in zwei Zügen. Nein, es musste eine andere Erklärung her, welche sie auch gerne lieferte: „Das Matt habe ich überhaupt nicht gesehen. Ich fand den Zug Df3-c6 nicht gut, weil ich dachte, dass Ta6-c6 viel besser gewesen wäre und bald gewonnen hätte.“

Nun gewinnt man daraus mindestens zwei Erkenntnisse:

1) Wenn das Versäumnis einer minimalen Verbesserung im Spiel, also die Erkenntnis, einen etwas besseren Zug ausgelassen zu haben, stets dazu führen würde, dass man sich mit der Hand gegen den Kopf schlagen würde, dann hätten alle Spieler nach dem Turnier mindestens eine Gehirnerschütterung gehabt.

2) Wenn jeder Spieler den Gegner durch eine derartige Geste auf ein eigenes Versäumnis, auf eine Ungenauigkeit, vielleicht auf einen möglichen Gewinn – einen verpassten oder einen vom Gegner nun möglichen – aufmerksam machen würde, dann hätte dieses Turnier einen völlig anderen Ausgang genommen. Schlussfolgerung aus Letzterem: Pokerface gehört dazu und nützt.

Die eigentlich entscheidende Frage stellt sich so dar: hätte Kilian das Matt überhaupt gesehen, wenn sie sich nicht mit der Geste „verraten“ hätte? Kilian behauptete später, ja, er hätte. Zweifel sind nur insofern gestattet, als ich seinen verwunderten Blick auf sie in Erinnerung habe, als sie die Geste ausführte (na, ein Schlagen an den Kopf ist schon fast mehr als eine Geste; im Pokern werden derartige „Gesten“ übrigens als „tells“ bezeichnet; man verrät mit der Körpersprache, welches Blatt man auf der Hand hat).

Dennoch könnte man weiter phantasieren: wenn sie tatsächlich das Matt gesehen hätte in dem Moment, dann wäre es keine Irreführung gewesen, sondern sie hätte sich per „tell“ verraten. Ob der Gegner es nun zuvor oder selbst gesehen hatte oder nicht: spätestens nach der „Geste“ findet er den Zug Te5-e1+, auch wohl ein schwächerer Gegner.

Angenommen nun aber, er hatte das Matt nicht gesehen. Sie hätte sich an den Kopf geschlagen, weil sie das leicht bessere (?!) Ta6-c6 nicht gezogen hätte, er wäre dennoch genau durch die (deplatzierte, da sie ja mit der Sichtung des Matts nichts zu tun hatte) Geste aufmerksam geworden, in dem Sinne „Was ist denn los in der Stellung? Warum macht sie das? Ich stehe doch so schlecht. Moment, ich schaue mal genau hin: Ach ja, Te5-e1+ und sie ist Matt. Danke, Katharina, ohne deine Hilfe hätte ich es nie gefunden.“?

Ob nun dieses Szenario das wahrscheinlichste (wie ich zunächst recht sicher war) sei dahingestellt: Ein Kuriosum ist es allemal, oder?

Aus meiner eigenen Praxis ist mir ein Beispiel von „tells“ unauslöschlich im Gedächtnis haften geblieben: ich war blutiger Anfänger und spielte gegen einen anderen, erfahreneren Jugendlichen.

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Weiß: Andreas Scherer Schwarz: Dirk Paulsen, Berlin, 1973, Weiß am Zuge

In dieser Stellung hier führte mein Gegner den Zug 1. Sf3xe5 aus. Nun drehte er sich entsetzt weg und haute sich mit der Hand sichtbar, laut und vernehmlich gegen die Stirn. Eine prachtvolle Geste, perfekt ausgeführt, selbst wenn er später über Kopfschmerzen geklagt haben soll(te)...

Mein kindliches Gemüt registrierte zunächst, wie übel der Bock war, den er da geschossen hatte, war doch soeben seine Dame dem Schlage des Läufers g4 ausgesetzt worden. Noch größer die einhergehende kindliche Naivität: „Du kannst den Zug ruhig zurücknehmen.“ Er, ganz Gentleman: „Nein, nein, das geht doch nicht.“ Nun gut, zuckte ich mit den Schultern, und war endgültig eingelullt. 1. ... Lg4xd1.

Nun war seine Zeit gekommen: 2. Lc4xf7+ Ke8-e7 3. Sc3-d5#. Natürlich jedermann bekannt, aber dennoch, innerhalb einer Geschichte vielleicht ein wenig zum Schmunzeln geeignet?

Da sieht man mal, wie wenig man selbst mit dem Rat „verrate bloß nichts mit deiner Körpersprache am Schachbrett“ anfangen könnte. Sobald man es sich umgekehrt nutzbar machte ...?

8) Das Niveau

Eine kleine Anmerkung zum Niveau und zum Blitzschach generell. Als Heranwachsender hatten wir oftmals viel Spaß im Schachclub und es wurde reichlich sowohl geblitzt als auch dazu gescherzt. Ein bonmot – vielleicht weit verbreitet? – wurde aus meiner Erinnerung damals kreiert: „Das Blitzen ist dem Schachspiel nicht unähnlich.“

Da ist viel Heiteres – aber auch viel Wahres – dran. Es ist eben kein Schach, was gespielt wird. Ob es Kinder tun sollten steht für mich zur Diskussion. Eine sinnvolle schachliche Entwicklung kann so schwerlich gefördert werden. Natürlich, so räume ich ja stets ein, stelle gar in den Vordergrund, soll der Spaß niemals fehlen, sollte die Hauptantriebsfeder sein und der Spaß sollte nicht ausschließlich an Ergebnissen orientiert sein. Man hat gewonnen – man ist glücklich. Man verliert – man trauert. Nur gibt es eben auch die Gefahr, eine negative Entwicklung, trotz Spaßes, auszulösen.

Wenn Kritik, dann bezieht sie sich auf die ausgelöste, eingeforderte Oberflächlichkeit im Spiel. Im Blitzschach muss man rasch reagieren. Da steht die Zugqualität oftmals an zweiter Stelle. Auch hübsche Wendungen, Kombinationen, tief angelegte strategische Partien sind kaum zu erwarten, scheinen auch nicht Ziel zu sein im Blitzschach.

Sicher ist zwar auch: sobald man ein gewisses Niveau erreicht hat, verschwindet das Problem wieder. Selbst wenn es auf hohem Niveau weiterhin spezielle Blitzexperten gibt und andere denen es weniger liegt: die Ähnlichkeit mit Schach wird bei steigendem Verständnis immer größer.

Was im Kinderschach gezeigt wurde, an jenem Sonntag, war nicht besonders hochwertig. So sehr ich an anderer Stelle das erkennbar gewachsene, ständig steigende Niveau hervorgehoben habe und auch mein Erstaunen darüber bekundete, gepaart mit Bewunderung und Anerkennung, so sehr muss ich doch für die heutigen Partien meine Zweifel anmelden: es war nicht wirklich gut, was gespielt wurde. Die Ausnahmen waren ganz klar die Startpositionen 1 und 2, welche dies in ihrer Vorbereitungspartie bereits andeuteten. Ansonsten war es sehr viel Stückwerk, ständig verpatzte Partien, überall grobe Fehler, gedrehte Partien, übersehene Entscheidungen und verpasste Mattchancen. Nein, so unmöglich es war, die Augen überall zu haben. Wenn man einen Zug sah, dann war es in der Vielzahl der Fälle nicht der beste.

Die vorgezeigten Partien bilden keine wirklichen Ausnahmen und die Kritik soll auch nicht überzogen werden. Die Kinder haben es so gut gemacht, wie sie es konnten. Wenn es um Verbesserungsideen geht, dann sei hier Katharina zitiert, auf dem Weg zum Mittagstisch, als sie sagte: „Warum spielen wir denn nicht 10 Minuten?“

Die 5 Minuten sind zu kurz für Schachspieler, die sich noch in der Entwicklung befinden. Das die Erkenntnis, die gewonnen wurde – und von mir ab jetzt vertreten wird. Falls man die Entwicklung der Kinder positiv fördern möchte (wer könnte da „nein“ sagen?), sollte man sie möglichst nicht all zu viel Blitzschach spielen lassen, selbst wenn Schäden ebenso nicht nachweisbar zu erwarten wären. Spaß hat es allen gemacht, das steht wohl außer Frage.

9) Ein kleiner Streifzug durch die Bretter und Runden

Ohne auf eine Reihenfolge zu achten möchte ich ein paar besondere Partien zeigen, die mir bei meinen Streifzügen durch die Bretter in der Erinnerung haften geblieben sind. Weder die Bedeutung der Partie noch das Spektakel in der Partie noch die Rundennummer sind dabei ein Ordnungskriterium. Es ist erzählt frei nach Schnauze, wie es der Berliner auszudrücken pflegt.

  1. a.Margarita Kostré – Bennet Schnabel

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Vorne die Partie Margarita Kostré gegen Bennet Schnabel

Wie man am Bild sieht war ich gar nicht so aufmerksam wie ich tue. Der weiße Turm stand auf c1, nicht auf a1. Unwahrscheinlich, dass sie ihn dort je wegbewegt hat. Vor allem nicht zurück nach a1. Bennets Haltung spricht Bände. Stets Sieges gewiss (und in dieser Partie trotz völliger Pleitestellung gar erfolgreich damit). Übrigens, zu meiner Ehrenrettung (der männlichen): ich hatte zuvor die Partie an Brett 2 zwischen Jirawat und Dennie verfolgt. Dennie machte ein geschicktes Manöver, was ihm die Qualität hätte einbringen sollen. Jirawat war geschockt, das übersehen zu haben – und warf der Qualität eine ganze Figur hinterher. Damit war die Partie entschieden, kurz nach der Eröffnung, und ich ließ den Blick schweifen.

Um nicht in den Verdacht der einseitigen Berichterstattung zu geraten: ich habe durchaus andere Partien als die Katharinas beobachtet. Hier der Beweis. Dass es sich auch bei Margarita um einen weiblichen Teilnehmer handelte, war natürlich purer Zufall...

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Weiß: Margarita Kostré - Schwarz: Bennet Schnabel, Schwarz am Zuge

Ein beiderseits vorbildlich geführter Sizilianer. Schwarz hatte den Springer auf d4 getauscht, Weiß hatte den Angriff am Damenflügel mit a2-a3 pariert. Nun plante sie die Überführung der Dame nach h4, um vielleicht mit dem Turm über f3 nach h3 einen Mattangriff inszenieren. Es wäre nun sowohl ein Vorstoß des e-Bauern zu erwarten von Schwarz, als auch der Partiezug 1. ... d6-d5.

Die Entwicklung bald danach dramatisch. Es folgte: 2. e4-e5 Sf6-d7 3. Ta1-d1 f7-f6 Dies natürlich ein Fehler, denn man sollte diesen Zug mit e7-e6 vorbereiten. Nun geschah weiter 4. e5-e6 Sd7-f8 5. g2-g4 Td8-c8 (geraten) 6. f4-f5 g6-g5 Ein weiterer Fehler, welcher das Schicksal ZWEIER Figuren besiegelt. Der Springer von f8 kann nie mehr raus (ohne verloren zu gehen, und der Läufer g7 kann es nicht einmal per Opfer schaffen (na, erst den Springer opfern, dann einen Bauern vorziehen ginge). Insofern ist der Sieg des Weißen nur mehr eine Frage der Zeit, es sei denn...

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Weiß: Margarita Kostré - Schwarz: Bennet Schnabel, Weiß am Zuge

Als diese Stellung wenige Züge später auf dem Brett stand (für Freunde der Retro-Analyse ein Kinderspiel) ließ mein Interesse etwas nach. Es spielt sich wie von selbst. Die Türme auf der a-Linie abtauschen, am besten die Dame auch noch, später einen Königsmarsch zum Damenflügel. Schwarz hätte mindestens zwei Figuren weniger, mit dem abgeklemmten König sogar drei! Ein baldiges 1:0, ohne Widerstand, war zu erwarten. Fünf Sekunden später der Blick zurück zu dem Brett. Bennet reckte den Finder in die Höhe und vermeldete den Sieg!

Nun, es war völlig unspektakulär, dennoch nicht weniger tragisch. Eine Figur durfte unter gar keinen Umständen ziehen in dieser Stellung. Das war der Läufer auf d4. Genau ihn bewegte sie aber – nach b6. Bennet packte ohne Zögern zu: 10. Ld4-b6 d5-d4+! 0:1

 

b .Ein weiteres dramatisches Finale

Hier ein Finale zweier unbekannter Kinder. Bringt mich bloß auf die Idee, dass sich diese beiden melden könnten, sobald sie das Diagramm erblicken und sich erinnern, und die Namen entsprechend später ergänzt werden könnten.

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Weiß hatte in den letzten Zügen mit einwandfreier Technik den König zu den Bauern geführt und stand bereit, sie abzuräumen. Schwarz blieb nichts als 1. ... Ka5-b4, woraufhin 2. Kc6xb6 Kb4-b3 geschah. Nicht weiter erwähnenswert, dass jeder erfahrene Blitzschachspieler nun, nach kurzem Restzeitcheck, den Bauern c5 abgeräumt hätte. Das Remis wäre sicher. Danach spielt sich die Technik auch wirklich viel einfacher, wenn der Gegner nichts mehr hat. Die verbliebenen Sekunden waren wieder einmal je um die 15. Eine Mattsetzung wäre möglich mit dieser Zeit, jedoch sollte dann jeder Zug sitzen. Den einen Zug MUSS man hergeben für den Bauernraub. Unklar, wer als erster die Zeit überschreitet im vorliegenden Fall (das heißt, es gibt natürlich auch Fälle, in denen die überlegene Partei deutlich weniger Zeit hat, der designierte Verlierer also sicher dann nicht verliert, wenn er nicht Matt gesetzt wird).

Ab nun geschahen bestimmt 20 Züge pro Seite. Der Junge holte sich eine Dame und begann, seine schwindenden Sekunden registrierend, mit wilden Schachgeboten, bei denen der gegnerische König bald über das gesamte Brett gejagt wurde. Der intuitive Gedanke dabei: ich muss nur schnell sein. An Technik zu denken verblieb keine Zeit. Nur hätte man als Zuschauer am liebsten hineingerufen, nach dem siebten sinnlosen Schach, „jetzt schlag doch wenigstens den Bauern!“. Es gelang nicht, weder eine Mattsetzung noch die bessere Zeiteinteilung. Das Ergebnis: 0:1, ZÜ gegen 2 Sekunden. Wie ist es nur möglich, dass es bald pro Runde ein derartiges Drama gibt?

c.Elais – Ben-Luca

(im Schlussranking steht der Gegner als Elli Gleb Zahars, im Training – er auch Rehberger – stellte er sich als, gesprochen, Elais vor)

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Ein kleiner Eindruck vom Turnier direkt vor dem Anpfiff. Selbst wenn die meisten Gesichter dem Weihnachtsmann (er war es nicht wirklich, wie sich bald herausstellen sollte) Andreas Rehfeldt zugewandt waren und aufmerksam seinen Worten lauschten, so kann man doch immerhin hier jenes des Elais entdecken, welcher neben Johann Donath sitzt und sich bald Fabian Alcer ... beugen musste.

