Nach dem Kandidatenturnier

Peter Svidler 2005 Peter Svidler 2005 http://www.psvidler.net/

Das Kandidatenturnier ist Geschichte, wobei sicher noch viel darüber geredet und geschrieben werden wird - vielleicht schreibt ja auch jemand ein Turnierbuch? Wie das Titelbild vermuten lässt, ist mein Rückblick etwas eigenwillig. Für mich war Svidler einer der Helden des Turniers, Kramnik der andere (tragische) Held und Carlsen hat halt irgendwie gewonnen. Verdient oder nicht, das tut nix zur Sache. Chessvibes schrieb dagegen im Abschlussbericht "A Hollywood blockbuster couldn’t have had a more dramatic scenario with the hero of the story going down just before the end, only to emerge as the winner after all." - so kann man es (nur) sehen, wenn man sich schon vorher (bereits vor dem Turnier?) für Carlsen als Held entschieden hatte? Vorher-nachher wird ein Thema meines Beitrags, aber erst noch zu Svidler. Das Foto ist etwas älter und stammt vom WM-Turnier 2005 in San Luis, Argentinien. Damals spielte Svidler, jedenfalls vom Ergebnis her, noch besser als jetzt in London (8.5/14 statt 8/14, geteilter Zweiter mit Anand statt geteilter Dritter mit Aronian), stand allerdings, wie alle, im Schatten des überlegenen Siegers Topalov. Inzwischen hat er sich äusserlich verändert und 22 Kilo abgenommen. Ich hatte "Svidler light" erst gar nicht erkannt, aber in Pressekonferenzen war er ganz der Alte. Und schachlich hat er auch diesmal (bis auf die erste Partie gegen Carlsen) überzeugt.

Ich hatte ja (zu) kurz vor dem Turnier die Idee, hier über Svidler zu schreiben, aber dann keine Zeit dafür. Der Leser muss mir das glauben, bzw. ich habe Zeugen (hatte es in einigen privaten emails erwähnt). Tenor wäre gewesen: "mit remis schieben wird man nicht sechsfacher russischer Meister und Weltcup-Sieger". Das wäre auch ein Gegengewicht gewesen zu den gefühlt siebenundfünfzig Artikeln hier und anderswo (einschliesslich Massenmedien) NUR über Carlsen. Allenthalben war er klarer haushoher Favorit (auf Englisch 'heavy favorite'), und dann kam ein Ergebnis wie von Topalov in San Luis und von Anand zwei Jahre danach in Mexico - nee, keinesfalls. Ein Teil der Carlsen-Fangemeinde (sicher ein ziemlich kleiner aber dafür sehr lauter Teil) bastelte während des bzw. zum Teil schon vor dem Turnier an Ausreden, vorneweg jede Menge Unsinn über "Soviet collusion". Haben die die letzten Jahrzehnte verschlafen? Wohl nicht komplett, sonst wäre ihnen Carlsen auch kein Begriff. Aber die Sowjetunion ist Geschichte, Ukraine, Azerbaijan und Armenien sind unabhängig, Israel übrigens auch. Vor der letzten Runde war Ivanchuk der grosse Buhmann ("der verliert garantiert absichtlich gegen Kramnik!"), nach der letzten Runde ein Held und ein unabhängiger Geist, der Befehle von oben (von wem eigentlich?) einfach ignorierte. Ich stehe dazu, dass Carlsens Sponsor, die norwegische Boulevardzeitung VG, derlei zumindest nicht ungern gesehen hat. "Carlsen ist der einzige, der kein Russisch spricht" ist vielleicht noch OK, aber genauso (ir)relevant wie "Ivanchuk ist der einzige, der lieber Russisch spricht" (in Pressekonferenzen hat er auch englische Fragen oft auf Russisch beantwortet). Aber im Artikel über Carlsens Sekundanten Peter Heine Nielsen den anderen Sekundanten Nepomniachtchi gar nicht erwähnen? Das hätte wohl nicht zum Bild der bösen Russen gepasst ... .
Andere Perlen waren: Sobald das "drohte": "Niemand will ein WM-Match Anand-Kramnik". Erstens ist das Leben kein Wunschkonzert, zweitens haben sie doch kein Meinungs-Monopol? Ich kenne zumindest drei deutsche Schachspieler, die das gerne gesehen hätten: einer schreibt gerade einen Artikel für Schach-Welt, der zweite heisst Dirk Bredemeier und hat sich auf Chessvibes geoutet, ein dritter will vielleicht anonym bleiben. Und ob alle Russen gegen Kramnik und für Carlsen sind wage ich auch zu bezweifeln. Dann noch "bei einer demokratischen Wahl des WM-Herausforderers würde Carlsen gewinnen" - was zählt ist doch auf dem Platz (äh, ich greife einer Fussball-Analogie voraus und meine "am Brett").

