Verbandswechsel

Einige Schachspieler spielen ein Leben lang dieselben Eröffnungen, für denselben Verein und dasselbe Land. Andere sind da flexibler, wobei es für Vereins- oder Verbandswechsel diverse Gründe geben mag: schachliche, private, berufliche, finanzielle (nur für Schachprofis ist hier beruflich und finanziell mehr oder weniger dasselbe) - manchmal trennt man sich in Freundschaft vom alten Verein oder alten Verband, manchmal auch nicht. Wie ist das eigentlich, wenn man sich von einer Eröffnung verabschiedet?

Dieses Jahr ist die internationale Wechselbörse, so mein Eindruck, besonders aktiv. Aus dieser Liste nenne ich nur einige Namen in alphabetischer Reihenfolge, wobei es (nicht nur aus deutscher Sicht) erst mitten im Alphabet interessant wird. Gamil Aghamaliyev ist ein mit Elo 2492 mässig starker und auch mässig aktiver Grossmeister, der früher für Aserbaidschan spielte und nun für die Türkei - nur in dieser Liste ist er die Nummer eins. GM Fidel Castro Corrales Jimenez war Kubaner und ist jetzt US-Amerikaner. Er studiert an der Webster University in St. Louis zusammen mit ein paar anderen Grossmeistern, u.a. Le Quang Liem, Georg Meier und ... den Namen verrate ich erst später. Ausserdem hat er, wie Susan Polgar der Schachwelt mitteilte, im Februar geheiratet, offenbar eine Amerikanerin. Kuba und die USA haben keine freundschaftlichen Beziehungen; dennoch ging dieser Wechsel problemlos über die Bühne (notification date 19.März, transfer date 20.März). Armenien hat nun einen Hovhannisyan weniger - das können sie verkraften, sie haben noch genug und setzen bei der Olympiade ohnehin auf -ian. Gemeldet sind Aronian, Movsesian, Akopian und Sargissian (Ersatzmann Kotanjian wird vermutlich, nicht nur wegen dem Buchstaben j, allenfalls sporadisch spielen). IM Mher Hovhannisyan ist seit 5. Mai Belgier - allerdings verzichtet Belgien bei der Olympiade auf ihn, Malakhatko, Chuchelov und Dgebuadze.

Ich komme zu L, M und N - wer Schach auf diesem Blog oder auch anderswo regelmässig im Internet verfolgt, weiss vermutlich schon Bescheid. Kateryna Lagnos Wechsel aus der Ukraine nach Russland dauerte gut vier Monate (notification date 7.März, transfer date 11.Juli). Zu den Gründen komme ich noch - wer die Nachrichten irgendwo und sei es nur sporadisch verfolgt, weiss, dass Ukraine und Russland keine freundschaftlichen Beziehungen haben (ich verzichte bewusst auf Details). Nach neuestem Stand der Lage darf Lagno offenbar bereits bei der nächsten Olympiade für Russland spielen. Schneller ging es bei Anna Muzychuk, die aus dem slowenischen Schach-Exil in die Ukraine zurückkehrt (3.Mai und 5.Mai). Schneller ging es auch bei Liviu-Dieter Nisipeanu, der ist seit 2.April offiziell Schachdeutscher, nachdem dies am 27.März beantragt wurde.

Das Alphabet ist noch nicht zu Ende. Ich will nun nicht enthüllen, dass Thomas Richter ab sofort die Niederlande vertritt - dem ist nicht so, ich bin ohnehin kein Kandidat für die Nationalmannschaft! Interessant wäre es nur, wenn Texel zur Olympiade ein eigenes Team schicken dürfte - dafür kämen sechs Spieler mit nationaler Elo über 1800 in Frage: drei geborene Tesselaars, ein vom Festland angespülter Niederländer, ein Deutscher und ein irakischer Asylant. Aber im Gegensatz zu Aruba, das ein vergleichbar starkes oder schwaches Team nach Tromsö schickt, sind wir nicht dabei, schade eigentlich. Ein Buchstabe weiter im Alphabet: Wesley So will (Schach-)Amerikaner werden - wie er mir auf Nachfrage in Wijk aan Zee verriet ("but it's going to be a long process"). Weitere Infos tauchten erst einige Monate später auf Susan Polgars Blog auf, So studiert übrigens an der Webster University in St. Louis.