Natürlich habe ich auch bei Ben geschaut, nur tatsächlich oftmals aus der Ferne und nicht Zug für Zug verfolgt. In einer frühen Runde musste er gegen diesen weiteren Rehberger ran. Katharina, die direkt daneben spielte, hatte dem Vereinskameraden noch vor Partiebeginn geflüstert, dass er verlieren würde.

Die Eröffnung aber bereits ein kleiner schwarzer Reinfall.

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Nicht etwa, dass diese Stellung verloren wäre, nein. Nur hat er freiwillig zunächst den Läufer auf g3 abgetauscht, ohne Not. Die h-Linie ist jetzt geöffnet und man wird doch dadurch zu erhöhter Aufmerksamkeit gezwungen? Abgesehen davon hat er den Übergang in der Eröffnung verpasst. Der Gegner spielte nämlich 1. d2-d4 und nach 1. ... Sg8-f6 zog er 2. Sb1-c3. Nun wäre es möglich, in seine geliebte, nämlich die Pirc-Verteidigung, einzulenken mit dem Zug 2. ... d7-d6. Er bemerkte das nicht, zog also alle anderen Züge normal, nur niemals den Zug d7-d6 (wie man unschwer erkennen kann).

In dieser Stellung jedoch der Gipfel der Sorglosigkeit. Er sah, dass der Bauer ungedeckt war und schnappte zu: 1. ... Lg7xe5.

Elais hatte ein paar Ideen, wie man sah, aber plötzlich erspähte er das frei betretbare Feld direkt beim König und zog... 2. Dd2-h6.

Die Gedanken von Ben versuchte er später, zu schildern. Ich selbst dachte nur nach, ob er sich überlegt, direkt aufzugeben, oder lieber den einzig möglichen Zug 2. ... Tf8-e8 zu spielen.

Seine Gedanken müssen in etwa vergleichbar gewesen sein mit einem Schachcomputer in den 80er Jahren. Er rechnet und rechnet, findet in allen Varianten nur Matt, und entschließt sich also, erst den Springer auf c2 zu opfern, um dann mit dem Läufertausch auf c3 noch einen Zug hinauszuzögern. Natürlich käme dies der Partieaufgabe gleich und man hätte sich das Intermezzo mit Springer schlägt c2 sparen können, als Mensch, sofern das Matt unabwendbar wäre. Die Stellung ist übrigens gar nicht so schlecht in Wahrheit. Nur hätte ein Großmeister, wenn er Dd2-h6 gesehen hätte und die Stellung danach als ok eingestuft hätte, es dennoch niemals gezogen. Aber dies nur nebenbei....

Die nächsten Züge wären auch nicht gerade schwer zu rekonstruieren. Der Weiße brachte den Springer von c3 über e4 nach g5 (anstatt vielleicht den von g1 über h3?), Ben zog den d und den e-Bauern auf, sowie den Läufer zurück nach g7. Nun hatte Elais den Geistesblitz mit Th1-h6.

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Sicher ist der Turm unverletzlich wegen Matt auf f7. Aber: was droht er dort? Ein richtiger Gewinnplan bestünde in der Springerüberführung nach e5, dazu müsste aber zuerst c2-c3 geschehen. Am besten, man macht erst noch die lange Rochade. Möglich aber, dass Schwarz sich verteidigen könnte. Viele Gedanken...

Ben war offensichtlich besorgt von so vielen dicken Figuren vor seinem König und fand nicht den guten Verteidigungszug Dd8-f6. Damit drohte man, den Turm sogar zu schlagen, aber auch sonst steht die Dame dort gut (man beachte den Fall der langen Rochade, wo man bereits b2 angreift). Vielleicht hätte Schwarz nun schon Vorteil (nein, ich befrage NICHT den Computer). Vielleicht gibt es einen Einschlag auf f7 nebst g6? Nun ja, der Leser möge das bei Interesse prüfen.

Ben zog jedenfalls das unsägliche 1. ... f7-f6, worauf Elais den Bauern auf g6 schnappte, leicht irritiert aber doch zuversichtlich, Ben zuckte zuerst zum f-Bauern, worauf Vater dachte „Nur das nicht“, nahm die Hand wieder zurück, dachte nach, und --- landete wieder beim f-Bauern! 2. .... f6xg5 3. Dh7xg7#

Nun stubste Elais Katharina in die Seite: „Von wegen: ich verliere!“

d.Alexei Kropman – Ben-Luca

In der zweiten Runde hatte Ben das Vergnügen, am ersten Brett aufzutauchen, gegen einen der beiden Topfavoriten. Alexei Kropman luchste mir vor gut einem Jahr in der Landesliga an Brett 2 einen halben Punkt ab, war mir dort natürlich als talentiert aufgefallen.

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Ben-Luca, mit rotem Pulli, an Brett 1 gegen Alexei Kropman, Daneben Dennie Shoipov, vorne, gegen Jan Paul Cremer. An 3 Markus Penner, vorne, gegen Bennet Schnabel. Der Blondschopf an 5 ist Luis Stratos Rose, neben ihm Margarita Kostré, und ganz vorne Ogus, ebenfalls in meiner Gruppe bei Rehberge, ihm gegenüber Jirawat Wierzbicki. An 4 müsste sich Emil Schmidek (ungewollt) verstecken.

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Alexei Kropman – Ben-Luca Schreiber, Schwarz am Zuge

Diese Stellung müsste Ben halbwegs bekannt gewesen sein, da er doch zwangsläufig mit der Pirc-Verteidigung immer wieder in vergleichbaren Situationen landet. Er spielt immer den Läufer nach g4 und tauscht, sobald der Läufer angegriffen wird, aber auch ab und an, wenn er es nicht wird. Was wäre das Ziel des Tausches? Natürlich: man schwächt durch Abtausch den Felderkomplex d4/e5, welche der Springer überwachte. Hier drängt sich der Zug 1. ... e7-e5 so sehr auf, dass man es sich kaum vorstellen kann, dass er nicht gespielt wird. Man könnte ganz eventuell auch über Sf6-d7 nachdenken, um sowohl d4 anzugreifen, als auch dem bevorstehenden Angriff mit e4-e5 auszuweichen. Jedoch muss man sich sehr gut überlegen, wie man nach dem dennoch erfolgenden e4-e5 das Zentrum nun anzugreifen gedenkt. Nein, ich bleibe dabei: 1. ... e7-e5 ist Pflicht für jeden Pirc-Spieler.

Ben meinte später, er hätte den Zug oftmals gemacht, wenn er nicht gut war. Ich konnte mich kaum erinnern. Der ausgeführte Zug 1. ... Tf8-e8 kann jedenfalls nicht gut sein. Die Absicht könnte nur sein, e7-e5 zu spielen, was man auch sofort tun könnte, und gegen den Vorstoß e4-e5 richtet der Zug nichts aus. Diesen sollte Weiß spielen, mit klarem Vorteil. Stattdessen entschied sich Alexei, fast a tempo, für den Zug 2. 0-0-0.

Dies räumte Ben die Möglichkeit ein, seinen kleinen Fehler zu korrigieren, indem er nun 2. ... e7-e5 spielt. Die Gegenüberstellung von Dame und Turm auf d macht nichts, denn, nach 3. d4xe5 d6xe5, wohin sollte der Läufer (unangenehm) abziehen? Ja, nach Ld3-b5 steht Weiß sicher etwas besser, aber eine normale Partie stünde bevor. Ben entschied sich für den Zug 2. ... Dd8-d7.

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Selbst wenn man nun wieder als gestrenger Lehrer aufgefasst werden sollte: einen Bauernvorstoß wie den Zug e4-e5 kann man doch nicht einfach ignorieren als Möglichkeit, zumal, wenn man häufig ähnliche Stellungen spielt? Der Zug ist eine Drohung, das gewiss. Er greift eine Figur an und erobert Raum. Es ist ein zentraler Vorstoß. Er ist häufig in der Pirc-Verteidigung Thema. Er dachte nicht an den Zug? Der Damenzug raubte dem Springer das letzte sinnvolle Rückzugsfeld, und nach 3. e4-e5 Sf6-h5 4. g2-g4 mit Springerverlust, war, wie der Engländer es ausdrückt, „ the game over as a contest“, die Partie als Wettstreit beendet, selbst wenn noch etliche Züge ausgeführt wurden. Das Endergebnis, bei Kropmanscher Technik fraglos 1:0.

e.Ben-Luca – Ogus Gencaslan

Auch dieser Name musste nachgelesen werden. Ogus kommt auch von Rehberge und ist in der gleichen Trainingsgruppe, obwohl mit seinen 17 Jahren mit Abstand der älteste. Er sagt, man spricht seinen Namen „Oos“ (oder ist es die Kurzform? Jedenfalls will er so genannt werden). Auch Oos hat beachtliche Fortschritte gemacht in letzter Zeit, sammelte bei einem seiner ersten Turniere (mit Erwachsenen) im Rathaus Schöneberg gute 4.5 Punkte aus 9 Partien. Er ist ebenfalls stets fröhlich/freundlich und motiviert, ohne je über eine Niederlage zu klagen, zumindest ist ihm äußerlich nichts anzumerken (es gab auch ein paar Kinder, welche regelmäßig nach Niederlagen, insbesondere den tragischen, Tränchen vergossen). Auf Nachfrage bestätigte er: ja, er arbeitet zu Hause alleine am Schach. Gerade diese Eigenschaft ist es übrigens, auf die jeder Trainer hinarbeiten sollte: wie schafft man es, dass das Kind aus Eigenantrieb zu Hause beginnt, Partien nachzuspielen, Bücher zu lesen oder Aufgaben zu lösen? Bei Ben geschieht es zwar auch in letzter Zeit mehr und mehr, aber noch immer etwas zu wenig, um im Vergleich mit den Altersgenossen die Nase entscheidend nach vorne zu bekommen.

Nun, selbstverständlich soll es, bei keinem Kind, nicht in empfundene „Arbeit“ ausarten, sondern allein aus Freude geschehen und außerdem soll bitte schön zunächst für die Schule alles erledigt sein (vornehmlich die Zensuren stimmen). Dieser „Ratschlag“ hat natürlich Allgemeingültigkeit und bezieht sich nicht speziell auf Ben. Das Blitzen im Internet, wie es sicher einige tun, gilt in dem Sinne nicht als ernsthaftes beschäftigen mit Schach, wie überhaupt noch ein paar Worte über das Blitzschach ausstehen.

Ben hatte diese Position erreicht, als mein (gestrenger?) Blick so en passant auf die Stellung fiel:

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Das, so hätte ich ihm gerne bescheinigt, muss bis zu diesem Zeitpunkt vorbildlich gespielt gewesen sein. Die Rochade wurde zwar aufgeschoben, dies jedoch aus gutem Grund, hatte doch der Turm von h1 glänzende Beschäftigung auf der offenen h-Linie. Der gegnerische König ist, wenn auch unter Figurenopfer und inklusive Damentausch freigelegt. Positionell sieht es am Damenflügel nach gutem Gelingen aus: der Läufer b7 ist richtig schlecht und der c-Bauer rückständig. Weiterhin hat er unnütze Bauernzüge komplett vermieden. Hut ab!

Nur, was war das? Früher hieß es mal : „Wenn ein Patzer ein Schach sieht, dann gibt er es.“ oder auch „Never miss a check, it could be mate.“ (Versäume nie ein Schach, es könnte ja Matt sein; genau dieser Rat ging auch an Ole Jannes Karge in der Partie gegen Dennie Shoipov, dort sogar höchst treffend, da tatsächlich Matt). Allmählich faszinierte mich der Anblick der Stellung. Es war für mich nicht vorstellbar, dass er den Zug Th1-h7+ mit Läufergewinn übersehen konnte, nein, im Scherze sagte ich oftmals zu ihm, wenn eine kleine Taktik möglich war, „das ist Stufe 4“, oder „das ist Stufe 3“. In dieser Stellung würde ich schwanken zwischen Stufe 1 und Stufe 2 aus der Stappenmethode. Ben dachte auch noch ausgesprochen gründlich nach. Verpasste Chancen, wenn man a tempo zieht, waren in dem Turnier Gang und Gäbe. Aber nach mindestens 30 Sekunden war es wirklich kaum denkbar, dass er ihn auslassen konnte.

Er zog 1. f2-f4 und landete bald darauf in dieser Stellung:

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Hier war zwar die Blitzphase angebrochen, aber gerade in jener scheint es noch viel wirksamer (und liegt noch näher), den gegnerischen König anzugreifen. Der Zug Th4-h7+ liegt nicht nur auf der Hand, sondern er gewänne auch stehenden Fußes. Der Läufer oder der Turm geht verloren, wonach die überzähligen Bauern gepaart mit dem aktiven Turm die Partie leicht entscheiden. Stattdessen traute ich den Augen ein zweites Mal kaum: Ben verfiel auf 5. g4-g5. Oos schnappte sofort zu: 5. ... Ld7xf5. Natürlich übersehen von Ben, keine Frage. Führt nur dazu, dass man ab und an (das betrifft jeden Schachspieler) sofort den Gegenzug ausführt, nur um dem Gegner zu suggerieren, dass es nicht übersehen sondern geplant war. Bei Ben fiel die Wahl auf den weiteren Fehler 6. Th4-f4. Nach dem offensichtlichen 6. ... Kf7-g6 blieben von der einstmals so prächtigen Bauernmasse nichts als Trümmer. Der Partieverlust bahnte sich an – und wurde bald Realität: 0:1.

f.Sander Breitzmann (nach Recherche) – Ben-Luca

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Hier nun ein Beispiel einer viel besseren Spielführung des eigenen Jungen. Ebenfalls im Pirc lief hier alles so weit nach Plan, selbst wenn (beiderseits) nicht alle Züge perfekt waren. Das materielle Gleichgewicht ist (noch) nicht gestört, was gerade im Blitzschach bereits ein wichtiges Kriterium ist für eine vernünftige Partie.

Ben hatte systematisch den Springer auf d6 „eingekreist“. Erst zog er b7-b5, dann Ta8-b8. Der Plan war erkennbar. Ihm auch die Folgen? Ich fand seinen Plan klasse und war natürlich zufrieden, obwohl mir klar war, dass längst nicht alles Gold war, was da glänzte. Statt des Partiezuges (die Frage, ob der Gegner seinen Plan gesehen hat, ist zwar interessant, kann aber nicht beantwortet werden; jedenfalls geschah als letztes c2-c3) käme natürlich 1. ... d4xc3 in Frage, sicher mit schwarzen Vorteil. Aber Plan ist Plan und Springerfang ist Springerfang. Oder?

1. ... Lg7-e5 2. Sd6xf7 (hatte er das gesehen?) 2. ... Tf8xf7 3. Sg5xf7 Kg8xf7 4. c3xd4. Weiß hat Turm plus zwei Bauern für zwei Figuren, also rein rechnerisch, ein nicht zu verachtendes Geschäft. Ein schwarzer Gewinn in ganz weiter Ferne, jedoch spielte Ben in der Folge weiterhin stark.

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Sie landeten einmal in ziemlich genau dieser Stellung. Ich überlegte kurz, ob das Eindringen des Turmes auf d8 den Sieg bringen würde (weiß nicht sicher), da ging die Partie auch schon, bei knapper werdender Bedenkzeit, weiter.