 

anishgiri

Anish Giri 2011 (Wikimedia Commons)

Was hat der denn in diesem Artikel zu suchen? Er war doch in London gar nicht dabei (ausser vielleicht als heimlicher Sekundant?). Nun, ich komme zu "Vorher-nachher" und Giri hatte für die Zeitschrift "Schach" die acht Teilnehmer 'durchleuchtet', was später auszugsweise auch hier veröffentlicht wurde unter dem netten Titel "Einer gegen Sieben" (wobei ich Raymund Stolze keine anti-russische Stimmungsmache unterstelle). Ebenfalls einfliessen werden die Meinungen der Herren Caruana, Ponomariov, Jones und l'Ami hier auf Chessvibes. Es geht mir nicht darum, diese fünf Grossmeister zu kritisieren, denn wie heisst es so schön: "Prediction is very difficult, especially about the future." Ich dachte das Zitat stammt von dem Philosophen Mark Twain, aber offenbar war der dänische Physiker Niels Bohr der Erste. Am weitesten daneben lag ja David Smerdon mit seiner Prognose für die letzten drei Runden - aber wer das richtig eingeschätzt hätte, ist der grösste Hellseher aller Zeiten.

Von Giris Vorschau weiche ich ab, indem ich die Teilnehmer nicht nach Elo sortiere sondern nach dem Ergebnis in London, der/dieser Reihe nach:

Vorab schrieb Giri "Ein Faktor ist auch ... vierzehn Runden in achtzehn Tagen ist ziemlich hart. Das kommt sicher den Jüngeren zugute, allen voran ..." [nein, Giri selbst ist (noch) nicht dabei, also]
Magnus Carlsen: "Das Kandidatenturnier ist etwas ganz Besonderes ... Wenn Magnus mit dieser Herausforderung mental zurecht kommt, taxiere ich seine Siegchancen auf achtzig Prozent."
Ist er mit der Herausforderung zurecht gekommen? Jein, gewonnen hat er trotzdem, aber nur denkbar knapp. Drei von Giris Kollegen waren übrigens vorsichtiger: "At the moment I would say Magnus is the strongest guy in the world, but I don't think that guarantees him victory and I'm not sure if he even has the best chance. I wouldn't really know who does." (Caruana). "If you just put the players in order of rating, it makes no sense to hold the tournament. Anything can happen." (Ponomariov). "He's surely the favorite but not that much." (Jones). Nur l'Ami sagte was sonst alle sagten: "Carlsen is the clear favorite. That's not a very surprising remark, but if he's in normal shape, he'll just win this tournament." Die letzten Runden war Carlsen vielleicht nicht in 'normal shape', davor spielte er so wie immer (auch beim London Classic und in Wijk aan Zee hatte er diverse schlechtere Stellungen) und trotzdem waren erst Aronian, dann Kramnik zumindest nicht chancenlos.
Caruana sagte auch noch "Er (Carlsen) verliert nie die Fassung und bleibt immer cool. Ich denke, das wird sehr wichtig in den letzten Runden wenn andere vielleicht müde oder nervös werden." Am Ende waren ALLE müde und nervös, auch Carlsen.

Vladimir Kramnik: "Mit einem guten Start hat er alle Chancen. Eine gute Partie setzt Kräfte bei ihm frei." Chancen hatte er trotz eines (rein vom Ergebnis her) mässigen Starts. Es war eigentlich ein bekanntes Szenario: ein oder zwei Spieler scheinen das Turnier zu dominieren und dann kommt plötzlich ein anderer dazu. Nur hiess dieser diesmal nicht Magnus Carlsen, und war die Aufholjagd nicht erfolgreich genug. "Kramnik wird wahrscheinlich von allen Kandidaten theoretisch am besten vorbereitet sein." Dem war so ... "Ich bin mir sicher, dass er ein starkes Team hinter sich weiss, mit einigen Namen, die man da nicht unbedingt vermuten würde (es gab Gerüchte ...)." Werden diese Geheimnisse noch gelüftet? "Er ist bekannt dafür, auch an seiner Physis zu arbeiten, die Kraftreserven werden in London eine grosse Rolle spielen." Das hat offenbar auch prima funktioniert, wobei er (wie alle) wohl die letzten Reserven ausschöpfen musste. Die anderen vier GMs waren, was Kramniks Chancen betrifft, alle etwas skeptisch angesichts Kramniks (unterstellter) konditioneller Probleme. Da war natürlich was Wahres dran, zuletzt in Zürich, aber "das Kandidatenturnier ist etwas ganz Besonderes".