 

Verbandswechsel, wie geht das eigentlich? FIDE hat dafür Regeln, die ich nicht komplett kapiere. Sinn und Zweck der Sache ist wohl auch, wiederholte oder willkürliche Verbandswechsel zu verhindern oder zu erschweren - der Ukrainer Spanier Türke Ipatov schaffte es trotzdem. Geld spielt eine Rolle: FIDE kassiert immer eine 'notification fee' von 250 Euro. Wenn es schnell gehen soll und der Spieler noch keine zwei Jahre im neuen Land lebt (bzw. sein altes Land in den letzten zwei Jahren bei FIDE-Wettbewerben, individuell oder als Teil einer Mannschaft, vertreten hat), gibt es auch eine 'transfer fee' - für Grossmeister 5000 Euro. Muss der alte Verband den Verlust eines Spielers oder einer Spielerin ohne weiteres akzeptieren? Nein, er hat drei Monate Zeit um zu protestieren und kann auf einer 'compensation fee' bestehen - gestaffelt nach Elo, bis zu 50,000 Euro. Ob der alte Verband trotz Ablösesumme einen Wechsel verzögern oder blockieren kann, ist mir nicht ganz klar - Ukraine hat es im Fall Lagno jedenfalls versucht.

Nochmal der Reihe nach zu L, M, N und S. Bei Lagnos Motiven tappe ich im Dunkeln. Laut Wikipedia wohnt sie in Donetsk - kann durchaus sein, dass sie 'Probleme' mit der neuen Regierung in Kiew hat, das wäre für mich nachvollziehbar (subjektiv gesehen, nochmals: von mir in diesem Rahmen keine Stellungnahme zum Russland-Ukraine Konflikt). Ebenso kann ich nachvollziehen, dass Karjakin stolzer Krim-Russe ist - ob er das ständig öffentlich erwähnen muss, ist eine andere Sache. Laut anderen Quellen war Lagnos Verbandswechsel bereits seit etwa einem Jahr geplant, da sie bereits in Russland wohnt und vor allem mit russischen Trainern zusammenarbeitet - sie betonte, dass Politik beim Verbandswechsel keine Rolle spielt. Das wäre dann vor dem aktuellen Konflikt, müsste sie angesichts der neuen politischen Lage einen Rückzieher machen? Ohnehin ist es aus meiner Sicht Lagnos eigene Entscheidung. Die ukrainische Reaktion: Lagno wurde für das ukrainische Damenteam nominiert (offenbar ohne sie zu fragen, und zwar offenbar im Mai denn auch Anna Muzychuk wurde nominiert), und kurz vor Ende der Dreimonats-Frist protestierten sie offiziell. Ihr Argument ist anscheinend - siehe offener Brief an FIDE, ECU und den Rest der Schachwelt - dass Lagno sich zwar in Russland aufhält ("stay") aber nicht dort wohnt ("residence"). Sie hat sich offenbar weder in der Ukraine abgemeldet noch in Russland angemeldet. Verhandlungen zwischen dem russischen und ukrainischen Verband gab es vermutlich nicht - aber Russland war wohl bereit, die Ablösesumme (hier 20,000 Euro) zu bezahlen, wartete auf eine Rechnung aus der Ukraine, stattdessen bekam dann FIDE ein Protestschreiben. Weitere Konsequenzen dieses Falls lasse ich mal aussen vor.