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Ein paar Züge später war diese Stellung auf dem Brett. Nun, der mutige Königsmarsch war bis zu einem gewissen Zeitpunkt gar nicht mal so schlecht. Aber auf den letzten Zug Tc2-c3+ hätte man doch lieber den Läufer für den Turm hergeben sollen. Natürlich ein häufig beobachtetes Phänomen: auch sehr starke Spieler neigen dazu, ihren Gegnern Züge „zu glauben“. Wenn man also einen groben Einsteller macht – gelegentlich gar auf ein Schach nicht reagiert – dann passiert es schon mal, dass der Gegner aus Verblüffung und aus Respekt gar nicht merkt, dass er sofort gewinnen kann, und nimmt einem den Zug ab. Dafür gäbe es x Beispiele (aber hier stehen nur y Seiten insgesamt zur Verfügung).

Jetzt hatte der Gegner die Gelegenheit erkannt, das Remis zu forcieren. Es geschah einige Male Tc1-c2+, Kd2-d1, Tc2-c1+, Kd1-d2. Ich wollte mich schon abwenden, plötzlich dieses Kuriosum, was man mal wieder in Tiefe analysieren könnte; Ben wollte dem unvermeidlichen Remis einmal ausweichen (?!?!) mit dem Zug Kd2-e1 anstatt immer nur nach d1 zu gehen. Was war die Idee dabei? Denn leicht erkennbar, dass man dort auch nicht rauskäme, wenn der Gegner bei seiner Abfolge bliebe. Andererseits hat man ihm durch die Abweichung suggeriert, dass man nach einem Gewinn sucht und überhaupt.... Der Gegner reagierte wie folgt: Er zog nicht erneut den Turm nach c1 zurück, sondern stattdessen den anderen nach e3. 46. (?) Tc3-e3+.

Nun blieb nur das Ausweichen nach d1. 46. ... Ke1-d1, woraufhin der Gegner seine „Zwickmühle“ wieder aufbaute mit 47. Te3-e2.

In dieser Stellung fand Ben, fast ohne Nachdenken, den einzigen Rettungszug mit 47. ... Lg7-f6.

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Dies ist natürlich nur objektiv gesehen der Einzige, dennoch eine exzellente Wahl. Er möchte den Turm ziehen können und er hat auf die überraschende Wendung überhaupt nicht irritiert reagiert. Nun machte der Gegner erneut Gebrauch von der möglichen Zugwiederholung. Allerdings wäre der Mattplan auch nicht aufgegangen, denn auf 48. Kg1-f1 folgt 48. ... Te8-d8. Also war alles korrekt. Der Gegner zog etwa drei Mal hin und her. Ben reichte ihm nach dem dritten Mal die Hand, mit 5 Sekunden auf der Uhr gegen 10 beim Gegner, dieser schlug ein.

Obwohl man kaum ein Wort hörte (und ich mir schon bewusst war, dass Ben nicht das Recht hätte, einfach das Remis zu bestimmen, also drei Mal die gleiche Stellung im Blitzschach nicht gilt), war ich sicher, dass es die Remisvereinbarung war.

Es gab nur einen weiteren Zuschauer, der meinte, dass, wenn er die Hand reichen würde ohne Angebot, dies die Aufgabe bedeuten würde. Irgendwie hatte er schon ein klein wenig Recht, aber der Junge gegenüber meldete sofort das Remis. Natürlich die korrekte Entscheidung, dennoch sollte Ben daraus lernen.

g. Johann Donath – Robert Denkert

Ein weiteres Partiebeispiel, dieses aus der Schlussrunde. Robert Denkert ist mir in diesem Turnier das erste Mal so richtig aufgefallen. Sicher hatte ich ihn schon gesehen und sicher hatte er auch ab und an schon gute Ergebnisse. Aber diesmal konnte man wirklich staunen über seine Entwicklung. Er saß fast immer vorne – bei der ersten Sichtung rieb ich mir wirklich noch etwas verwundert die Augen --, aber zeigte auch auf dem Brett, wie versiert er bereits ist. Bisher kannte ich natürlich seine Schwester Anna besser, da sie mit Katharina nicht nur im gleichen Alter, sondern auch schachlich auf Augenhöhe ist.

Robert hat sich diesmal wirklich nach vorne gespielt. Die Partie gegen Margarita Kostré habe ich in Auszügen gesehen, und es war exzellent, was er da aufs Brett zauberte.

Johann Donath ist natürlich längst bekannt. Nicht nur hat Ben-Luca eine seiner ersten Glanzpartien gegen ihn, Johann, den damals bereits weit renommierteren, gespielt (die in einem vorherigen Bericht kommentiert ist), wenn auch diese am Ende verloren, nicht nur haben wir gemeinsam den Schiedsrichterlehrgang im Sommer besucht, nein, darüber hinaus haben wir auch am gleichen Tag Geburtstag, was ihn, dank des „richtigen“ Geburtsjahres, exakt drei Tage älter als Ben-Luca macht.

Johann hat sich beständig weiter entwickelt und vor allem sind seine Objektivität und sein Brettverhalten beeindruckend. Er ist stets freundlich, lächelt Stellung und Gegner an, kann aber selbstverständlich auf dem Brett dennoch die Krallen ausfahren.

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Vorne links im Bild Robert Denkert, rechts der Gegner Johann Donath. Hinter Robert, mit weißer Mütze, Kilian Damerow

 In der Schlussrunde trafen diese beiden Beschriebenen aufeinander und ich widmete mich eine Weile lang dieser Partie. Johann hatte schon frühzeitig Vorteile und, wie er anmerkte, hatte der Gegner schon in der Eröffnung eine Ungenauigkeit begangen (er vergaß in einem Wolga Gambit den Zwischentausch mit dem Läufer auf f1). Dieser „Fehler“ aber keineswegs tragisch. Johann vergrößerte sein Übergewicht und hätte in dieser Stellung hier..

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Weiß: Johann Donath- Schwarz: Robert Denkert, Weiß am Zuge

bereits einen ziemlich einfachen Sieg gehabt. Er hatte den Zug 1. f2-f3 zuvor gespielt, der Springer war von e4 nach g3 gehüpft, 1. ... Se4-g3, in der Hoffnung, nach 2. Td1xd6 mit der Gabel 2. ... Sg3-e2+ den Läufer einzuholen. Nur wäre dann, nach 3. Td6-d8+ gefolgt von c6-c7 der schwarze Turm verloren gegangen, so dass eine Qualität und ein Freibauer mehr (der auf a3) auf der Habenseite stünden, mit eigentlich einfachem Gewinn.

Johann meinte nach der Partie, er hatte das gesehen, aber versprach sich von der Partiefortsetzung noch mehr.

Er spielte 2. Kg1-f2 Sg3-f5 3. g2-g4 Sf5-d4 4. Lc1-e3

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Nun hatte Schwarz zwar die Chance, den Bauern zu nehmen, und die Stellung wäre nach Td1xd6 gefolgt von Td6xe6 bei zwei Mehrbauern gewonnen für Weiß. Trotzdem kann natürlich von „mehr“ aus Sicht des Weißen gegenüber dem Qualitätsgewinn nicht die Rede sein (Johann hatte sicher etwas anders geplant oder gerechnet, kein Vorwurf natürlich). Robert aber entschied sich anders, nämlich für...

4. ... e6-e5 Nach 5. Le3xd4 e5xd4 6. Td1-c1 schien die Partie aber dennoch so gut wie entschieden. Es sah aber vielleicht besser aus als es war, denn Schwarz verteidigte sich gekonnt und schnell, indem er den c-Bauern mit dem Turm aufhielt und den König heranbrachte. Der Springer fand keinen ganz überzeugenden Weg, den Turm zu fangen (gab es überhaupt einen?), und bald danach stand diese Stellung auf dem Brett:dia24

Hier nun war Schwarz dran und eliminierte den a-Bauern mit 8. ...Kb6xa6. Darauf stellte Johann seinen König nach e3, also behielt ihn auf einem schwarzen Feld (besser mal endlich eine weiße Figur auf Weiß). 9. Kf2-e3. Robert spielte sehr stark weiter mit 9. ... d6-d5. Nun ist die Stellung wirklich nahe am Remis. Der Läufer ist eine starke Figur, oftmals stärker als der Springer. Trotzdem gibt es auf Seiten des Weißen einen Mehrbauern ... und diesen setzte Weiß (, zum Entsetzen seiner Fans, hätte ich fast gesagt) in Bewegung! 10. f4-f5. Alle Figuren auf Schwarz, da dürfte das Auge schon mal „Alarm“ an das Gehirn senden? Schwarz zog reflexartig 10. ... g6xf5 und Weiß ebenso 11. Sd4xf5. Nun hielt Robert den Läufer in der Hand, wollte zuerst nach c5, sah, dass das Feld gedeckt war vom Turm, schwebte in der Luft... hier die Chance am größten, dass er das Feld g5 findet!

Aber er setzte ihn auf f8 ab. 11. ... Le7-f8. In beiden Zügen hätte Le7xg5+ den Turm erobert – und die Partie sicher entschieden.

Auch so blieb der Schluss dramatisch, wenn auch nicht in allen Einzelheiten erinnerlich (deshalb hier vorenthalten). Schwarz konnte aber das (verdiente) Remis retten.

Hier die Schlussstellung.

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1/2:1/2.

Nach der Partie war Johann zunächst leicht enttäuscht, was nur bedeutet, dass er genau so nett lächelt wie davor, sich dies also innerlich abspielt („Dann bin ich ja nur Dritter?“ sagte er). Als er auf den möglichen Turmverlust aufmerksam gemacht wurde, reagierte er erleichtert, aber seinem Charakter entsprechend. „Dann habe ich ja sogar Glück gehabt.“, so der lapidare, ehrlich-aufrichtige, objektive aber auch irgendwie treffende Kommentar.

10) Ein atmosphärisches Foto

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Ein Foto zum Beweis, dass der Umgang mit meinem Sohn nur vertraut und angenehm ist, keineswegs streng oder belehrend. Dieses sanfte Lächeln, beiderseits, selbst wenn seines der Bauart „kindlich“, ein ganz klein wenig in „verlegen“übergehend, ist doch einfach nur schön, oder? Auch Beobachter Emil Schmidek scheint angesteckt von dieser Atmosphäre. Ganz rechts sieht man Alexei Kropman, welcher gerade dabei war, die Turnier entscheidende Partie zu verlieren. Neben ihm Dennie Shoipov mit der souveränen Verwertung seines Turmübergewichts gegen Jirawat beschäftigt. Zugleich war es die Runde der Partie zwischen Margarita Kostré gegen Bennet Schnabel. War dies der Moment, in welchem sie den Läufer verhängnisvoll von d4 verschob (da ich ihn ja verpasste)?

11) Zwei falsche Rochaden

Ein weiteres Kuriosum: in einer Runde verloren zwei Spieler an den ersten vier Brettern durch die falsche Ausführung einer Rochade. Dass Vater Schmidek seinen Sohn in gewisser Weise in Schutz nahm, ins Felde führend die Tatsache, dass er nur durchs Schach rochiert hätte, während Dennie Shoipov zuerst seinen König nach d8 zog (um eine Dame zu schlagen), ihn nach e8 zurückbewegte um den Punkt f7 zu verteidigen und weil in einem Moment die Situation so günstig erschien, dass er sich zur (irregulären) Rochade entschloss, konnte nicht wirklich akzeptiert werden. Ob nun ein schwereres Vergehen oder ein gröberer Fehler: dies ist kaum auszumachen und Rochadefehler bleibt Rochadefehler.

12) Der Turniersieger

Ein paar Worte über den Turniersieger: Jan Paul Cremer war bereits in der vorbereitenden Blitzpartie gegen Alexei Kropman als Favorit auszumachen, selbst wenn zwischen den beiden kein erkennbarer Unterschied war. Die Trainingspartie wurde zwar von Jan Paul gewonnen, jedoch in einem Schlussspiel, da sich Alexei bereits des Sieges zu sicher war (es hat mich ein paar Stunden gekostet, das Bemühen um die beinahe mögliche Rekonstruktion dieser Partie durchzuführen – und es aufzugeben; irgendein Detail stimmte nicht).

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 Man ahnt ein wenig, wie es zur Punkteteilung an Brett 2 kam... Jan Paul Cremer scherzend mit Alexei und der Gegnerin, Margarita, verdeckt durch Markus Penner, der sich ebenfalls an der Spaßrunde beteiligt, obwohl ihm mit Robert Denkert ein nicht zu unterschätzendes Kaliber gegenüber sitzt – und jener gar tatsächlich die weiße Armada zum Siege führte. Fabian Alcer an 1 musste Alexei Kopmans Überlegenheit anerkennen, während Jirawat Wierzbicki erkennbar zuversichtlich mit den schwarzen Steinen in den Kampf gegen Emil Schmidek ging – und wirklich die Oberhand behielt.

Immerhin: am Vortage hatte ich ganz persönlich ein Kräftemessen mit Jan Paul Cremer in der Schlussrunde des Grand Prix Turnieres beim SK Präsident. In jener Partie konnte ich ihn in einer von mir gut gespielten Partie bezwingen, musste aber sowohl nach ihr als auch am nächsten Morgen von Jan Paul zur Kenntnis nehmen, dass er das ganze Turnier „ganz schwach gespielt habe“, und auch weiterhin außer Form befindlich sei.

Ein paar Stunden später konnte ich per Nachfrage immerhin erfahren, dass er nun doch wieder zufrieden sei. Sicher, es war die eine Partie, auf die es ankam, gegen Alexei – und diese konnte er für sich entscheiden. Dennoch war der Eindruck insgesamt: der Turniersieg war verdient, auch wenn der halbe abgegebene Punkt gegen Margarita nur bösartigen Gerüchten zufolge ein „Kavaliersdelikt“ war.

Ich nehme für mich frecherweise in Anspruch, ihn in unserer Turnierabschlusspartie vom Vortage „so richtig in Form gebracht zu haben“, selbst wenn es sich erst am nächsten Tag und von ihm bis dahin nicht wahrgenommen zeigte. Er hat sozusagen schnell gelernt...

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Vorne links im Bild Johann Donath, mit dem typischen, wissenden, freundlichen Lächeln. Hier spielte er (bald) gegen Sergii Polutskyi. Neben ihm Katharina, im anstehenden Duell gegen Gugulaschwili, welchen sie bezwingen konnte. Das Bild vor Runde 2.

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Ein weiterer Schnappschuss, dieser aus der Schlussrunde, von den Brettern eins bis viereinhalb. Jirawat an 1 gegen Jan Paul Cremer führt gerade einen Zug aus, ohne den letztendlichen Verlust abwenden zu können. An 2 scheint Alexei kleinere Probleme zu haben (wieso sonst drehte er eine Locke?) gegen Margarita Kostré, selbst wenn diese nur lauteten: „Ob ich gewinne oder verliere: ich bin eh 2., weil Jan Paul gewinnt.“An 3 vergräbt sich Sergii Polutskyi, auf der Suche nach Vorteil, aber auch Emil Schmidek macht einen hoch konzentrierten Eindruck – und verteidigte mit dem Remis den 3. Platz. Coach Heinz Großmann schaut leicht besorgt auf Dennie Shoipovs Partie, da dieser bereits gegen Schwarzspieler Markus Penner eine Qualität eingebüßt hat. Er gewann diese zwar zurück (Markus danach: „Ich hab gar nicht gesehen, dass er den Turm angegriffen hat. Mein Glück war, dass der gedeckt war.“), konnte aber im ungleiche Läufer Endspiel nach Verlust des f-Bauern den frei gewordenen f-Bauern des Gegners nicht aufhalten – und verlor haarscharf.