Peter Svidler: "... ist ein wirklich netter Kerl!" Das ist er sicher, aber im Kontext war es von Giri ein leicht vergiftetes Kompliment? "In den Eröffnungen war er zuletzt anfällig, aber daran hat er sicher gearbeitet." Hat er! "Peter glaubt nicht in genügendem Masse an seine Chancen. Wenn er keinen Vorteil hat, will er remis machen." Hier gilt der alte finanzielle Spruch: Resultate aus der Vergangenheit sagen nichts über die Zukunft. "Wie Grischuk ist er vor allem froh, dabei zu sein und sich etwas vom Preiskuchen abschneiden zu können." In der letzten Pressekonferenz sah Svidler sein (gutes) Resultat mit gemischten Gefühlen - "ob ihr's glaubt oder nicht, ich wollte das Turnier gewinnen". Dann - und es war am Ende knapp - hätten Leute wohl wieder gemeckert, dass er kein würdiger WM-Herausforderer ist?! Die anderen vier gaben Svidler alle leichte Aussenseiter-Chancen.
Zeit für ein aktuelles Foto von Svidler:

Svidler light 2013

Svidler light, London 2013 (Quelle: Turnierseite)

Levon Aronian: "um ehrlich zu sein, ich glaube nicht an ihn! Seit seinem Ausscheiden ... im letzten Zyklus habe ich Zweifel, ob er mit dem Druck zurecht kommt, wenn der Titel auf dem Spiel steht"  Womöglich hat Giri da Recht? "Die Frage bleibt, welchen Aronian wir zu sehen kriegen: den, der mit sich selber kämpft, oder den brillianten Rechner voller genialer Einfälle"  Ich würde sagen wir haben beide Aronians gesehen. "Eines zumindest scheint mir sicher: Wenn er gewinnt, wird es ein spektakuläres Turnier gewesen sein!" Aronian hat nicht gewonnen, dennoch war es ein spektakuläres Turnier - und dennoch war Aronian daran mitschuldig.
Drei der vier anderen sahen Aronian als Mit-Favorit, nur l'Ami war (zumindest zwischen den Zeilen) auch etwas skeptisch. Aber der hatte sich ja ohnehin auf Carlsen festgelegt.

Boris Gelfand: "Er ist sehr motiviert für einen 44-jährigen, mit mentaler Stärke steckt er sein Alter weg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gelfand gewinnt, aber anders als bei Radjabov, Grischuk und Svidler kann ich es nicht völlig ausschliessen. Schon in Kasan war er für ein Wunder gut." Es hat bei weitem nicht gereicht, aber in mehreren Partien zeigte er, dass Kasan kein einmaliger Zufallstreffer war. Nur gegen Carlsen war er chancenlos - in der ersten Partie hat er ein Remisendspiel vergeigt, in der zweiten hat Carlsen von Anfang an gut gespielt (aber für mich war das die einzige tolle Partie von Carlsen im ganzen Turnier). Dass er erst Aronians Lauf beendete und dann gegen Kramnik in verdächtiger Stellung remis halten konnte, tat ihm vielleicht selbst leid (nach der Partie gegen Aronian äusserte er sich dementsprechend), denn er ist mit beiden befreundet, aber er ist ein absolut integrer Schachprofi und "collusion allegations" sind ohnehin Unsinn.
Die vier anderen gaben Gelfand auch alle gewisse "dark horse" Aussenseiterchancen.

Alexander Grischuk: " ... kann ich mir auch nicht als Sieger vorstellen. ... Alles zwischen +2 und dem letzten Platz ist möglich. Aber ein Anwärter auf den Sieg ist er nicht." Dazu fällt mir nicht viel ein, hier lag Giri richtig; die anderen vier hatten es mehr oder weniger ähnlich eingeschätzt.

Vassily Ivanchuk: " ... kann WM-Herausforderer werden, wenn er seine Nerven im Griff hat. Praktisch jeder, wohl sogar er selbst, erwartet, dass er zusammenbricht. Sobald es um die Weltmeisterschaft ging, ist er bislang noch jedes Mal gescheitert. ... Aber wenn es läuft und Chucky voll konzentriert bleibt, ist er ein Tier!" Wir haben das Nervenbündel und das Tier gesehen? Ich könnte Romane schreiben über Ivanchuk, seine Eröffnungen, seinen ewigen Kampf mit der Uhr (die Uhr hat fünfmal gewonnen, wobei es wohl nur gegen Grischuk partieentscheidend war), verzichte aber darauf. Bei den anderen vier GMs (und auch bei Giri) habe ich den Eindruck, dass sie ihm einen grossen Erfolg gegönnt hätten aber nicht dran glaubten. Alle Prognosen waren richtig - Kunststück: alle schrieben dass alles möglich war.