Bei Anna Muzychuk gab es offenbar keine Probleme. Da könnte man eher nachforschen/hinterfragen, warum sie einige Jahre Slowenin war - aber ihr Fall war bei weitem nicht der einzige derartige Fall. Bei Nisipeanu gab es auch keine Probleme - Rumänien hatte ihn wohl ohnehin abgeschrieben, da er seit Jahren Krach mit dem dortigen Schachverband hatte. DSB-Präsident Herbert Bastian hat vor kurzem (17.7.) in einem Chessbase-Interview verraten, dass es Verhandlungen mit dem rumänischen Verband gab und dass eine Ablösesumme bezahlt wurde: "Es gibt einen Rahmen für Ablösesummen von der FIDE, aber die Höhe kann zwischen den einzelnen Verbänden ausgehandelt werden. Wir sind zu einer für beide Seiten verträglichen Lösung gekommen." Richtwert für Nisipeanu (Grossmeister mit Elo 2600-2699) waren 30,000 Euro - wieviel Rumänien bekam, bleibt offenbar geheim.

Bei Wesley So ist die Ablösesumme das Problem - niemand (weder die USCF noch Rex Sinquefield noch Wesley So selbst) will/kann offenbar die bei ihm (Elo 2700+) fälligen 50,000 Euro bezahlen, aber die Philippinen bestehen darauf. Demnach muss er wohl zwei Jahre warten und in dieser Zeit auch auf die Teilnahme am nächsten Kandidatenzyklus verzichten. Ich habe da gemischte Gefühle: einerseits hat jeder das Recht, in den USA zu studieren und dann auch dort zu bleiben. Andererseits ist es zumindest ein bisschen Geschmackssache, dass die USA (bzw. Webster University) starke Schachspieler aus aller Herren Länder gezielt anwerben. Generell zu Verbandswechseln: jeder Fall liegt anders, und - wenn die beteiligten Verbände sich nicht einigen können oder wollen - gibt es mitunter Härtefälle. Sinnvoll wäre jedoch aus meiner Sicht, eine Wechselsperre nur für Mannschaftskämpfe anzuwenden.

 

Zum Schluss: Was ist dieses Jahr eigentlich los? Die ganzen letzten Jahre gab es nur sporadisch prominente und noch sporadischer umstrittene Verbandswechsel. Klar, es gab auch keinen (akuten) Konflikt zwischen führenden Schachnationen - abgesehen von Armenien und Aserbaidschan, aber Verbandswechsel ARM-AZE oder umgekehrt sind nicht allzu wahrscheinlich. Blättern wir mal in älteren Listen: 2013 kehrte Boris Spassky nach Jahrzehnten zurück von Frankreich nach Russland - schachlich gesehen, als Person hatte er (unter dramatischen und etwas unklaren Umständen) Frankreich bereits im August 2012 verlassen. 2012 wechselte Ipatov von Spanien in die Türkei - abwarten, ob er noch ein Weltklassespieler wird, ich habe da gewisse Zweifel. 2011 erreichte der Shirov-Dampfer wieder den lettischen Heimathafen (und Istratescu wechselte von Rumänien nach Frankreich - er ist nun, aber nicht zum damaligen Zeitpunkt etwa vergleichbar mit Nisipeanu). 2010 ist etwa mit 2014 vergleichbar: Movsesian zurück nach Armenien, Sokolov zurück-zurück in die Niederlande (der bosnische Verband konnte seine finanziellen Versprechen offenbar nicht einhalten), Ramirez aus Costa Rica in die USA. 2009 war auch ein Transferjahr, in alphabetischer Reihenfolge: FM Giri wurde Niederländer (wurde das damals registriert?), der Ukrainer Ipatov wurde Spanier (dito), Karjakin wurde Russe (sorgte schon damals für Schlagzeilen, wie wäre es heutzutage?), der Niederländer Sokolov wurde Bosnier (zumindest hierzulande Schlagzeilen). 2008 war, was prominente (=mir bekannte) Namen betrifft, gar nichts los, 2007 wurde Fridman Deutscher, und dabei belasse ich es.

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