Johann Donaths Gesicht, ganz vorne links, verrät kaum, wie nahe er sich dem Sieg wähnte – um ihn am Ende zu verpassen (Gegner war Robert Denkert).


Eine kleine Anmerkung zum Schluss: Ein Prinzip von mir ist es, keine Recherchen anzufertigen. Die Gründe: es verliert die Authentizität, wenn man recherchiertes Wissen als eigenes verkaufen möchte beziehungsweise den Leser im Unklaren lässt, ob denn dieses Wissen speziell für diesen Moment angeeignet war oder ob es aus der Erinnerung erzählt ist. Insofern mögen Fehler gar als Beweis dienen, dass man NICHT recherchiert hat, denn die penible Vermeidung würde nur den Rückschluss zulassen, dass man es doch getan hat.

Nur habe ich für diesen Bericht eine Ausnahme gemacht. Auch hierfür ein spezieller Grund: die Namen vieler Teilnehmer waren nur teilweise oder gar nicht bekannt, sowie das winzige Problem der korrekten Schreibweise eines Namens als möglichst zu vermeidendes erkannt. Olaf Sill sandte mir die Schlussrangliste zu, so dass ich etliche Namen korrigieren oder ergänzen konnte.

Die Bilder sind ausnahmslos von Johann Schmidek geschossen und wurden mir von ihm großzügig zur Verfügung gestellt.

Montag, 12 Dezember 2011 18:06

Mitgliederschwund

Das Schachspiel hat sicher einen besonderen Stellenwert und einen besonderen Ruf – auch in der Auffassung der Gesamtbevölkerung. Es ist das Spiel, bei dem die geistigen Fähigkeiten optimal zum Einsatz kommen können. Man kann ein Kräftemessen durchführen, bei welchen, so die vermutlich gängige Ansicht, sich der Bessere auf dem Spezialgebiet des Menschen – dem Denken – herauskristallisiert.

Selbst wenn man eines Tages weiß, dass dem nicht ganz so ist, so hat diese gängige Ansicht dennoch einige Konsequenzen. Unter anderem macht es einem Angst. Jene Angst, sich dem Gegner beugen zu müssen und dessen Überlegenheit einzugestehen, gerade auf dem Gebiet der Denkfähigkeit. So wird den Schachspielern sicher stets ein gewisser Respekt entgegengebracht werden, andererseits der Zulauf nicht unbedingt (entscheidend) gefördert. Abgesehen davon, dass jeder Anfänger alsbald feststellt, dass diese Figuren mitsamt dazugehörigem Brett zwar wunderhübsch und ästhetisch aussehen, und dringend danach rufen, sie doch wenigstens einmal gekonnt über das Brett zu führen, dass man jedoch selbst nach der siebenten Trainingsstunde noch immer nicht die geringste Ahnung hat, wie man denn nun den gegnerischen König zur Strecke bringen soll bevor einen selbst dieses Schicksal – ohne jede empfundene Vorankündigung – ereilt. Zur achten Trainingseinheit erscheint man nicht mehr, in der Anerkenntnis, hinter die tiefen Geheimnisse dieses Spieles nur mit einem erheblich höheren Zeitaufwand, wenn überhaupt jemals, kommen zu können.

Nun sind beim Schach die Glückselemente vorsätzlich ausgenommen – Schach, das König der Spiele, wie man es in gewisser, aber

Robert Hübner:
55 feiste Fehler


für Fortgeschrittene,
erhältlich im Shop

55feistefehler

hoffentlich gelungener Abwandlung gerne nennt. Sicher, irgendwie schon wahr und man dreht eigenhändig unheimlich gerne bei allen sich bietenden Gelegenheiten die Werbetrommel. Nur sind einem die Schattenseiten sehr wohl bewusst: die Elimination der Glückselemente ist es, zu einem Gutteil.

Es bedeutet nicht nur, dass man sich nach Niederlagen so elendig schlecht fühlen kann, weil man eben auf dem wichtigsten Territorium des Menschen versagt hat – dem Denken. Ganz anders als ein Läufer etwa, der beim 100 Meter Lauf als Zweiter oder gar Letzter eintrudelt, sich dennoch damit trösten könnte, der bessere Mathematiker zu sein. Beim Niederlegen des Königs hat man sozusagen als Mensch versagt. Vergleichbar wäre dies vielleicht mit einer Gazelle, die einen Wettlauf verliert oder einem Löwen, der in einer körperlichen Auseinandersetzung den Kürzeren zieht und mit eingezogenem Schwanz davon trotten muss – falls er überhaupt noch trotten kann.

Dies hat viele Schachspieler längst dazu bewogen, sich anderen Spielen zuzuwenden. Man hat in den 80er bis 90er Jahren einen Boom im Backgammon zu verzeichnen gehabt, einem Spiel, welchem selbst die damalige Nummer 1 im deutschen Schach, Robert Hübner mit warmen, anerkennenden Worten huldigte, und er war bei weitem nicht der Einzige. Man suchte sich vorsätzlich Spiele, bei denen die Glücksfaktoren – beim Backgammon die Würfel – hinzugefügt waren, nicht nur, weil dies für unerwartete Wendungen im Spiel sorgte, was einem beim Schach gelegentlich fehlte – dies gilt vor allem für die Zuschauer, die höchstens respektvoll schauten, wie denn nun Karpov seinen Minimalvorteil verwertet, und nicht etwa, ob er, geschweige denn, ob er vielleicht gar verlieren würde, sondern vor allem, weil man bei Turnieren plötzlich Börsen erzielen konnte, bei welchen man nach hypothetischem Gewinn tatsächlich mehr als die nächsten drei Wochen, bei Brot und Wasser und im Zelt, versteht sich, überleben konnte.

Der Grund ganz einfach: Schwächeren Spieler, die bei Schachturnieren bei Erhebung höherer Startgelder abwinken würden, in der Erkenntnis, eh niemals an die (dann ausgelobten) Fleischtöpfe herankommen würden, sondern lediglich dafür sorgen würden, dass die großmeisterlichen Hyänen darüber hermachen würden, vermutlich noch in einer ihrem Gusto entsprechender Aufteilung, durch abschließende Remisen, bei denen man also nicht einmal rollende Köpfe begutachten könnte, sondern fein säuberlich und nach einer halben Stunde bereits in der Grundstellung befindliche Spitzenbretter. Nein, diese Mogelpackung, so der zur Kasse gebetene Amateur, würde man garantiert nicht finanzieren.

Ganz anders beim Backgammon, wo sogar ein Anfänger bei ausreichender Anhäufung von auserwählten Würfen durchaus in der Lage wäre, selbst den Weltmeister zur Strecke zu bringen. Hier, so beschied der (dennoch am Ende gemolkene) Laie, lohnt sich das Investment, hier, so fand er, hatte er eine faire Chance und wenn ihm das Würfelglück nicht hold war, so nutzte er jede erdenkliche Chance, seine „Pechgeschichte“ an den Mann zu bringen, als dem Gegner in dieser Stellung hier dieser unfassbare Wurf gelang. Er macht jedenfalls nicht geringeres Spielvermögen dafür verantwortlich – und zahlt, beim nächsten Turnier mit noch größerer Leidenschaft, da er doch so dicht dran war...

Vor ca. 10 Jahren lief das Pokerspiel Backgammon den Rang ab, vor allem, was den Abzug der Spitzenspieler zu diesem Spiel hin anbetrifft. Viele gerade der herausragenden Schachspieler erkannten das Problem sehr wohl: Schach – winzig kleine Börsen (siehe oben), Poker – gigantische Monsterbörsen.

Die Gründe allenthalben dieselben wie beim Backgammon erwähnt. Poker hat als Glückselement die Kartenverteilung, was jenem des Würfelns in nichts nachsteht. Poker hat gar noch den einen riesigen Vorteil, dass Fehler eines unterlegenen Spielers dann nicht recht auffallen, wenn er seine Hand, mit welcher er sinnlos ein „raise“ bezahlte im Anschluss für niemanden ersichtlich „folded“, die Karten also verdeckt auf den Ablagestapel schiebt.

Selbst professionelles Gambling in Form von Sportwetten hat einen gehörigen Zulauf erfahren, und gerade der Autor finanzierte große Teile seiner Lebenszeit durch diese Form des Spielens. Es ist auf jeden Fall möglich und beim Sportwetten gibt es einen großen Grad an Geschicklichkeit, der ausreichen kann, die Bankvorteile zu überwinden. Das Internet bietet heutzutage ein breites Spektrum an Plattformen für Online-Wetten aller Art, z. B. Live Wette auf Digibet.com

Anm. der Red.: Der Artikel spiegelt die Meinung des Autors wider. Glücksspiel kann süchtig machen.

Freitag, 18 November 2011 01:26

Blindschach

 Wie bemerkte jüngst ein befreundeter westfälischer, aber längst in Berlin ansässiger Schachspieler, als man mit einem geliehenen Wagen gemeinsam unterwegs war und ein wenig Vortrieb erforderlich wurde, um einen Überholvorgang zum Abschluss zu bringen so trefflich – und belegte damit die Markigkeit der Sprüche seines Herkunftsbundeslandes? „Der zieht ja keinen Hering vom Teller.“

So wird vermutlich auch mit dieser Überschrift kaum ein Hering vom Teller zu ziehen sein, geschweige denn einem Schachspieler, außer einem müden Gähnen, irgendeine andere Geste der Vorfreude, Euphorie oder Begeisterung zu entlocken sein. Man wird dennoch freundlich zum Weiterlesen gebeten, denn es verbirgt sich etwas ganz anderes dahinter als möglicherweise ein neuerlicher Vorschlag – wie jüngst gelesen gar von einem Deutschen geplant --, den Simultanweltrekord in dieser Disziplin zu brechen.

Nun muss man jedoch noch ein wenig Geduld aufbringen, wohin das Ganze führen soll und was sich hinter dem bereits anderweitig vergebenen Begriff in diesem kleinen Text verbergen soll. Dazu muss man, wie vom heutigen Autor sicher schon gewohnt, ein paar Vorüberlegungen anstellen. Diese beginnen beinahe ein wenig anekdotisch.

Die erste Begegnung mit diesem „Problem“ hatte man bei einem Blitzturnier, ausgetragen anlässlich der Deutschen Jugendmeisterschaft 1977 in Wallrabenstein – wo man im Übrigen die erste Begegnung mit dem damals für einiges Aufsehen sorgenden, noch sehr jugendlichen (und NICHT Teilnehmer der DJEM) Jörg Hickl, ebendort bis heute ansässig, hatte --, bei dem sämtliche lokalen Schachspieler herzlich eingeladen waren zu einem Kräftemessen mit der jugendlichen Elite. Nun geschah es in einer Partie, dass man persönlich in eine völlig hoffnungslose Lage geriet, der Gegner aber plötzlich so heftiges Muffensausen bekam – spürbar am Brett, da ihm das Skalp einer vermeintlichen Größe winkte – dass er die Partie unmittelbar danach verdarb.

Der eingefahrene Punkt wurde zwar vermeldet, sicher nicht gänzlich ohne Scham, er fand auch Eintrag in die Turniertabelle, versteht sich, jedoch hatte er auch diese frühe Folge: man begann, darüber zu sinnieren, ob einem möglicherweise nur die (vermutete) Größe des Namens, nicht aber die Größe der auf dem Brett ausgeführten Züge diesen Punkt eingebracht hatte.

 Diese Überlegungen wurden beständig weiter geführt und auch hier nach Möglichkeit ein Erfahrungsaustausch vorgenommen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Bis heute wird jedenfalls an allen Ecken und Enden der berühmte Spruch des ebenso berühmten „Praeceptor Germinae“, des deutschen Vorkämpfers, Dr. Siegbert Tarrasch zitiert, der sich vermutlich zu seiner Zeit bereits ähnliche Gedanken gemacht hatte: „Es genügt nicht, ein guter Spieler zu sein. Man muss auch gut spielen.“

covermdb Anzeige-bearbeitetDieser Spruch hat natürlich noch etwas mehr Gehalt und kann auch an anderen Stellen sinnvoll eingesetzt werden, man sollte aber stets bedenken – und damit ein wenig anlehnend an einen Vorgängertext über Glück im Schach --, dass man Schachpartien an sich nur über möglichst konstant ausgeführte gute Züge gewinnen kann, sich bei jedem Zug erneut so gute wie mögliche Gedanken macht und ein wenig auf das Schicksal vertraut, dass sich dies auch in Resultaten niederschlägt. Sobald man versucht, mithilfe des Namens oder der Elo-Zahl, einfach aufgrund der ausgewiesenen und von Professor Elo mit der ausgeklügelten Formel errechneten Gewinnvorteils, die Punkte einzufahren, kann man recht bald und ebenso leicht Schiffbruch erleiden.

Aber halt; genau darum ging es ja eigentlich: welchen Einfluss hat nun die Kenntnis des Gegners und das Wissen um seine Überlegenheit auf den Partieausgang? Ist vielleicht die Zugauswahl davon beeinflusst? Kann man befangener werden und zu schwächeren Zügen greifen als gewohnt, nur, weil man in der Eloliste 250 Punkte weniger auf dem Konto hat? Kann man beflügelt werden von der Aussicht, ein Schwergewicht vor die Flinte zu bekommen und nun und gerade heute sein bestes Schach auspacken? Oder würde man vielleicht, unter dem gewaltigen Eindruck des Namens gar wie das Kaninchen vor der Schlange, gar nicht mehr agieren und auch nicht reagieren, sondern sich willenlos abschlachten lassen (was das Kaninchen ja mit der Taktik gerade zu verhindern gedenkt und so widersprüchlicherweise den Einzug in die Sprichwörterwelt fand)?

Nun ja, eine Vielzahl von Fragen, die vielleicht jeden – auch alle noch nicht Befragten – schon einmal in dieser oder jener Form angestellt haben – mit sicherlich offenem Ergebnis. Nur gäbe es dennoch diese kleine weitere Geschichte „aus dem Nähkästchen“ preis zu geben, die eine verblüffende Antwort zutage förderte.

Man hatte nun im Verlaufe der (noch andauernden, aber nicht mehr ganz jungen) Schachkarriere doch ausreichend viele Begegnungen mit etlichen Spitzenspielern, aus denen sich auch die eine oder andere anhaltende Bekanntschaft ergab. So wenig zugänglich der Mensch vielleicht wirken mag, aber man darf doch immerhin erwähnen, dass man einen gewissen Einblick in die Gedankenwelt des Dr. Robert Hübner – beinahe jahrzehntelang der deutsche Vorkämpfer ca. 100 Jahre nach dem vorzitierten anderen Doktor – erhalten zu haben. Man traf sich bei den zahlreichen Erstligakämpfen zumindest einmal jährlich (man war gar für zwei Jahre Reisepartner) und hatte auch sonst ein paar Begegnungen – beispielsweise einen Nachwuchstrainingslehrgang, welchen besagter Doktor leitete.