Teimour Radjabov: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Rundenturnier wie in London gewinnt. Ein Plus-Ergebnis ist drin für ihn, aber kein hohes. Er bricht nicht zusammen, aber er ist auch kein grosser Kämpfer." Radjabov IST zusammengebrochen, aber ich mache Giri keinen Vorwurf, dass er das nicht prognostizierte (sonst wäre er Hellseher). Radjabov war die negative Überraschung des Turniers, neben der positiven Svidler. Gegen Carlsen war 1.5/2 drin, und es wurde 0.5/2. "Ich fürchte, seinen Königsinder werden wir nicht zu sehen kriegen." Der kam zweimal aufs Brett, und gegen Kramnik hatte er es auch angedeutet bevor es Benoni und dann Englisch wurde. Alle drei Partien hat er verloren.
Die anderen vier konzentrierten sich auf Radjabovs mangelnde Praxis in den letzten Monaten. Unklar woran das lag: bekam er keine Einladungen, oder - wie er selbst andeutete - hat er einige "aus familiären Gründen" abgelehnt? Details nannte er nicht, muss er auch nicht - aber Ponomariov hat und tut ihm womöglich unrecht: "He doesn't play much, perhaps because he is not so hungry like other players. Maybe he is happy in Azerbaijan, maybe he is just enjoying his marriage, but you should also work on chess to be hungry for chess, to be motivated."

 

Am Kandidatenturnier waren übrigens noch zwei Deutsche beteiligt, nämlich:

Friedrich Saemisch chess player

Friedrich Sämisch (Foto Wikipedia) ist zwar schon einige Zeit tot, aber in London gleich doppelt wieder auferstanden. Svidler spielte seine Eröffnungen - f3 gegen Königsindisch ist eher selten aber nicht völlig aus der Praxis verschwunden, aber wann sah man zuletzt auf hohem Niveau a3 gegen Nimzo-Indisch? Und Ivanchuk teilte sich seine Bedenkzeit so ein wie der alte Fritz. Dessen Weltrekord ist wohl trotzdem für die Ewigkeit, einmal hat er nach 12 Zügen auf Zeit verloren. Und

Jan Böhmermann 0059 Franz Richter

Jan Böhmermann (Foto Franz Richter - Wikipedia)
Wer ist das denn? Ein Hörfunk- und Fernsehmoderator und Satiriker, und von ihm stammt der Spruch "Fussball ist wie Schach - nur ohne Würfel !" - nicht etwa von Lukas Podolski, sondern es war eine Podolski-Parodie.
Das Kandidatenturnier durch die Fussball-Brille betrachtet: Einige von Kramniks Partien erinnerten mich an Fussballspiele in denen eine Mannschaft ständig in der gegnerischen Hälfte ist, ein, zwei oder dreimal Pfosten oder Latte trifft und am Ende steht es 0-0. Der Schwarzsieg gegen Aronian war dagegen ein 5-4 Auswärtssieg - vielleicht glücklich, aber über die gesamte Partie betrachtet nicht unverdient? OK und Team Grischuk schoss ein Eigentor, allerdings entstand das aus einer komplizierten Situation im eigenen Strafraum.
Carlsen dagegen: zwei Partien wurden durch gegnerische Eigentore entschieden (gegen Gelfand in der 85. Minute, gegen Radjabov erst tief in der Verlängerung). Einmal war der Gegner stark ersatzgeschwächt - Svidler spielte, warum auch immer, in der Hinrunde gegen Carlsen seine bei weitem schlechteste Partie im ganzen Turnier. Und hier hat Grischuk sich mit einer roten Karte selbst geschwächt, sein Opferangriff war einfach zu spekulativ. Dann gab es noch ein glattes 3-0 gegen Gelfand in der Rückrunde.
Und am Ende entschied dann der Tiebreak-Würfel.

Dabei belasse ich es für heute, wobei das Kandidatenturnier und auch die Reaktionen danach noch Stoff bietet für weitere Beiträge ...

Kommentare   

#1 TAR 2013-04-04 11:11
Dieser Artikel hat mir inhaltlich gut gefallen, sehr persönlich! Leider haben die vielen Kommafehler den Lesefluss und das -vergnügen erheblich gestört.
#2 Gerhard 2013-04-04 17:50
Danke für den umfangreichen Artikel!
Für mich persönlich etwas schade, daß das Kanditatenturnier so ausging. Ich bin der Meinung, daß Kramnik das „beste“ Schach gezeigt hat, zumindest in einigen Aspekten.
Wie äusserte sich etwa Gelfand: Er (Kramnik) bringt mehr Eröffnungsideen aufs Brett als wir alle zusammen!
Ja, die Vorbereitung war sicherlich ausgezeichnet. Aber: Die kleinen Vorteile, die er fast immer bekam, reichten oft nicht zum Sieg, meist wohl aus Zeitgründen. Die überlegenste Partie der Vorrunde war die gegen Aronian. Die musste Big Vlad einfach gewinnen! Statt im Königsangriff versuchte er es im überlegenen Endspiel, aber Aronian verteidigte sich hier sehr zäh.
Diese Partie hätte wohl Carlsen anstelle Kramnik gewonnen! Aus vielleicht 10% mehr Willen und Vertrauen, diese Partie zu gewinnen!
Kramniks Problem waren die zum Teil sehr schwierigen technischen Stellungen, die er sich aufbürdete, oft Endspiele mit ungleichen Läufern. Die kann man nicht nach Belieben gewinnen, auch wenn er jeweils einen Schwarm von Möglichkeiten in diesen Endspielen in der Pressekonferenz aufzeigte. Aber so manchen „Killerzug“ übersah er dabei und nur diese gewannen!
Carlsens Vorteil war starkes Vertrauen in seine Mittelspiel-und Endspielfähigkeiten, sodaß er eine ausgefeilte Eröffnungsvorbereitung nicht zu brauchen schien.
Und er verfügt wohl auch über eine Art Fischer-Austrahlung. Gegen Fischer spielten fast alle wie hypnotisiert. Wie sagte Petrosian einst im Kanditatenturnier 1971 sinngemäß: "Ich kann nicht gegen ihn spielen!". Das eingeimpfte Gefühl, nur "Schauspieler" in einem Stück von und mit Fischer zu sein, also Korsage und nicht echter Konkurrent, das plagte wohl so manchen Zeitgenossen von Fischer. Und bei Carlsen scheint sich das zu wiederholen. Das hat natürlich mit Carlsens gezeigten Leistungen zu tun, aber auch mit dem starken Willen, dem man ausgesetzt ist.
Obwohl ich persönlich Kramnik schachlich sehr schätze, finde ich es dennoch nicht verkehrt, daß neues Blut in den WM-Kampf kommt.
Ein Kampf zweier Generationen ist zudem schon etwas Besonderes.
Im WM-Kampf sehe ich Carlsen nicht unbedingt als Favorit. Einen Zweikampf, noch dazu um die WM, hat er noch nie bestritten. Er wird in der WM aufgrund von Nervenproblemen womöglich nicht sein bestes Schach spielen können. Daß der Stress in einer WM ein ganz Besonderer ist, zeigten seine letzten drei Runden in London.
Also hat Anand von dieser Seite her Vorteile. Kann Carlsen seine Nerven in Zaum halten, dann hat er gute Chancen.
Zu den anderen Kanditaten von London: Aronian enttäuschte mich dann doch. Gegen Gelfand ist er eingebrochen. Danach lief fast garnichts mehr.
Svidler bot sehr gutes Schach - ausser gegen Carlsen in der Vorrunde. Ich muß hier Thomas Richter unbedingt beipflichten. Svidler hätte mitmischen können. Aber in dieser besagten Partie lief garnichts. Gegen Kramnik lief er auch in ein Modellendspiel im Grünfeld.
Radjabov war nicht wiederzuerkennen. Vor allem die Partie gegen Carlsen in der Rückrunde war ein Debakel. Ich hatte ihn eigentlich mit vorne gesehen.
Insgesamt aber war es ein großes Turnier. Ich genoß vor allem die ruhigen Analysen von Short. Was er zeigte, hatte durchgehend Hand und Fuß. In all der Hektik des Geschehens legte er immer Wert aufs Wesentliche und bezog oft klare Stellung. Fundamental gut.
#3 Thomas Richter 2013-04-04 22:06
@TAR: Falls sich das mit den Kommafehlern auf die kursiven Giri-Zitate bezieht: das habe ich so, genau so aus der Zeitschrift "Schach" übernommen. Selber hätte ich da einige Kommas weniger gesetzt, aber wollte mich nicht einmischen - "künstlerische Freiheit"? "Schuld" ist dann entweder Stefan Löffler der das aufgezeichnet hatte oder jemand aus der Schach-Endredaktion.