Nun tat man jedoch so ziemlich alles andere als Schachspielen und hat nicht eine einzige Partie gegeneinander ausgetragen. Vielmehr rühmte Robert Hübner die Eigenheiten des Backgammon – wessen man sich regelmäßig befleißigte --, bei welchem er vor allem auf den Umstand aufmerksam machte, dass man doch glücklicherweise im Anschluss an eine verdorbene Partie einen Verantwortlichen ausgemacht hätte, an denen sich die Wut entladen kann – natürlich, ja, die Würfel – während man im Schach sehr eigenhändig nach fünfstündigem Kampf den Turm auf jenes Feld platziert, wo ihn der Springer nach einem Doppelangriff auf König UND Turm im nächsten Zug vom Brett entfernen darf – damit sicherlich auf seine tragische Niederlage gegen Viktor Kortschnoi anspielend, in welchem ihm dieses Missgeschick widerfuhr und er die vorteilhafte, und zur Teilnahme an einem Kampf um die Krone bei Sieg, berechtigende Partie verdarb.

Aber auch sonst hatte man die Chance, ihn privat etwas näher kennen zu lernen und er überreichte einem gar zwei Mal sein Buch „Olli“, in welchem er Kurzgeschichten aus dem Finnischen übersetzt hat – um nur einen winzigen weiteren ihn so besonders machenden Charakterzug vorzustellen. So kam es auch zu einem Gespräch über  die mögliche Auswirkung der Bekanntheit der Größe des Gegners: hilft es dem Besseren oder schadet es ihm? Wen anders als den praktisch immer Besseren könnte man dazu schon befragen?

Nun verblüffte eben Roberts Reaktion. Er war der Ansicht, dass es ein Nachteil für den Besseren wäre (ohne sich dabei endgültig festlegen zu wollen). Er meinte, dass sich die Außenseiter immer sehr besonders auf diese Partie freuen und vorbereiten würden, dass sie, noch dazu, sich praktisch immer mit Remisfortsetzungen begnügen würden, wodurch der zu brechende Widerstand noch anwüchse, anders als wenn jemand der Weltspitze gegen ihn mit offenem Visier kämpfen würde.

Nun, so sehr diese Argumente auch bedenkenswert erschienen, so wenig konnte man sich doch mit der letztendlichen Aussagen anfreunden. Man blieb bei der Konsequenz, dass es ein Vorteil für den Favoriten sei, dass er mit seinem Namen und seiner Elo-Zahl den Eindruck schindet, welcher dem Anderen die Lähmungserscheinungen – sich niederschlagend in schlichten Denkblockaden – zufügt. Man hat genügende Beispiele persönlich erlebt, in denen die Gegner zwar die Gewinnstellung herausspielen, aber in dem Moment, da sich der Sieg tatsächlich abzeichnet, aufgrund der Aufregung plötzlich völlig den Faden verlieren und die Partie wenige Züge später bereits komplett wegstellen.

Ebenso hat man selbstverständlich auf der Gegenseite die schmerzvolle Erfahrung gemacht, dass man, sobald der Gegner ein gewisses Potenzial ausweist, selbst in diesen Strudel geriet: die Stellung ist klar gewonnen, das weiß man wohl, aber auf einmal ist Tabula Rasa im Kopf, die Gedanken springen hin und her, die logische Gewinnführung bleibt aus – und gar der halbe Punkt entschwindet. So hat man zwar in letzter Zeit eine Reihe ausgezeichneter Ergebnisse erzielt in allen möglichen Schnellturnieren in und um Berlin, jedoch ausgerechnet gegen die beiden Externen mit der höchsten Elo-Zahl – Arik Braun und Normunds Miezis, mit jeweils 2550 etwa – sang- und klanglos verloren, jeweils mit Weiß, und dies zwei Mal mit groben Einstellern.

soldatIM René Stern stand zwar mit seiner (sehr vernünftigen) Ansicht zur Verfügung und bemerkte, dass man gegen die Besseren aufgrund der länger andauernden Partie ohne derenseitige Fehler öfter die Gelegenheit hätte, selbst etwas einzustellen, jedoch genügt dies nicht, um die eigenen wirren Gedanken wahrhaftig zu erklären (diese verfluchte Eitelkeit: in beiden Turnieren waren dies die einzigen schwachen Partien und auch die einzigen Niederlagen; jeweils gewann der Favorit die Turniere klar und deutlich, für den Autor sprang einmal ein 3., einmal ein 4. Platz heraus, bei sehr guten Besetzungen).

Sicher mag es auch eine Frage des Charakters sein, ob man möglicherweise die David-Rolle lieber einnimmt und quasi unerschrocken einen Angriff anzettelt – vergleichbar vielleicht mit dem angeschlagenen Boxer, welcher, einmal auf der Verliererstraße, beinahe beliebige offensive Schläge austeilen kann, ohne Rücksicht auf eigene Malässen oder die Verteidigung, und gerade dadurch so gefährlich wird --, bei dessen Gelingen man das Schwergewicht zu Boden zwingt, und bei dessen Misslingen man einfach nur mit den Schultern zuckt, oder aber die etwas ängstlichere Spezies, welche ja keine unüberlegten Züge machen möchte, am liebsten auch dem Großmeister vorführen möchte, dass man durchaus in der Lage ist, sehr vernünftige spielen, letztendlich nach 48 Zügen das Partieformular doch unterzeichnet, aber im Bekanntenkreis nicht ohne Stolz herumerzählt, dass man „immerhin 48 Züge durchgehalten hat“, dass der Großmeister einem Lob gezollt hat und dass man kurz vor Schluss gar noch einen Remisweg ausgelassen hätte. Aber dennoch gibt es einen Einfluss, der für jeden gilt. Nur bleibt die Beantwortung der Frage – vorteilhaft für diesen oder für jenen – auf Dauer unbeantwortet.

Und damit wäre beinahe schon die Überleitung zur Erläuterung der Überschrift geschafft. Muss die Frage wirklich für immer unbeantwortet bleiben, schlichten Thesen, bald dieser oder bald jener, unterworfen, welche sich als reine Spekulationen ohne jede Nachweisbarkeit darstellen? Gibt es nicht doch eine Möglichkeit, sich der Beantwortung der Frage anzunähern, diesem Geheimnis auf die Schliche zu kommen? Und die Antwort auf diese letzte Frage lautet: JA, es gibt eine Möglichkeit!

Das Experiment erfordert eigentlich im Zeitalter des Internet (und dessen zahlreichen Blitzschachmöglichkeiten) kaum einen nennenswerten Aufwand. Man müsste lediglich Vertreter finden, die sich unter diesen Bedingungen zu einem Turnier anmelden. Wie müsste der Modus nun sein?

Die ganz schlichte Idee lautet: man meldet sich an zu dem „Blindschachturnier“, man wird normal ausgelost (natürlich am besten ohne Setzlisten), man bekommt, wie gewohnt, seinen Gegner, nur erfährt man von diesem weder Namen noch Rang. Man spielt einfach nur an seinem eigenen Brett seine eigene Stellung und seine eigenen Züge.

Wie anders wären die Überlegungen, welche man anstellte? Könnte man sich dies überhaupt noch vorstellen? Wäre es auf der anderen Seite nicht überaus spannend, sich nicht mit dem Gegner zu beschäftigen – selbst wenn ungewohnt? Wäre es nicht wirklich spannend, später zu erfahren, wie man nun „performed“ hat, gegen welchen viel schwächer eingestuften Gegner man meinte, es mit einem Großmeister zu tun zu haben, tatsächlich auch willenlos verloren hat, aber jener eben nur 1865 Elo hatte? Wie oft würde man glauben, es mit einem unterlegenen Gegner zu tun zu haben, jenen auch an den Rand einer Niederlage bringt, dieser einem aber ins Remis entfleucht, und man später doch konstatieren muss, dass es der Turnierfavorit war, der da so gar keinen Eindruck machen konnte, bis zum Schluss?

Natürlich würde, außer dem möglichen Unterhaltungswert und diesen vielen spannenden Fragen, jene auch möglicherweise beantwortet: hat nun der Schwächere den Vorteil oder der Stärkere, sobald man den Gegner kennt und eben nicht „blind“ spielt? Warum man dieses Ergebnis herausbekäme? Allein schon das Gefühl, mit welchem man spielt könnte einiges klären und den Teilnehmern darüber Aufschluss geben. Letztendlicher Gradmesser wäre natürlich (bei fortgesetzter Durchführung) die Entwicklung der Elo-Zahlen: würden die Schwergewichte bei derartiger (blinder) Ausführung langfristig eher Punkte einbüßen oder eher hinzugewinnen? Daran könnte man es ablesen, es wäre tatsächlich messbar.

Wer wäre dabei, wer führt ein Turnier durch?

Donnerstag, 27 Oktober 2011 15:04

Schach -- ein Glücksspiel?

Das ist ja nun wirklich unerhört! So werden vermutlich nicht nur die eingefleischten und hochrangigen Schachspieler reagieren. Was, bitte schön, sollte das(!) König unter den Spielen mit Glück zu tun haben? Jenes erhabene Spiel, bei welchem vorsätzlich sämtliche Zufallsfaktoren eliminiert wurden? Jenes, bei dessen Kampf sich eindeutig herausbekommen lässt, welcher der beiden Protagonisten über das höhere Verständnis, die höhere Spielstärke verfügt, selbst wenn es ab und an mehr als einer einzelnen Partie bedarf? Jenes Spiel, was ausgerechnet vom Menschen für den Menschen erschaffen, um ihm in seiner Domäne, der reinen Geisteskraft, eine Möglichkeit zu geben, ein spielerisches Kräftemessen mit einem anderen Ableger der gleichen Gattung durchzuführen und so den – wenn auch dadurch für den Verlierer besonders schmerzhaften – besseren Denker zu ermitteln?

Nein, Schach nun wirklich nicht. Jedes andere Spiel, jede andere Sportart (Wieso andere? Das hieße ja, das Schach auch Sport ist?), ganz sicher. Aber nicht im Schach, Klares Veto. Hier und nur hier ist es nicht mehr erforderlich, vorm Turnierstart das bei anderen, im Vergleich lächerlichen Wettkämpfen  so beliebte „Möge der Bessere gewinnen“ auszurufen, hier, beim Schach, kann man es getrost ersetzen durch ein „der Bessere wird gewinnen. Punkt.“

A.T.U - Auto Teile Unger

Andererseits wird vermutlich ein jeder Schachspieler – unabhängig von seinem Niveau – immer wieder nach geschlagenen Schlachten, die nicht zu seinen Gunsten verliefen, diesen oder jenen Moment hervorkramen, in welchem er aus im Nachhinein für ihn unerfindlichen Gründen diesen unfassbaren Zug machte, der schlichtweg einen Bauern einstellte oder auch jenen einfachen Gewinnzug, nach selbstverständlich aus seiner Sicht absolut systematisch erarbeiteter Gewinnposition, nicht gesehen zu haben, welcher ihm laut Fritz ein Übergewicht von satten 4.5 Bauerneinheiten – und damit sicher alsbald den vollen Punkt -- eingebracht hätte. Er wird sich auch zumindest im Geiste vor den Kopf schlagen, er wird sich auch gehörig ärgern können und diese (gepaart mit der anderen) als „Pechgeschichte des Jahres“ verkaufen wollen, wird dennoch aber im Hinterkopf stets, spätestens ein paar Tage danach, realisieren, dass nur er die Püppchen auf die Felder gezogen hat, wo sie letztendlich landeten und dass kein Würfel oder keine Roulettekugel oder kein Windhauch und auch keine Platzunebenheit  für das erzielte Resultat verantwortlich waren. Vermutlich wird er sich Mut machen und aufgrund der vergebenen Möglichkeiten Besserung gelobigen und sich bald in die nächste Schlacht stürzen – mit offenem Ausgang.

In aller Regel wird er jedoch für die verpassten Chancen immer den optimalen Zeitpunkt herausgepickt haben und das Zustandekommen dazu sowie die Perspektive der Gegenseite, welche mit der allergleichen Argumentation die nachteilige Stellung erklären würde, ignorieren. Die gewonnene Partie hingegen, auf welche sich genau Gegners identisches Wehklagen im Anschluss bezieht, hätte er längst abgehakt, und die Umstände, die dazu führten mit einem Lächeln und einem eigens auf-die-Schulter-klopfen wohlwollend seinen eigenen überragenden Fähigkeiten zugeschrieben.

Nun, allein diese Ansätze zur versuchten Objektivität, bei welcher sich jeder Schachspieler selbst zu hinterfragen hätte – aber dies zugleich auch einfach sein lassen kann – rechtfertigen noch nicht im Geringsten den Titel dieses Textes. Erwähnt sei nur noch kurz, dass man feststellen dürfte, je höher man geht in den Spielstärkekategorien, dass diese Art der Subjektivität nachlässt und dabei, bei Wortantipoden wohl üblich, zugleich die Objektivität anwächst – damit zugleich einen Hinweis zur eigenen möglichen Verbesserung gebend. Vielleicht gibt es doch einen Zusammenhang?

Nach dieser gewohnt länglichen – aber hoffentlich doch unterhaltsamen, vielleicht gar lehrreichen? – Einführung praktisch direkt hinein ins Thema: welche Glücksaspekte gibt es denn wirklich, welche nur angeblich? Gibt es nicht doch irgendwie ein paar, allseits anerkannte, die als Glück durchgehen würden? Natürlich – Objektivität und Wohl oder Weh hin oder her – gäbe es automatisch mit dem Glück zugleich Pech, welches dann die Gegenseite beträfe.

Immerhin kann man doch auf einige Bekanntschaft und Vorgeschichte mit diesem Thema und zahlreichen gehörten Reaktionen – vor allem jener: „Was??? Du hast ja keine Ahnung!“ – verweisen. Dies hat zu einer Erkenntnis geführt, welche hier gerne noch vorweggeschickt wird: niemand wird es letztendlich leugnen können – so meist auch die Ergebnisse in den Gesprächen – nur, und dies erst die Erkenntnis: es lohnt eigentlich nicht, darüber nachzudenken. Was hätte man davon, wenn einem bescheinigt werden könnte, dass man in jener Partie, jenem Turnier in der Summe, Pech hatte (der Glückliche wird ja gar keinen Antrag stellen)? Ineffektiv, nutzlos, vielleicht gar kontraproduktiv, weil man eine Neigung an den Tag legen könnte, nach ungünstigen Umständen zu suchen – anstatt weiterhin auf dem Brett nach bestem Wissen und Gewissen den chancenreichsten Zug zu suchen.

Ja, war hier ein „hinein ins Thema“ versprochen worden? Nun, denn sei es: welche Glückselemente könnte man nennen – so sehr sich vielleicht dem Leser längst die Nackenhaare kräuseln?

Eine Reihenfolge muss gewählt werden, diese ist aber nicht gewichtet (und auch sonst keiner Sortierung unterworfen; sie entspringt freien Assoziationen). Als Punkt 1 nun erwähnt die...

1) Zugauswahl des Gegners

Sofern der Gegner sämtliche Schachregeln kennt – also jeden legalen Zug finden könnte – gelingt es ihm mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bereits, ohne Wenn und Aber, jeweils den Kasparowschen Zug aufs Brett zu zaubern. Dies muss man einfach anerkennen. Man könnte vielleicht noch mutmaßen, ob einige der Züge so absurd erschienen für den Anfänger (so er denn „zufällig“ einer ist), dass er sie noch seltener findet, als sie ein Zufallsgenerator finden würde (der berühmte Affe, der Tschaikowski komponiert), aber eine Chance gibt es.