In meinem eigenen Text finde ich keine Kommafehler, bin aber natürlich nicht perfekt - weder als Schreiber und schon gar nicht als Schachspieler!
#4 TAR 2013-04-04 22:37
Nein, die Zitate sind völlig in Ordnung. Es fehlen in Ihrem Text viele Kommata, v.a. bei Relativsätzen wie "... unabhängiger Geist, der Befehle von oben (von wem eigentlich?) einfach ignorierte. ..." oder bei Konjunktionalsätzen wie "... Ich stehe dazu, dass Carlsens Sponsor ..."
Das Problem dabei ist, dass ich den Text nochmals lesen musste, um ihn korrekt zu verstehen. Zuerst las ich zum Beispiel "unabhängiger Geist der Befehle" als Einheit.
#5 Gerhard 2013-04-05 00:04
Es sollte, so denke ich, mehr um die Inhalte des Gesagten gehen. Ich z.B. habe den Text flüssig lesen können, weil ich offenbar an manchen Stellen das womöglich fehlende Komma antizipiert hatte.
Aber trotzdem ok, daß man so etwas erwähnt. Nur wie gesagt, wäre eine zusätzliche Reflexion über die Inhalte passend.
+1 #6 Michael Schwerteck 2013-04-05 17:24
Ich fand den Artikel auch lesenswert, vieles sehe ich zwar vollkommen anders, aber die Meinungsvielfalt ist ja gerade reizvoll. In einem Punkt möchte ich allerdings Einspruch erheben: Thomas, Du wehrst Dich gegen Verallgemeinerungen à la "niemand will ein WM-Match Anand-Kramnik", begehst aber denselben Fehler in noch schlimmerer Form, indem Du die gesamte Carlsen-Fangemeinde über einen Kamm scherst. Dass ein paar Spinner irgendwelchen Unsinn ins Internet schreiben, kommt tagtäglich vor, aber das ist doch nicht repräsentativ. Carlsens Fans sind sehr zahlreich, ich gehöre auch dazu. Und weder ich noch alle anderen, die ich kenne, glauben auch nur ansatzweise an irgendwelche Verschwörungstheorien.
+1 #7 Jörg Hickl 2013-04-05 18:20
@ Tar: Die gesamte Arbeit in diesem Blog basiert auf unentgeltlichen Beiträgen. Ich bin begeistert, dass es trotzdem möglich ist, das Projekt über einen solch langen Zeitraum fortzuführen.
Einen Artikel zu erstellen dauert Stunden, teilweise sogar Tage. Hier ist das Engagement bewundernswert. Unsere Blogger sind keine ausgebildeten Journalisten. Dafür kommen sie aus der Schachszene und berichten mit viel Enthusiasmus über ihren Sport.

Nicht jeder ist vielleicht auf dem Niveau eines Lektoren. Aber ich würde mich sehr über ein kostenfreies Engagement in diesem Bereich freuen. Gern arbeite ich die korrigierte Version ein.
#8 Thomas Richter 2013-04-05 18:48
Hallo Michael,
Ich kann Deinen Einspruch nachvollziehen, reagiere mal mit noch einem Fussball-Vergleich: da sind weder der Verein noch die "normalen Fans" verantwortlich für Hooligans, haben aber vielleicht die (moralische) Pflicht deren Treiben zu widersprechen bzw. es zumindest nicht anzumutigen. Und für mich hat Carlsens Sponsor VG genau letzteres gemacht. Auf Deutschland übertragen: man stelle sich vor Naiditsch oder wer auch immer hätte ca. 100 Elopunkte mehr auf dem Konto, würde von der Bild-Zeitung gesponsort und die macht dann Stimmung für ihn ... .
Selbst wenn ich diesbezüglich (Rolle von VG) Unrecht habe: die "paar Spinner" haben die Diskussionen auf Chessvibes ziemlich dominiert und hatten keinerlei Verständnis für "Meinungsvielfalt" - und die Atmosphäre dort wollte ich in meinem Beitrag mit andeuten. Wobei ich ihn hier veröffentlicht habe wo es zum Glück zivilisierter zugeht.

Nepomniachtchis Rolle ist übrigens im Nachhinein reichlich unklar - laut http://crestbook.com/node/1795 (plus Google translation) sagte er nach dem Turnier das: "Aus mehreren Gründen war ich mir ziemlich sicher dass der Elo-Favorit nicht gewinnen wird. ... Für Kramnik tut es mir sehr leid." War er nun Carlsens Sekundant oder nicht?
#9 Exilschwabe 2013-04-06 21:30
Den Ausgang des Turniers an der Spitze betreffend teile ich (in diesem Fall jedenfalls) weitgehend die Meinung von Exweltmeister Kasparow (und wie das auch schon bei *Gerhard* anklang), der sich jüngst zum Ausgang des Wettkampfs geäußert hat (in welcher Zeitung weiß ich jetzt nicht mehr; es war aber eine derjenigen, auf die in den Chessbase-Nachrichten hingewiesen wurde, als dass diese inzwischen etwas über den Ausgang des Turniers berichtet haben).

So hat er geäußert (um nachfolgend mal zu versuchen, das dazu Wesentliche für die hierüber noch nicht Bescheid Wissenden zusammenzufassen - soweit ich mich daran spontan noch erinnern kann), dass Kramnik den Titel fast am meisten verdient gehabt habe, zumal er auch die meisten frischen Ideen gebracht habe (ich denke in diesem Zusammenhang z.B. an das frühzeitige e2-e3 in der königsindischen Fianchettovariante gegen Gelfand).