Wenn die Anerkennung  -- nach einigem Schlucken – denn stattgefunden hat, so muss man im nächsten Atemzug (ja, genau: erstmal Luft holen) eingestehen, dass es nur noch um Quantitäten ginge. Es ist möglich. Ja. Unterschrift drunter. Aber es geht auf die Frage über: wie wahrscheinlich soll das denn sein? „Da kann ich 86 Trilliarden Jahre spielen – und es wäre noch immer nicht passiert.“ Sehr richtig. Aber es könnte eben auch heute oder morgen sein. Man könnte sich der Wahrscheinlichkeit noch etwas weiter annähern – hat dies autorenseitig auch getan, und landet bei etlichen Zehnerpotenzen. Nur ändert dies auch nichts und es steht halt fest, dass die Chance größer 0 ist – und somit aus mathematischer Sicht die Möglichkeit eingeräumt werden muss..

Hier wurde ja nun auch ein extremes Beispiel genommen. Eine Zugmaschine, die nach dem Zufallsprinzip auswählt – und immer wie Kasparow zieht. Kurios nur, wenn man etwas weiter denkt, dass man vermutlich nach dem 34. Keulenschlag des Gegners – der nichts weiter als die legalen Züge beherrscht, wohingegen man selbst über ein solides 2000er (Plus) Rating verfügt – vermutlich ihm die Rechte, die Kapitulation anzeigend, entgegenstrecken würde – nicht ohne noch einen raschen Blick auf sein Ohr oder seinen Rucksack zu werfen oder sich über der  Häufigkeit der Toilettengänge zu entsinnen, nur um sicher zu gehen, dass da nicht irgendwo fremde Hilfe... --, und mit dieser Reaktion den größten Fehler der Partie begangen hätte. Denn: selbst wenn man vor dem einzügigen Matt stünde, so würde dieses der Gegner nur mit einer Chance von etwa 1/35 finden, und man im Anschluss, auch ohne die Mattdrohung und beispielsweise nur mit einem Turmminus im Gepäck, die Partie mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit von 99.99999% locker gewinnen würde (mit der weiteren winzigen Einschränkung wie oben: er nutzt die 0.000001%).

Also: in jeder Partie, die man spielt, ist man von dieser Zufälligkeit abhängig. Man hat fast keinen Einfluss auf die gegnerische Zugauswahl. Es ist ja in der Regel gar nicht erforderlich, dass er fortgesetzt wie Kasparow spielt. Er kann ja in einer Schlüsselposition einen sehr starken Zug finden, diesen aber mit einer völlig falschen Begründung – beispielsweise auf einem Übersehen begründet, welches sich aber letztendlich positiv auswirkt, da er den Zug bei Nichtübersehen gar nicht ausgeführt hätte.

Es gibt sehr viele Möglichkeiten, dass sich die gegnerische (zum Großteil von nicht selbst beeinflussbaren, aber dennoch Zufälligkeiten) Zugauswahl vorteilhaft oder nachteilig auswirkt. Dies ist ein Aspekt von Glück und Pech. Er wird von Schachspielern gerne ignoriert. „Der Gegner spielt nun mal so gut, wie er spielt.“ Falsch. Manchmal spielt er besser, manchmal schlechter. Und einiges davon geschieht zufällig.

2) Befindlichkeit des Gegners

Selbstverständlich ist an sich auch, dass die Befindlichkeit des Gegners dessen Zugauswahl mit beeinflusst. Dies kann sich klarerweise beizeiten positiv, beizeiten negativ auswirken. Der Gegner hätte in allen Fällen seine 2135 Elo, spielt aber einmal wie 2400 und einmal wie 1900 – weil gerade dies ein Gegner ist, der größeren Leistungsschwankungen unterworfen ist (oder sind wir es nicht alle?).

coveru1anzHier sei zumindest noch an den alten Berliner Meister Walbrot erinnert, jenen mit den kernigen Sprüchen: „Ick hab noch nie jehng eenen Jesunden jewonnen.“ Meist stellt sich die Unpässlichkeit zwar erst nach dem Unterzeichnen der Niederlage heraus, aber immerhin. Ab und an könnte es ja wirklich eine geben – man profitiert. Der Konkurrent hingegen trifft auf den gleichen Gegner an dessen ausgesetzter Unpässlichkeit. Unmöglich? Und, falls nicht: hätte man da nicht ein wenig Glück gehabt?

3) Übersehen

a. eigene

Tja, auch dies ein etwas heikler Aspekt, gerade bei den eitlen (heikel – eitel) Schachspielern, da man Derartiges sehr selten von ihnen wirklich zu hören bekommt. Hier sollte man möglichst mit sich selbst ins Gericht gehen. Vor allem, nachdem „alles gut gegangen ist“ nach einem Übersehen, man die Partie gar gewann (bei Niederlagen kommt es schon vor, meist im Tenor: „Stell dir mal vor, diesen einfachen Zug habe ich übersehen!“), wird meist recht gerne der Mantel des Schweigens darum gehüllt.

Natürlich könnte man diese Kategorie noch beliebig weiter unterteilen. Erwähnt als Beispiel aber nur noch, dass es oft genug vorkommt (wo ist die eigene Nase? Ach ja, hier, mitten im Gesicht), dass man eine mögliche Kombination übersieht. Sei es, dass es sich auf eine gegnerische oder auf eine eigene bezieht. Man sieht die Möglichkeit also nicht -- aber sie ging gar nicht. Nun wird insbesondere der (noch eitlere) Schachspieler sagen: „Na, gesehen habe ich es natürlich genau deswegen nicht, weil es gar nicht ging. Da war es ja überflüssig, es zu sehen.“ Nur liegt er damit leider oftmals ziemlich weit neben der Wahrheit. Gerade von Großmeistern wird man oft genug hören können, dass man nur herausfinden kann, ob eine Möglichkeit sich vorteilhaft oder nicht auswirkt durch konsequente, gute, und möglichst korrekte Rechenarbeit. Das Übersehen kann langfristig kein Vorteil sein, Im Einzelfall aber schon: nicht gesehen – ging nicht – viel Zeit gespart, als eine Auswirkung. Nur: wäre es gegangen, hätte man vielleicht in einer anderen Partie den Sieg ausgelassen.

Oft genug wird es wohl jedem passieren, dass man gegen einen besseren Gegner spielt und dieser für einen mitdenkt und zugleich mithilft. Man bekommt nach der Partie vorgeführt, welche versteckte und selbst nicht einmal erahnte Möglichkeit es gegeben hätte – für einen selbst oder für den Gegner – und beide Male zeigt der Meister auf, dass es nicht gegangen wäre. Warum hat er sich denn die Rechenarbeit nicht erspart? Eben: weil er es VORHER nicht wusste.

Aus der eigenen Praxis einmal folgendes Beispiel, an welchem einem Einiges klar wurde, als es geschah: als man in einer Partie gegen Großmeister Vaganjan einmal in einen Angriffwirbel geriet und jener mit einem Opfer die Königsstellung aufgerissen hatte, nun kurz vor der Skalpierung des meist begehrten Objektes auf dem Schachbrett stand, mit der Ausführung des Abschlusszuges der Kombination – welche wohl unweigerlich das Shakehand zur Folge gehabt hätte – aber zögerte, noch weiter zögerte, und noch immer nicht zog. Da nahm man die eigene Rechenarbeit wieder auf: es musste doch eine versteckte Verteidigungsmöglichkeit geben? Und: Tatsache, sie fand sich. Der scheinbare Gewinnzug hätte mit einem völlig unerwarteten Gegenschlag ausgekontert, widerlegt werden können. Der Großmeister führte einen anderen Zug aus – welcher aber die Niederlage, selbst wenn es sich um die objektiv beste Lösung handelte, nicht verhindern konnte. Man sollte nur wissen und so objektiv sein (und blieb es auch nach der Partie): der Gegner hatte sich selbst besiegt, wenn man so möchte, zumindest waren die Umstände anerkannt glücklich, und dies nicht in unerheblichem Maße. Das durch diese Partie aufgegangene Licht kann der Leser zum Teil in diesem Text (vermutlich missmutig) begutachten.

b. gegnerische

Selbstverständlich gibt es immer den Gegenaspekt: hat der Gegner eine eigene Möglichkeit ausgelassen? Gerade in Zeiten der wachsenden Strahlkraft der Silizium Giganten wird es sicher jedem schon mal passiert sein, dass er im Anschluss an eine aus eigener Sicht gut geführten Partie, die er gerade bei einem abschließenden Bierchen genießt, aber doch (dummerweise) zeitgleich seinem Computer „vorführt“, dass dieser die Vorzeichen kurzerhand umgekehrt und einen selbst vorführt: hier hättest du gewinnen können (sagen wir: sofort). Na gut, süffisant zur Kenntnis genommen, aber doch im Geiste auf den „Endsieg“ verwiesen, aber, noch schlimmer: hier hätte dein Gegner die Partie nicht nur retten, nein, er hätte sie komplett drehen können.

Man konnte, siehe auch oben, nicht sicher sein, dass der Gegner diese Möglichkeit nicht findet. Nein, im Gegenteil.

Es kann aber auch passieren, dass man (sehr beliebt dabei: direkt NACH der Ausführung) eine gegnerische Möglichkeit entdeckt, also noch am Brett sozusagen aufwacht (wie meinte Schachgroßmeister Lau in gemeinsamen Jugendtagen so trefflich? „Der gesündeste Schlaf ist noch immer der Brettschlaf.“), nun aber nicht recht weiß, wo hinschauen, aus Scham und in der Hoffnung, damit am besten das sich ankündigende Unheil abwenden zu können, aufsteht und möglichst gelangweilt auf andere, ferner liegende Bretter schaut, jedoch nur mühsam die Aufmerksamkeit abwenden kann? „Sieht er es, oder sieht er es nicht?“ Man könnte nun, symbolisch gesprochen, auch die Münze rausholen. Nichts weiter als das eigene Auftreten, von dessen Effektivität man wenig weiß, was man dem Schicksal entgegen halten könnte. Reiner Zufall (und jener war, der Erinnerung nach, Spekulant).

4) Auslosung und Punktausbeuten

Sicher müsste man die erwähnten Glücksaspekte noch weiter differenzieren: „Sprichst du von Partieausgängen oder von Turnierausgängen?“ Einsichtig dürfte aber jedem sein, dass es ab und an zu günstigen Auslosungen, gelegentlich natürlich, dem Widerpart von Gustav Gans betreffend,  zu ungünstigen Paarungen kommt. Ganz zu schweigen von einer Punktausbeute, welche bei dem einen Turnier locker zum Sieg ausreichen kann, beim nächsten aber nur den 5. Platz einbringt.

(dazu das Beispiel aus der Praxis? In einem Schnellturnier jüngst gelang es, aus 9 Partien stattliche 8 Punkte zu ergattern. Nur hatte der Turniersieger eben 9 erzielt. Dies veranlasste gar den die Sieger ehrenden Turnierleiter zu der Bemerkung, dass es nicht schwer sei, herauszubekommen, wo der {hier schreibende} Zweitplatzierte seinen Punkt abgegeben hätte. Da es sich jedoch beim Sieger um den dies gleichermaßen in Serie tuenden Großmeister Robert Rabiega handelte, ist man weit entfernt davon, dieses Ereignis etwa als „unglücklich“ einzustufen. Im Gegenteil, und das ist so gemeint, wie es hier steht.)

5) Farbzuteilung

Selbstverständlich kann auch die Farbzuteilung ihren Beitrag leisten, im gleichen Maße wie im Punkte zuvor, die Auslosung. Sicher hätte dies aber hier zugleich eine gewisse schachliche Komponente. Man bekäme günstigerweise jenen mit Schwarz nicht so schlagkräftigen Gegner, den anderen, welcher eher mit der dunkleren Farbe auftrumpft, mit dessen Farbe.  Ein kleiner Aspekt nur, aber es darf doch mal erwähnt werden?

6) Zeiteinteilung

Die Zeit spielt immer, bei jeder Zugentscheidung eine Rolle. Also: man könnte ein Stellungsproblem lösen, es hapert nicht an der schachlichen Befähigung. Nur muss man auch (irgendwann) ziehen. Dies betrifft zugleich den Gegner. Es ist nur eine Nuance, nur kann es oft genug vorkommen, dass das Pendel für die Zugauswahl gerade zum entscheidenden Zeitpunkt für den – sich im Nachhinein erst als solchen erweisenden – besseren Zug ausschlägt, auf Gegners Seite vielleicht, völlig unbeeinflusst, umgekehrt.

Man hat nur einen Aspekt hinzugefügt. Es kann sich alles positiv oder negativ auswirken, das versteht sich, und eingestanden bleibt, dass es, unabhängig vom Zutreffen der Beobachtungen, keinerlei Einfluss nehmen sollte, also in dem Sinne irrelevant bleibt.

Aus eigener Praxis dennoch diese kleine (natürlich subjektiv verfärbte) Geschichte. Die Erinnerung sagt aber, dass es so und nicht anders war. Nur ist möglicherweise die Wahrnehmung getrübt. Dennoch war das Ereignis bis dahin ziemlich einzigartig:

Man hatte sich eine sehr vorteilhafte Stellung herausgespielt, in einem Mannschaftskampf. Man spürte, dass in dieser Stellung nun die Entscheidung fallen müsste. Es gab zwei (kombinatorische) Möglichkeiten, den Vorteil umzuwandeln in ein materielles oder eindeutig positionelles Plus im Endspiel. Nach etwa 10 Minuten intensiven Nachdenkens wurde der Blasendruck zunehmend lästig. Man stand direkt vor der Entscheidung und, bitte sehr, gerne angebracht, am Zug befindlich das Brett zu verlassen erschien weit mehr als nur unschicklich. Der Zug war quasi schon ausgeführt, die Vernunft schaltete sich immer wieder ein – bei soliden 30 Minuten auf der Uhr: „Geh doch lieber erst zur Toilette.“ Der Gewinn war aber berechnet, eigentlich, so war man sicher, war alles klar.

Der Toilettengang wurde eingeschoben, bei Rückkehr mit verändertem Blick auf die Stellung und etwas der Stellung (und dem Leben sicherlich) entrückt – wurde die Entscheidung aufgehoben, durch die Alternative ersetzt. Die gewählte Fortsetzung vergab den Vorteil, man wollte sich – so die häufig erzählte und ebenso gehörte und daher nicht nur hier unglaubwürdige Geschichte – mit dem Remis nicht abfinden aufgrund des nachteiligen Verlaufes des Mannschaftskampfes und verlor, wie es sich gehört. Die Analyse – in welcher der Gegner natürlich bedenkenlos anerkannte, überspielt worden zu sein – brachte zum Vorschein, dass der vor dem Toilettengang (so die vernebelte Erinnerung) ausgewählte Zug zu einer einfachen Gewinnstellung geführt hätte.

Ob nun Zeiteinteilung oder was auch immer: es war eine Kuriosität. Natürlich ist ein andersartiger Ausgang der Partie, selbst bei alternativer Zugauswahl keineswegs garantiert. Die Geschichte soll nur vor Augen führen, dass es teils völlig andere, nicht direkt den schachlichen Befähigungen unterworfenen Kriterien gibt, welche die Zugauswahl entscheidend beeinflussen können.

Die Zeit gehört dazu, das bestreitet sicher niemand, und ist halt ein Aspekt, der irgendwie mit den schachlichen Ergebnissen korreliert wird. Nur geht es manchmal vielleicht auch um den Zeitpunkt?

7) Der richtige Zug – die falsche Begründung

Vermutlich kommt dies doch am häufigsten vor: es gibt einen kritischen Moment in der Partie. Nun ist Aufmerksamkeit gefragt. Finde auch ja den richtigen Zug, sonst geht die Partie den Bach runter. Es kann auch eine Kombination sein, auf welche man sich einlässt, ohne die Konsequenzen (vielleicht eben, siehe oben, wie Großmeister Vaganjan) endgültig absehen zu können im Gegensatz zu einem (noch) besseren Spieler. Man macht die Augen zu – und schlägt zu. Es sind einige Möglichkeiten gesehen worden, man schätzt es ab, wie auch immer, nur weiß man es nicht (sicher). Am Ende stellt sich heraus, dass es sich – auf Ehre und Gewissen NICHT vorhergesehen, nicht etwa wie Kasparow einst bei seiner Traumkombination gegen Topalow, als er zunächst eingestand, nur das sichere Remis gesehen zu haben, aber plötzlich, etwas später, behauptete, doch das Matt am Horizont gesehen zu haben und man doch bei ausreichend viel Verstand Zweifel anmelden musste – positiv auswirkte. Nun wird man auch in diesem Falle sein eigenes überragendes Schachverständnis ins Feld führen, ohne dass jemand dies ernsthaft widerlegen könnte, nur ist es vermutlich eben nicht die Wahrheit.

Auffällig wird Derartiges sicher Jedem, der sich mal eine jener echt höchst komplizierten und nur zum Nachspielen, nicht aber zum Lösen geeigneten Studien ansieht, bei der einem immer wieder der Mund offen stehen bleibt, weil man eine Lösung, und gar noch eine solche, nun wirklich niemals für möglich gehalten hätte. Der Laie staunt, der Fachmann wundert sich, so in etwa.

Dies noch lange nicht sämtliche Kriterien und unter jenen längst keine ausreichende Differenzierung getroffen, was noch alles beitragen kann zu einem möglichen Partieausgang. Beim nächsten Turnier wird sicher wieder der Elo-Favorit die Nase vorn haben – und der Autor wird weiterhin ausgelacht, falls ihm nicht gleich hier und jetzt mal ordentlich der Kopf gewaschen werden sollte...

Diese Ausführungen sollen auch keineswegs das Schachspiel mit einem anderen (!! Ja, ja, der Wortwitz und die Hinterhältigkeit) Glücksspiel gleichsetzen. Vielleicht wäre es im Sinne der Spannung – um jene geht es nämlich demnächst in einem Folgeartikel – gar erfreulich oder wünschenswert, wenn dem Spiel ein Zufallselement hinzugefügt wurde, welches die (eventuell zu große) Vorhersagbarkeit ein wenig auffrischt, aber auch dafür möchte man nicht unbedingt Werbung machen.  Das Spiel ist, wie es ist, es ist für alle Ausübenden offensichtlich ausreichend aufregend und man erfreut sich wohl doch immer wieder an der Vielfalt der Möglichkeiten, durch welche man sich, einem Urwald gleich, einen Weg zu bahnen sucht und möglicherweise in dieser oder jener Partie gar einen ordentlichen, eine kurzen oder einen schadensfrei begehbaren findet.

Die Existenz von Glückselementen sollte auch bitte nur anerkannt werden – und wird es merkwürdigerweise auch in höheren Spielstärkeregionen viel eher, wo man durchaus und überzeugt und wiederholt und keiner falschen Bescheidenheit geschuldet den folgenden Satz hören kann: „In der Partie habe ich eine Menge Glück gehabt.“ Zweifel?

Die Existenz also anerkennen, was auch eine Beruhigung und Motivation darstellen kann: wenn man verliert muss man sich nicht unbedingt gleich selbst kasteien oder sich schwören, nie wieder eine Figur anzurühren, da man offensichtlich ungeeignet, unbegabt und einfach zu blöd ist... Dranbleiben, weiter machen, es erneut versuchen – und nach der nächsten Perle suchen. Die Relevanz oder die Notwendigkeit, sich mit Glück und Pech zu beschäftigen, ist nicht gegeben, dies bleibt eingeräumt.

Also, man schließt daraus: viel Lärm um nichts?

Mittwoch, 12 Oktober 2011 10:25

Schach - ein Mannschaftssport?

Tja, die Mannschaftskämpfe. Was macht sie eigentlich aus, was sorgt dafür, dass viele Schachfreunde, sofern auf ihre „Karriere“ angesprochen, oftmals ein „Nein, nein, nur noch Mannschaftskämpfe“ antworten? Sicher, es gibt den Teamsport, der irgendwie noch ein wenig höher angesiedelt ist in der Reputation gegenüber dem Einzelsport. Aber Schach ist doch eigentlich gar kein Teamsport? Mit wem sollte man denn, bildlich gesprochen, den so berühmten Doppelpass spielen? Immerhin aber gibt es mindestens einen guten Grund, sich einer Mannschaft anzuschließen: man ist in Gesellschaft und mit Seinesgleichen, oftmals Freunden, zieht man am gleichen Strang. Man verliert zusammen oder man gewinnt zusammen.

Nun gut, selbst dazu gäbe es jede Menge zu erzählen und zu philosophieren: ist ein Team auch im Schach wirklich mehr als die Summe der Einzelspieler? Kann man tatsächlich durch ein wohl erwogenes Manöver den Ausgleich sichern und so, bei Ansicht der anderen, günstig stehenden Partien, den Teamerfolg sicherstellen? Oder wäre es tatsächlich nur ratsam, aus der eigenen Partie das Maximum herauszuholen, damit die Mannschaft die maximalen Siegchancen erhält? Ist es wirklich denkbar, dass man mit ein paar guten Mannschaftskameraden, welche einem im entscheidenden Moment ein zuversichtliches Lächeln schenken, im anderen aber mit besorgter Mine über der gerade eingeleiteten gewagten Kombination auf das Brett schauen, ein höheres Potenzial entfaltet?

All dies Fragen, die sowohl interessant sein mögen als auch auf die Antworten ausstehend sind, nur sollten sie nicht einmal Gegenstand dieses kleinen Textes werden. Hier sollte es viel mehr darum gehen, ob es nicht alternative Austragungsformen oder aber Variationen in den Aufstellungen grundsätzlich und individuell geben könnte und man damit vielleicht ein neues Spannungselement erzeugen kann, welches womöglich sogar wieder mehr Zuschauer auf den Plan zu locken geeignet sind.

Zunächst hatte der Autor ja bereits einmal angeregt, über Mannschaftskämpfe ausgetragen im Scheveninger System nachzudenken. Da dies nur mit beschränkter Bedenkzeit wirklich möglich wäre, soll heute einmal eine Alternative vorgestellt werden, die sich zunächst auf die Variationen in den möglichen Aufstellungen beziehen.

Dennoch eine weitere Vorabüberlegung. Woher stammt diese Idee, welche, wie in Stein gemeißelt zu sein scheint, vor allem, je höher man kommt in den Ligen, dass man seinen besten Spieler an Brett 1 meldet, die Nummer 2 an Brett 2 und so weiter? Es ist ja heute beinahe so, dass es zu einer Pflicht wird für die Mannschaftsleiter, ihre Spieler nach der aktuellen (selbstverständlich zum Zeitpunkt der Meldung, nicht wahr!?) Elo- Rangliste aufzustellen. Geht es hierbei nur um Eitelkeiten oder stehen die Chancen des Teams bei der Aufstellung im Vordergrund? Hat je jemand ernsthaft darüber nachgedacht, die Chancen derart zu optimieren?

Sicher erinnert man sich gut an Zeiten, da es noch reichlich Mannschaftsschnellturniere gab, in denen man ab und an den schwächsten Spieler an Brett 1 erlebte. Die Gegner lächelten dann oftmals, sowohl Schuld bewusst, als auch leicht verlegen, zugleich entschuldigend, da sie ein ehernes Gesetz verletzt zu haben schienen und damit wohl ihre Absicht dokumentierten, eher Erfolgsabsichten als die Ehre im Sinne zu haben bei der Wahl der Brettrangfolge, und des Gegners Schwergewicht an Brett 1 gemeinerweise ins Leere laufen ließen. Oder gelänge gar der Nummer 4 (diees Kämpfe wurden für gewöhnlich an 4 Brettern ausgetragen) des hinterlistigen Gegners das kleine Wunder, ein Remis oder gar mehr gegen den aufgrund dieser Maßnahme leicht erbosten Gegner, welches ihm Teile der Konzentration raubt, zu ergattern?

Was ist aber tatsächlich dran an dieser Überlegung? Hat sich der Gegner denn nun tatsächlich einen Vorteil verschafft? Hier spaßeshalber einmal eine Berechnung, auf ein fast beliebiges Beispiel bezogen, bei der dem Autor das Ergebnis noch nicht bekannt ist zum Zeitpunkt des Verfassens, also die Frage für ihn selbst spannend ist in diesem Moment. Was kommt wohl heraus?

Mannschaft 1:

1 Ernst August 2440
2 Yankale Okosel 2272
3 Horst Halmackenreuter 2094
4 Ella Mesa 2035
Elo-Schnitt: 2210.25
Mannschaft 2:
1 Peter Pan 1881
2 Winnie Puh 1971
3 Axel Schweiß 2069
4 Bibi Blocksberg 2244
Elo-Schnitt: 2041.25

Nun hat Mannschaft 1 nach der gewohnten Rangfolge aufgestellt, streng nach Elo sortiert. Aus Gemeinheit, zur Chancenverbesserung oder als reines Experiment hat Mannschaft 2 das Gegenteil getan, die Sortierung, wenn man so möchte, nach Schwäche vorgenommen, hingegen der Gegner nach Stärke.

Wenn man nun die beiden Werte direkt miteinander ins Verhältnis setzt, also so, als ob Mannschaft 1 mit ihrem Schnitt ein Spieler wäre, Mannschaft 2 der Gegner als ein Spieler, dann ergäbe es mit der Elo-Formel eine Erwartung von 0.7256 Punkten, mit 4 multipliziert also etwa 2.9 Punkte als Erwartung für das bessere Team, entsprechend 1.1 für das schwächere.

Nun wird es aber erst so richtig spannend. Bei der obigen Aufstellung kann man nun für die einzelnen Bretter die Elo-Erwartung ausrechnen und diese aufaddieren. Hat die „taktische Aufstellung“ etwas gebracht? Hier die Ergebnisse:

Brett1

2440

1881

0.96

Brett 2

2272

1971

0.85

Brett 3

2094

2069

0.54

Brett 4

2035

2244

0.23

Summe

2.58

Wirklich ein erstaunliches Ergebnis, da der Außenseiter durch den Kunstgriff der „verkehrten Reihenfolge“ die Chancen des Favoritenteams erheblich verringert hat. Plötzlich erreichen diese nur noch 2.58 Punkte, gegenüber zuvor 2.9 Punkten, die es eigentlich sein müssten? Zwangsläufig muss man ja nun schauen, was herauskäme, wenn sie in der „normalen“ Aufstellung antreten, also ebenfalls streng nach Elozahlen aufstellt. Hier das Ergebnis:

Brett1

2440

2244

0.76

Brett 2

2272

2069

0.76

Brett 3

2094

1971

0.67

Brett 4

2035

1881

0.71

Summe

 

 

2.90

Tatsächlich erzielt Mannschaft 1 nun das Ergebnis, welches sie auch als ein Spieler mit dem Eloschnitt der gesamten Mannschaft gegen den Gegner als einen Spieler mit dem Eloschnitt der gesamten Mannschaft erzielen würde.

Da man nun selbst ein wenig überrascht ist, muss man anfangen, über das Ergebnis nachzudenken.

Die Interpretation hier: der (bereits intuitiv angenommene) Zugewinn, den die Bretter 1 und 2 gegen die erheblich schwächeren Gegner bei der taktischen Aufstellung erzielen reicht nicht hin, um die Einbußen an den hinteren Brettern aufzuwiegen. Bretter 1 und 2 wären auch bei der normalen Aufstellung des Gegners bereits erheblich favorisiert. Die hinteren Bretter aber ebenfalls, was sich in der Summe zu ihren Gunsten auswirkt.

Falls man nun aber zunächst den Schluss ziehen sollte, dass taktische Aufstellungen tatsächlich empfehlenswert sind, so irrt man. Die Welt ist komplexer und nicht in einem Beispiel abzubilden. Zunächst einmal wäre die Frage zu stellen, wie es gegen andere Gegner aussehen würde, die womöglich eine gänzlich andere Verteilung als die im obigen Beispiel angegebene hätten, und als Zweites stellt sich noch eine wichtigere Frage: Welches ist die Zielvorgabe?

Denn: wäre sie, den 1. Platz zu erlangen, so gäbe es garantiert genügend (schwächere) Gegner, bei denen die taktische Aufstellung zum Rohrkrepierer würde. Man hätte sich schlauerweise sozusagen mit den eigenen Waffen ins Knie geschossen -- um die Bildsprache auf den Gipfel der Ungereimtheit zu treiben -- wie sicher ein schlichtes Beispiel aufzeigen würde.

Wenn man also nur die Absicht hätte, für die eigenen Verhältnisse ein möglichst gutes Ergebnis zu erzielen (und man bedenke, dass eine Aufstellung noch immer meist für ein ganzes Turnier gilt), dann könnte es zwar sein, dass es ratsam ist, sich taktisch aufzustellen, jedoch sollte ja im sportlichen Wettkampf eigentlich das Ziel sein, den 1. Platz zu erringen.

Abgesehen davon kämen ja alsbald folgende Überlegungen ins Spiel: was, wenn nun andere Gegner zur gleichen Taktik übergingen? Alle stellen sich nach ihren taktischen Erwägungen auf? Der Topfavorit hat in Vorgängerturnieren (und unter Berücksichtigung dieses Textes) festgestellt, dass die Gegner sich stets dieses Mittels bedienen, und sie kontern diese einfach aus, indem sie selbst vor dem Turnier den Würfel herausholen, um die Aufstellung auszuwürfeln und so alle derartigen Überlegungen aus dem Spiel zu nehmen?

Das sollte nun das eigentliche Thema werden. Gäbe es nicht andere Möglichkeiten, für faire, aber zugleich spannende Wettkämpfe im Mannschaftsformat zu sorgen? Immerhin ist es ja wirklich eine längst nicht geklärte Frage, ob die Zuschauer tatsächlich die größte Form der Anspannung empfinden, wenn immer nur die Besten gegen die Besten und die Zweitbesten gegen die Zweitbesten spielen. „Die Beiden an 1 machen mal wieder die besten Züge. Toll. Gähn. Remis? Na, war doch klar...“

Da ein weiterer Aspekt in Richtung Mangel geht bei der traditionellen Methode, Teamkämpfe auszutragen – nämlich jenen, dass es vorkommt, dass man Jahr für Jahr an seinem Brett (dies betrifft vor allem das 1.) auf die gleichen Gegner trifft und dies einen sogar persönlich langweilen kann, vielleicht macht man gegen einen bestimmten gar immer Remis aus gegenseitigem Respekt – und die oben aufgezeigte Version der taktischen Aufstellung tatsächlich etwas bringt, selbst wenn bisher selten eingesetzt, so empfiehle es sich doch wirklich, über diese mögliche Alternative nachzudenken: man erscheint mit seinen 8 Spielern (oder wie viele es auch sein mögen in dem speziellen Fall) zu einem Mannschaftskampf, der Schiri nimmt die Aufstellung in Form dieser 8 Spieler ungeordnet entgegen – und würfelt die Paarungen aus. Eine ganz miese Idee?