Fürs Schach sei es jedoch "natürlich" (Wortlaut) besser, dass Carlsen gewonnen habe und verwies diesbezüglich insbesondere darauf, dass man mit Carlsen mehr Sponsoren akquirieren könne. Naja; würde denken, in der westlichen Welt auf jeden Fall, aber ob da insgesamt mehr Geld zusammenkommt als bei russischen Akquirierungen? Jedenfalls vermutlich saubereres. Und allein wieviel Geld es ist, sollte für das Schach im Allgemeinen auch nicht das Wichtigste sein.

Insbesondere beklage er aber - und diese Meinung teile ich ausdrücklich - dass es doch schade sei, dass der Schachwelt nun ein Stichkampf (über mindestens vier Partien meinte der Exchamp hierzu) vorenthalten wurde. Wörtlich äußerte er ungefähr dazu: "hat Carlsen nun gewonnen, weil er eine Partie mehr gewonnen hat oder eine mehr verloren? So könne man das nämlich auch sehen!"

Noch gerechter wäre das auch meiner Meinung. Doch offenbar konnten im Vorfeld anscheinend alle mit der getroffenen Regelung leben!?


Zu Carlsens Chancen gegen Anand meinte Kasparow übrigens so ungefähr, dass Carlsen zwar schon als Favorit zu sehen sei, aber die Sache letztlich so klar doch nicht sei; schließlich verfüge Anand über sehr viel Erfahrung. Und Carlsen verfüge im Gegensatz zu Anand auch noch über keine Zweikampferfahrung. Da komme es auch mehr darauf an, aus den Eröffungen was rauszuholen - ein Aspekt, der bei Carlsen jedenfalls noch ausbaufähig sei. Die Zukunft des Schachs heiße jedoch auf jeden Fall Carlsen.

Jedenfalls Letztgenanntes muss man wohl fast zwangsläufig so sehen, wenn man sich nicht nur die eröffnungstechnische Ausbaufähigkeit, sondern auch vor Augen hält, dass der immer noch gerade mal 22 ist (!)


...ach ja, vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Garri insgesamt vom Niveau des in London gezeigten Schachs sehr angetan gewesen sei. Es habe sich gezeigt, dass es dem Schach bestens gehe und das Gerede vom angeblich bevorstehenden Remistod (den hatte ja meines Wissens bereits Capablanca prognostiziert) damit widerlegt sei.
#10 Gerhard 2013-04-06 22:58
Damit muß man sich abfinden, daß immer Hypes existieren. Alle sind z.B. bemüht, Fischer zum besten Spieler aller Zeiten zu erklären. Wer die gewaltige Phase etwa von Spassky in den 60ern, um nur einen zu nennen, verfolgt hat, kann eigentlich nicht zu seinem solchen Pauschalurteil kommen. Wer Karpov, der über fast 2 Jahrzehnte dominierte, da vergisst, würdigt nicht die geradezu phänomenale Überlegenheit dieses Spielers.

Ich hoffe, Vlad sieht mit etwas Abstand seine gute Leistung, die als solche nicht den krönenden Abschluß fand. Wie soll sich etwa Keres gefühlt haben, der in einem wichtigenn Kandiatenturnier m.E. dominant war, aber im Gegensatz zu Tal entscheidende Partien gegen den sehr jungen Fischer verlor?

Herrn Hickls Kommentar zu "unseren" Autoren finde ich sehr richtig. Diese stecken extrem viel Zeit in das Ausarbeiten der Artikel und das sollte gewürdigt werden!
#11 Thomas Richter 2013-04-07 22:26
Liebe Leute,

Nachdem mir gleich zwei Leser korrigierte Versionen meines Textes zukommen liessen, habe ich gerade diverse Kommas ergänzt - und bei der Gelegenheit auch die Passage über Carlsens Fangemeinde etwas relativiert und ein aktuelles Foto von Svidler eingebaut.

Zum Kommentar von Exilschwabe (bin ich selbst übrigens auch mütterlicherseits): Er meint sicher Kasparovs FAZ-Interview. Auf Crestbook - Link nannte ich bereits - hat sich Kasparov auch geäussert. Und aus gut informierten, weil direkt beteiligten Kreisen weiss ich, dass das demnächst wohl auch in englischer Uebersetzung erscheinen wird auf crestbook.com/en .
#12 Bebachter 2013-04-09 22:55
Warum Kramnik besser gespielt haben soll als Carlsen kann ich nicht nachvollziehen. In Deiner Betrachtung fehlt u.a. auch das glückliche Schwarzremis von Kramnik gegen Gelfand. Warum Gelfand in dieser Partie so verhalten gespielt hat kann ich mir nur durch fehlendes Selbstbewusstsein des Israelis (in diese Turnierphase) erklären.

Die Qualifikation nach Wertung (meiste Gewinnpartien) ist nicht sehr glücklich.

In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass Kramniks Qualifikation für den Weltmeisterschaftskampf gegen Kasparow (durch eine Matchniederlage gegen Shirov) zu den dunkelsten Kapiteln der Schachgeschichte zählt.
#13 Thomas Richter 2013-04-10 22:07
@Bebachter: In meiner Betrachtung fehlt z.B. auch das glückliche Weissremis von Carlsen gegen Radjabov :) . Mit Schwarz gegen Gelfand musste Kramnik einen Schreckmoment überstehen - nochmal eine Fussball-Analogie: er beging ein unnötiges Handspiel im Strafraum, und der Gegner konnte den Elfmeter nicht verwandeln. Das sagt aber nichts über die restlichen 89 Minuten, und erst recht nur wenig über den Eindruck den Kramnik im gesamten Turnier hinterlassen oder gemacht hat.

Ich habe ja gar nicht behauptet dass Kramnik "besser gespielt hat", nur (und selbst das steht nicht explizit im Artikel) kreativer und ideenreicher. So sehen es übrigens nicht nur diverse russische Experten (der Crestbook-Beitrag liegt inzwischen auf Englisch vor) sondern auch mindestens zwei Niederländer (GM Ree und IM Ligterink in ihren Zeitungskolumnen).

Dass Shirov damals übergangen wurde - ja das war ein dunkles Kapitel der Schachgeschichte, hat aber nix mit diesem Kandidatenturnier zu tun. Ausserdem: natürlich völlig hypotetisch, aber hättest Du an Kramniks Stelle auf die Chance verzichtet die er dann doch noch bekommen hat?
#14 Bebachter 2013-04-11 21:51
@Thomas Richter:

In Kramniks Schwarzpartie gegen Gelfand kann man nicht ernsthaft von einem Schreckmoment sprechen. Einem Schreckmoment wohnt immer eine Überraschung inne. Kramniks Verluststellung kam aber nicht überraschend. Obwohl mir die Fußball-Analogie für die Analyse einer Schachpartie ungeeignet erscheint, möchte ich meine Antwort in dem von Ihnen eingeschlagenen Sprachmodus begründen:

Eine Mannschaft die sich mit ca. 2/3 der Spieler in der falschen Hälfte (hier der Damenflügel mit Db8,Ta8,Lb7,Ld6) befindet und dann den letzten Spieler aus dem defensiven Mittelfeld in den eigenen Strafraum zieht (Sf6-e8) darf nicht überrascht sein, wenn der Gegner ein Tor schießt.
Der Vergleich zu einem überflüssigen Handspiel oder restlichen 89 Minuten ist hier unangebracht. Eine Analogie zum Boxen ist hier sinnvoller. Matt, KO und Schluss.

Die Einschätzung, dass Kramnik kreativer und ideenreicher gespielt hat teile ich nicht. In einem Kandidatenturnier mit derart hochkarätiger Besetzung sind alle Teilnehmer mit ähnlich hohem schachlichen Wissen ausgestattet. Remis ist hier das wahrscheinlichste Resultat. Ein Partie kann hier nicht durch bloße Kampfkraft gewonnen werden. In der Regel sind zum Gewinn einer Partie überraschende Ideen notwendig. Diese Ideen hat Carlsen zur Laufzeit kreiert! Carlsen hat Endspiele gewonnen, bei denen sich Kramnik nicht einmal vorstellen konnte warum überhaupt noch ein Zug ausgeführt wird. Stattdessen ist Kramnik in sein Hotelzimmer verschwunden und hat im Labor die Eröffnungsvorbereitung aufpoliert. Die bessere Vorbereitung war der einzige Vorteil den Kramnik gegenüber Carlsen hatte. Trotz seiner Eröffnungsschwäche hat Carlsen mehr Partien gewonnen als Kramnik. Das war auch ein Sieg von Ideen und Kreativität gegen Materie in Form von Vorbereitung durch Mensch und Maschine.

Aufgrund seiner guten Vorbereitung wirken Kramniks Partien oft rund und aus einem Guss. Carlsens Siege bleiben uns oft rätselhaft. Das russische Experten ihre eigene Meinung dazu haben kann ich nachvollziehen.

Kramniks Weg zum Schacholymp (ohne sportliche Qualifikation!) und sein Verhalten als Weltmeister haben einiges mit dem Kandidatenturnier zu tun. In London wurde der nächste Herausforderer ermittelt. Viele wollen einfach keinen Weltmeister mehr, der nach Serien von Kurzremisen erklärt, dass der Künstler keine Lust mehr hatte. Weitere Bemerkungen und Fakten erspare ich mir.

Die Teilnahme an unserer Kommentarfunktion ist nur registrierten Mitgliedern möglich.
Login und Registrierung finden Sie in der rechten Spalte.