Es gab in Berlin mal eine Zeit, als es in der Firmenschachliga die Regelung gab, keine feste Brettrangfolge einhalten zu müssen, auf Anregung des Autoren hin. Man konnte vor jedem Kampf frei wählen, welchen Spieler man an welches Brett setzt.

Diese Möglichkeit, seine Aufstellung völlig frei zu gestalten, wurde nach eigener Auffassung in der Schweiz über viele Jahre praktiziert (noch immer?). Auch dies an sich eine fairere – und eigentlich auch spannendere – Form der Austragung, wie man gerne weiterhin vertritt. Man hätte immerhin die Chance, seinem besten Weißspieler die weißen, dem lieber-Schwarz-Spieler hingegen die schwarzen Steine zu verschaffen. Darüber hinaus wäre die Idee, dass die Mannschaftsleiter ziemlich frei wählen dürften, aber natürlich gerne auf eine gewisse Gewohnheit beim Gegner eingehen dürften – und sich nach ihr zu richten, sozusagen etwas auszuklügeln.

Ausgeschlossen wäre dadurch sowohl die als langweilige erachtete Form „sehr gut gegen sehr gut, gut gegen gut, befriedigend gegen befriedigend“ und so weiter, als auch die mögliche Begegnung mit immer den gleichen Spielpaarungen. Ansonsten bliebe eigentlich jedem einzelnen – sofern beim dann auch längst schlauen und nicht durchschaubaren Gegner ebenfalls eingesetzt – nur, seine eigene Aufstellung auszuwürfeln (mit der winzigen Einschränkung, auf Weiß und Schwarz Vorlieben einzugehen). Wenn es denn so wäre, dass beide Teams vor dem Kampf ihre eigene Aufstellung auswürfelten – in der gewonnenen Erkenntnis, dass jegliche Art von anderer Taktik keineswegs zur Chancenverbesserung geeignet ist --, dann könnte man auch gleich Vorschlag 1 zum Einsatz bringen: der Schiri würfelt die Aufstellungen aus.

In Berlin wurde die Methode bald wieder abgeschafft. Der Hauptgrund: keiner wusste, mit dieser Möglichkeit etwas anzufangen. Ergebnis: kein Mannschaftsleiter nahm einen Würfel mit, sondern stellte, wie zuvor, streng nach Spielstärke auf, jeden weiteren Kampf aufs Neue, und dies bürgerte sich ein, so dass ein Verstoß dagegen vermutlich als anrüchig, obwohl regelkonform, angesehen worden wäre. Damit war man also keinen Schritt vorangekommen.

Das eigens für sich, in erheblicher aber gerne eingestandener Arroganz formulierte Ergebnis dieses (willkommenen und geförderten) Experiments lautete: die Menschheit war noch nicht so weit.

Vielleicht tragen diese etwas länglichen, aber hoffentlich dennoch unterhaltsamen Ausführungen dazu bei, sie voranzubringen?

Samstag, 10 September 2011 00:12

"Error Rates"

Schachpartiequalitätsmessung

oder auch „Error rates“  im Schach

1) Die guten alten Zeiten und die Legenden... 

Nun denn, mutig hinein in dieses Thema. Eine häufig gehörte Diskussion unter Sportlern lautet, wie denn eine ehemalige Legende im heutigen Spiel dastehen würde. Man müsste diese also für das Gedankenexperiment exhumieren, wieder herstellen, sie aber exakt auf dem Wissensstand seiner höchsten Schaffenskraft (und Qualität) belassen. Sie hätte also nicht die Erlaubnis, sich erst einmal ein paar Stunden, Tage, Wochen lang mit dem heutigen Spiel, den Spielsystemen, den Entwicklungen und was auch immer zum heutigen Standard gehört zu beschäftigen sondern müsste heute hinein ins Spiel, so wie sie es vor 50 oder 100 Jahren – also zu Lebzeiten -- getan hätte.

Sicher, eben, genau, es ist ein Gedankenexperiment und man spürt schon, wie man diesem Menschen in diesem Moment unrecht tut, denn ab der Sekunde der Wiederherstellung seiner Befähigungen hätte er selbstverständlich sofort die Chance, sich dem Standard anzunähern, sein Wissen und Verständnis zu vervollständigen, nur würde uns dies eben im Wege stehen, um eine Antwort auf unsere Fragestellung zu finden. Also spinnt man weiter. Er (nein, Quotenregelung„es“ handelt sich doch um eine SIE! ) tritt an, muss seine Kräfte messen mit der aktuellen Weltelite und ihm stünden für den Moment keine weiteren Informationen zur Verfügung als jene zu seiner Zeit.

Ob es sich nun um Fußball, Tennis oder Schach handelt. Ja, die Frage interessiert, sie brennt beinahe: wie würde der Fußballweltmeister von 1970, das geheiligte Brasilien, heute in einem Duell mit einer Spitzenmannschaft, wie im Duell mit einer zweitklassigen, wie eventuell auch nur im Duell mit einer drittklassigen Mannschaft aussehen? Hätten sie überhaupt gegen einen von jenen eine Chance, würden sie gar an der Spitze mitmischen oder im Grau des tiefen Mittelmaßes versinken? Könnte man jenen Pele von 1970 direkt und bedenkenlos einwechseln in einem Bundesligaspiel, würde er der Star, Torschätze und Matchwinner werden oder würde er nach 10 Minuten bei dem heutigen Höllentempo nach dem achten Ballverlust frustriert um Auswechslung bitten? Wie würde Pete Sampras, wie Jimmy Connors, wie Martina Navratilova oder Chris Evert (der Mann denkt doch an die Quote!) aussehen in einem Grand Slam Turnier, wie ein Paul Morphy, ein Emanuel Lasker, ein Alexander Aljechin oder ein Bobby Fisher in einem heutigen Topturnier, wäre es nur möglich, sie 1 zu 1 exakt wie damals zu reinkarnieren? Man würde es gerne einmal, nur ein einziges Mal sehen können.

So bleibt es bei gerne wiederholt angestellten Spekulationen. Aber halt, man hätte doch den Artikel nicht anzubieten gehabt, wenn man nicht eventuell eine Lösung anzubieten hätte, sei es auch „nur“ für das königliche Spiel, bei welchem immerhin die damals und heute ausgeführten Züge, anders als ein Pass oder ein Torschuss oder ein Aufschlag, in der Qualität miteinander verglichen werden können?

Immerhin gibt es ja nun einmal die Schachcomputer und, wer würde es noch leugnen mögen, die nicht nur eine Maßzahl für jede Stellung anzubieten haben („ich stand schon bei +2.87 ... und habe noch verloren.“), sondern zusätzlich eine eigene Zugqualität einzubringen, bei der doch bis hin zum Weltmeister einem jeden die Knie schlottern, in welche man alsbald gezwungen wird. Also: der Computer ist anerkannt in der Lage, ein Urteil abzugeben. Falls man noch immer Zweifel hätte – und für jene gar in Ansätzen eine gewisse Berechtigung, denn, wer weiß schon, ob heute eine +2.87 in 20 Jahren noch immer eine +2.87 wäre oder womöglich längst durch ein „Matt in 32“ oder ein „+-0.00“ ersetzt wurde, da sich der Stellungsbenachteiligte doch auf wundersame Art in dem natürlich längst durchgerechneten Spiel zu retten vermag, insofern auch da keine Objektivität gegeben sein kann – so hätte man doch immerhin einen Ansatz und ein paar Zahlenergebnisse zum Vergleich, sofern man dem weiteren Vorschlag zu lauschen bereit ist.

 2) Error Rates“ im Backgammon

Die Idee der „Error Rates“ stammt aus dem Backgammon. Die heutigen Programme dort haben eine ebenso anerkannte höhere Spielstärke als selbst die Elite im menschlichen Antlitz. Der Computer sagt einem sofort, was man falsch gemacht hat, sofern man die Partien, ein ganzes Match, von ihm analysieren lässt. Er bietet einem sogar die Möglichkeit, sofern man zweifelt, ein so genanntes „Rollout“ durchzuführen, bei welchem er diese Stellung – natürlich in zukünftigen Stellungen mit seinen als den besten erachteten Zügen, die er auf die Zufallswürfe (ja, dieses Spiel, das mit Würfeln, was man als Schachspieler zu hassen verpflichtet ist) hin ausführt  – beispielsweise 1236 Mal auswürfelt, nur um einem dann wiederholt vor Augen zu führen (allergleich dem Schachcomputer) wie dumm man war, seinem Urteil nicht zu vertrauen. Denn: die erste Einschätzung bestätigt sich fast immer.

Eine geniale Idee wurde allerdings hinzugefügt, die sich da nennt „outplayed“. Das „outplayed“ tritt nämlich dann ein, wenn das menschliche Urteil dem des Computers überlegen war, der Computer mit seiner Überprüfung per Rollout feststellt, dass ein zuvor angekreideter Fehler gar keiner war sondern der menschliche Zug schlichtweg besser war.

Wie beurteilt er nun das gesamte Spiel eines Spielers, außer, dass er einem sagt, dieser und jener Zug waren falsch? Sicher, zunächst gibt es mal Kategorien von Fehlern. Es gibt sozusagen ganz grobe Böcke und kleinere Ungenauigkeiten. Beim Backgammon sieht es so aus, dass die Züge, miteinander verglichen, die Chancen auf den Sieg in der Partie oder auf das gesamte Match hin beeinflussen und, sofern man nicht konsequent den besten Zug macht die Siegchancen logischerweise insgesamt verschlechtern (es sei denn, das noch geboren zu werdende Genie hat den Computer permanent „outplayed“).

Sprich: eine Error Rate in jenem Spiel würde messen können, wie viele Prozentpunkte man auf den Sieg verschenkt hat. Selbst wenn der heute gehandelte und überall anerkannte Wert, den man ausgibt nicht direkt eine Prozentzahl sondern eher eine Art Gewohnheitswert darstellt. „Hast du schon gehört? Der xxx  hat im Halbfinale ne schlanke 8.2 gespielt. Die spiele ich noch mit 2 Promille.“ (Man folgert: 8.2 ist im Spitzenbackgammon keine anerkannt hohe Zahl). Die absoluten Topspieler spielen im Bereich von 3.0, nur, wen es interessieren sollte. Was immer diese Zahl bedeuten würde: jeder kann sie, da vergleichbar gemacht, einstufen. 3.0 ist absolute Weltklasse. Wenn es in einem Match gelingt: Hut ab. Wenn es konstant gelingt: sofort Karriere wechseln.

3) Auf das Schach übertragen

Der einfache Vorschlag an dieser Stelle: gebt den Computerprogrammen diese einfach zu installierende Funktion mit. Welche Funktion gemeint ist? Nun gut, hier eine etwas exaktere Beschreibung dieses Gedanken:

Mit jedem Zug, den der Mensch ausführt, ausgeführt hat, hat er zwei Möglichkeiten, im Vergleich mit dem Computer: entweder, er erhält die Stellungsbewertung, da er nämlich den besten Zug gefunden hat, oder er verschlechtert sie. Das Verbessern ginge zwar auch, analog zum Backgammon, jedoch nur, wenn man die Analysestufe hochstellt bei jedem angeblichen Fehler und diesen auf der höheren (oder hieße es tieferen?) Stufe abchecken ließe. Dennoch wäre es im Schach vermutlich entschieden seltener (auch im Backgammon stellt es schon eine Ausnahme dar).

Es bliebe also dabei: man erhält die Einschätzung, von Nuancen abgesehen, oder man verschlechtert sie. Da die Stellungsbewertung nach wie vor in Bauerneinheiten vorgenommen wird (welche theoretisch in Prozentchancen auf Sieg/Remis/Niederlage zu übersetzen wären, jedoch dies eigentlich nicht erforderlich ist), bliebe das Ergebnis folgendes: wie viele Bauerneinheiten hat man im Schnitt verschenkt? Eine derartige Zahl wäre gar ein wenig plastischer als die vergleichbare Zahl aus dem Backgammon, da es dort nicht einmal diese Analogie gibt: „wie viele Bauerneinheiten pro Zug verschenkt man“ ist, worauf es hinausliefe, was die Spielstärkemaßzahl anginge.

Nun bietet zunächst ein jedes Computerprogramm diese Funktion an. No harm done oder auch: eigentlich kein Problem. Was man damit anfinge?

Zunächst einmal könnte man ja wütend werden und Fritz in die Tonne kloppen (was vermutlich die meisten längst getan haben), da nämlich jener einem eine Error Rate von 0.33 Bauerneinheiten pro Zug zur Last legt, wohingegen Rybka einen mit einer 0.28 davon kommen lässt. Gut und schön.

Andererseits könnte es sich nach und nach herauskristallisieren, wie gut man selbst wirklich in den eigenen Partie gespielt hat. Zunächst ein rein experimenteller Wert. Nach und nach würden sich die Schachfreunde untereinander austauschen, was ihre eigenen Error Rates waren, die sie in diesem oder jenem Turnier aufs Brett gebracht hätten. Man hätte zwar nur 4 aus 9 erzielt, jedoch, gegenüber dem letzten Turnier, da man 5 aus 9 hatte dieses Mal dank der Error Rate von nur 0.48 verschenkten Bauerneinheiten pro Zug gegenüber den 0.54 im Vorgängerturnier doch erkennbare Fortschritte erzielt?

Man könnte gar herausfinden, mit welcher Error Rate ein WM Match zwischen Capablanca und Lasker, eines zwischen Fisher und Spasskij oder eines zwischen Karpov und Kasparov ausgestattet war, falls man sich nicht mit Zürich 1953 im Vergleich mit Karlsbad 1909 beschäftigen möchte. Oder man hätte eine Lebensleistung von Bobby Fisher im Vergleich mit Paul Morphy, Richard Reti gegnüber Harry Nelson Pillsbury oder dem vielleicht allzeit unterschätzten Akiba Rubinstein oder eine aus eines jeden besten Jahres. Wo könnte das Problem liegen?

Noch lange ist nicht die Frage nach einer endgültigen Objektivität gestellt. Dennoch gäbe es mit Sicherheit interessante Erkenntnisse. Vielleicht noch die eigene Leistung auf Vormittag gegenüber Abend, Rundenturnieren gegenüber Mannschaftskämpfen? Es gäbe eine breite Palette von Anwendungsmöglichkeiten.

Wenn man es natürlich noch viel weiter denkt, dann könnte man gar anhand dessen richtige Ranglisten erstellen, möglich, dass die Welt eines Tages eher auf diese blickt als auf die aktuelle Elo-Rangliste, welche einzig und allein die Partieausgänge, jedoch in keinster Weise die Qualität einzelner Züge beurteilt? Möglich gar, dass man Spielerprofile anfertigen könnte: Ivantchuk spielt beispielsweise konstant auf dem höchsten Level, wie man feststellt, jedoch sind es die groben Böcke, Einsteller,  Übersehen, welche in der Error Rate mächtig zu Buche schlagen und den Schnitt insgesamt verderben, da er ab und an in einem Zug 2 oder mehr Bauerneinheiten einbüßt.

Dies nur Beispiele und Ideen. Die gesicherte Vielfalt der Einwände oder auch der weiteren Anwendungen seien nun dem geneigten Leser anheim gestellt.